Rezension zu »In Almas Augen« von Daniel Woodrell

In Almas Augen

von


Belletristik · Liebeskind · · Gebunden · 192 S. · ISBN 9783954380213
Sprache: de · Herkunft: us

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Grandioses Epos im Taschenformat

Rezension vom 09.08.2014 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Wieder so ein packendes Midwest-/Südstaaten-Drama aus den Zwanziger, Drei­ßi­ger Jahren, das unter die Haut geht, mit lauter kantigen Charakter-Quer­köp­fen, die in brütender Hitze ihre Emotionen ausleben, dunkle Geheimnisse hüten, unergründlich sind wie die sumpfigen Gewässer oder endlosen Wälder, an de­nen sie hausen. Staubig sind die Straßen, primitiv die Lebensumstände, alttestamentarisch das Rechtsemp­finden. Mit der unerbittlichen Präzision antiker Tra­gö­di­en rollen ungeheuerliche Ereignisse um Schuld und Sühne, Rache und Vergebung, Leben und Tod, Liebe und Hass unaufhaltsam auf den Kulminationspunkt der Katastrophe zu.

Derlei Bücher versprechen dem amerikanischen Leser der frustrationsgebeutelten Gegenwart einen ergrei­fenden Ausflug in Zeiten, als Amerika noch grenzenlos, die Welt durchschaubar und das Gefühl echt war. Und weil bereits das Kopfkino beim Lesen alle Sinne berauscht, schreien solch großartig erzählte Bücher geradezu nach farbenprächtiger Hollywood-Verfilmung.

In Daniel Woodrells »The Maid's Version« Daniel Woodrell: »The Maid's Version« bei Amazon (übersetzt von Peter Torberg) begegnen uns alle Standard­figuren, die entsprechende Plots mit Energie aufladen: die allwissende Alte mit dem gramzerfurchten Ge­sicht, der ruchlose Ausbeuter, die hinreißende junge Schöne, der eifernde Wanderprediger, der anfangs noch naive Jüngling ...

Ihre Geschichte dreht sich um ein historisches Ereignis: Am 13. April 1928 explodierte die Arbor Dance Hall im 4.000-Seelen-Flecken West Plains, Missouri, wobei 37 Menschen ums Leben kamen und 22 schwerst­ver­letzt wurden. Zwanzig Leichen waren derart verunstaltet, dass sie nie identifiziert werden konnten. Die Hintergründe sind bis heute ungeklärt. Entzündete sich unter den Tanzboden geflossenes Benzin von der benachbarten Tankstelle, hatte deren Besitzer Selbstmordabsichten, oder spielte ein in der Nähe geparkter Truck voller Sprengstoff eine Rolle? Niemand weiß es.

Daniel Woodrell entwickelt aus den spärlichen Fakten einen spannenden Thriller (wer oder was hat die Ex­plo­sion ausgelöst?), eine Familienchronik und eine dichte Saga über das Leben im Städtchen nach der Katastrophe. Schicht für Schicht legt er frei, welche Geschichten, Gerüchte, Geheimnisse, Gefühle die Gemeinde schon seit langem geprägt, verformt und entzweit haben. Das Verblüffende an seiner Kunst ist, dass er ein veritables Epos auf nicht einmal 200 Seiten unterbringt. Das macht sein unglaublich kompakter, evokativer Stil.

Alma DeGeer Dunahew heißt die zentrale Informationsquelle. Sie verlor an jenem schwarzen Tag ihre Schwes­ter Ruby, und in vielen Stunden des Schmerzes hat sie ihre persönliche Theorie genährt, wer die Schuld trägt: der Banker Arthur Glencross. Sie selbst war Dienstmädchen in seinem Haus, und Ruby war seine Geliebte. Das und alles andere erfahren wir durch einen Ich-Erzähler, der durch seine Allwissenheit und seine Sprach­mäch­tig­keit weit über sich hinaus weist (Woodrells Sprachrohr eben): Almas Enkel Alek.

Alek ist zwölf, als er im Sommer 1965 seine eigenwillige Großmutter, »einsam, alt und stolz«, besucht. Sprä­che er sie freundlich als »Oma« an, finge er sich eine Ohrfeige ein. »Alma« heißt sie auch für ihn, und nicht nur der Name schafft Distanz. Sie redet im Schlaf, weint nächtelang, erschreckt ihn immer wieder aufs Neue, wenn sie morgens an ihrer Bettkante sitzt und ihr langes weißes Haar bürstet, »so lang wie ihre Ge­schich­te«. Vom Bett aufstehen kann sie erst, wenn das Haar zu Zöpfen geflochten und um ihren Kopf fest­gesteckt ist. Andernfalls »schleiften [die Haare] über den Boden wie die Schleppe eines mittelalterli­chen Gewandes, und sie musste sie zusammenraffen und mehrmals um den Unterarm wickeln, um nicht dar­auf­zu­tre­ten«.

