Rezension zu »Der Engel mit der Posaune« von Ernst Lothar

Der Engel mit der Posaune

von


Belletristik · Zsolnay · · Gebunden · 544 S. · ISBN 9783552057685
Sprache: de · Herkunft: at

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Das Haus Österreich

Rezension vom 20.06.2016 · 15 x als hilfreich bewertet mit 1 Kommentaren

Großes hatte Ernst Lothar im Sinn, als er diesen Roman verfasste: »allen denen, die es nicht oder nicht genug kannten, einen Bilder­bogen Öster­reichs in die Hand zu geben, der den Versuch unter­nahm, hinter die Fassade zu schauen und mit dem Bild die Schatten zu zeigen.« Ohne natio­nalis­tisch gefärbte Be­schöni­gung noch verbit­terte Abrech­nung sollte es ein diffe­ren­zier­tes Porträt von Öster­reichs Entwick­lung seit dem Zerfall des Habs­burger­reiches über den »Anschluss« bis in den national­sozialis­tischen Vor­kriegs­alltag werden, das die dunklen Reali­täten deut­lich zeichnet, aber auch »mit einer Hand [...] auf die Grund­lagen der öster­reichi­schen Ewig­keit zeigt«. Sein inten­dier­tes Publi­kum waren Ameri­kaner und Briten, denn er schrieb das Buch im Exil in den USA, wo es 1944 in engli­scher Über­setzung erst­ver­öffent­licht wurde.

Obwohl in Lothars Heimat­land bereits 1948 verfilmt, erschien der Roman dort erstmals 1963 (bei Zsolnay). Da waren, seit die Alliierten 1945 »ein neues, freies Öster­reich« ver­hie­ßen hatten, fast zwanzig Jahre ins Land gezogen und hatten auch »schwarze Schatten« geworfen. So erwei­terte der Autor für die deutsch­spra­chige Erstausgabe sein Nach­wort: Damals »muss­ten Amerika und England erinnert werden, was Öster­reich ist; heute muss man Öster­reich daran erinnern.«

Literarisch besticht an diesem Roman noch heute das Konzept, die Protagonisten als Re­präsen­tanten der wich­tigsten gesell­schaft­lichen Phäno­mene alle­samt in einem präch­tigen Wiener Stadt­palais anzu­siedeln. Seine Posi­tionie­rung – im ersten Bezirk, dem »Herz von Wien«, der Haupt­stadt – verweist auf seine höhere Bedeu­tung als »das Haus Öster­reich [...]. Es steht auf den ewigen Grund­lagen der Men­schen­natur, wo sie am erden- und him­mels­nächs­ten bleibt.« Man liest also synchron auf meh­reren Ebenen: die Familie, das Haus, das Land.

Der Klavierfabrikant Alt, »kaiserlich-königlicher Hoflieferant«, errichtete das Gebäude an der Ecke Seiler­stätte und Anna­gasse 1790/91 als Wohn- und Ge­schäfts­haus mit Parterre, Mezzanin und drei Stock­werken. Indem sich die ange­sehene Groß­bürger­familie ver­größert und ver­zweigt, wird es umge­baut und erwei­tert. Ehe die Hand­lung am 9. Mai 1888 einsetzt, nimmt uns der Er­zähler an die Hand, geleitet uns über sechs Seiten von Tür zu Tür, von Stock­werk zu Stock­werk, als würden wir ein großes Puppen­haus bestau­nen, und gewährt uns erste Eindrücke von den Höhen­flügen und Abgrün­den einer feinen Sippe – ein kleines Meister­werk an poin­tierten Porträts voller zarter, char­manter, ironi­scher Spitzen und Seiten­hiebe.

Ein harmloses Spielzeug ist es frei­lich nicht, was der Autor präsen­tiert: »Sie wohnten, sie wohnen in einem wider­spruchs­vollen, zwie­lich­tigen, ver­winkel­ten, un­sinnig-sinn­lichen, herrlich schönen, gefähr­lichen, im Zentrum ste­henden, tief unter­keller­ten, dämo­nischen Haus.« Dessen Haupt­ein­gang schmückt der titel­gebende »Engel mit der Posaune«. Weder mit den Adels­wappen noch den Berufs­emble­men der Nach­bar­häuser ist er verwandt, auch künst­lerisch kein Meister­werk. Als reiner Zierrat ist er funk­tionell unab­hängig genug, um im Wandel der Zeit­läufte symbo­lische Bot­schaf­ten zu über­mitteln, mal trium­phierend, mal mahnend, mal jubi­lierend, mal strafend zu blasen.

Die mit­einan­der verwandten, ver­schwäger­ten und ver­schwipp­ten Bewohner sind alles andere als ein Ensemble. Kurzweilig und amüsant wird erzählt, wie jeder seine eigenen Interessen verfolgt, sie einander in die Quere kommen und kräftig über­ein­ander her­ziehen .

Als Franz Alt, der Enkel des Erbauers, seine Verlobte Hen­riette Stein (»Hetti