Alma hat ein hartes, entbehrungsreiches Leben hinter sich. Die Schule besucht sie nur bis zur 3. Klasse und muss dann auf der Farm des sozial abgestürzten, ständig betrunkenen, gewalttätigen Vaters Cecil DeGeer rackern. Mit dreizehn flüchtet sie in die ›Stadt‹ West Table, wo sie ein halbes Jahrhundert lang als Magd arbeitet. Sie heiratet Buster, aber auch der ist dem Alkohol verfallen. Allein versucht sie, ihre drei Söhne durchzubringen, verliert jedoch nach und nach alles, was Bedeutung hat – schließlich auch ihre geliebte, lebenslustige Schwester Ruby ...

Über Wohl und Wehe von West Table bestimmen wenige, die alles besitzen. Die Habenichtse stehen ihnen untertänigst zu Diensten, so wie Alma der reichen Bankerfamilie Glencross. Sie hasst es, den verwöhnten beiden Blagen beim lustlosen Herumstochern im erkaltenden Essen zuzusehen, während ihre eigenen Kin­der darben. In der herrschaftlichen Küche wickelt sie Knochen in Zeitungspapier und lässt sie im Diebes­gürtel unter ihrem Kleid verschwinden, um daraus am Abend eine Brühe zu kochen.

Ihre zehn Jahre jüngere Schwester weiß ihr Leben komfortabler zu gestalten. »Betörende Figur« und »zü­gel­lo­se Wunder« brechen die Herzen aller »halbwegs präsentablen Männer«. Sind »deren Gelüste oder Pläne zu kompliziert«, stehen andere bereit, die »noch spendabler waren«, und so trennt sie sich »von ei­nem Mann nach dem anderen«, bis sie bei Dr. Arthur Glencross ankommt. Dem gereicht ihre Affäre zur Freude: »eine fleischliche Verzückung«, »ein Hauch Wahnsinn«, den »er sich nur vage hatte vorstellen können«, und er entlohnt Ruby großzügig.

Auch die kleinen Leute suchen gerade in der bitteren Not des Weltwirtschaftskrisenjahres 1929 Ablen­kung. In der Dance Hall von West Table amüsieren sie sich ausgelassen, tanzen Walzer, bis sich alles dreht – und urplötzlich »eine Explosion, ein Brand mit turmhohen Flammen« sie verbrennt, in Stücke reißt, verkohlt. Woodrell verschont uns nicht mit Details aus den Berichten der Augenzeugen. »Die Schreie aus den Trüm­mern und Flammen sollten in den Ohren jener, die sie hörten, nie wieder verklingen.« Es gibt ein paar Ver­dachts­mo­men­te, aber da nichts Konkretes festgemacht werden kann, stellt die Polizei ihre Ermitt­lungen bald ein, und der »laute Aufschrei nach Gerechtigkeit« verhallt im Leeren, während die the Great De­pres­sion den Alltag auffrisst.

Nicht nur Almas Leben hat jeden Sinn verloren. Doch im Gegensatz zu anderen, die lieber schweigen, mag sie keine Ruhe geben. Sie lästert laut und furchtlos über die »mitfühlenden Feiglinge«, schreit ihr Elend hinab in die Grube, die die Explosion hinterlassen hat, und erntet mit ihrer »Ausbreitung von Argwohn«, ihren »wilden Anschuldigungen, die stets nach oben zielten«, Verachtung und Schlimmeres. Man erklärt sie für verrückt, steckt sie auf eine »Arbeitsfarm«. Als ihre »eigene Mission, für die Gestorbenen Gerech­tigkeit oder Rache zu erwirken«, als »öffentliche, hingebungsvolle Ehrung der Toten« wird sie von nun an ihr Haar wachsen lassen.

Jahrelang bewahrt Alma ihre Erlebnisse und Gedanken im Herzen. Erst als sie alt und krank in ihrem Bett liegt, öffnet sie sich ihrem Enkel Alek, und die Familiengeschichte »brach hervor, floss dahin in Tropfen, Rinnsalen und Kaskaden«. Doch Alek fällt es schwer, die Alte »mit ihrer verkniffenen, feindlichen Natur, ihren dunklen Obsessionen und ihrem grundlegenden Verlangen nach Rache« gern zu haben. »Es vergin­gen Jahre, bis ich lernte sie zu lieben«, bis er die Kraft spürt, die von ihr ausgeht. Denn sie besaß »das große rote Herz unserer Familie, das wir geheim hielten und das uns Kraft gab«.

»In Almas Augen« von Daniel Woodrell ist ein wortgewaltiger, bildstarker Krimi des Typus ›Country-Noir‹, ein Roman von überwältigender Aussagekraft. Das ist meisterliche, ja geniale Literatur, die man verschlingt und bei der man doch jeden Satz mehrmals lesen möchte, weil jedes Wort, jede Beschreibung fasziniert.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Sommer 2014 auf­genommen.


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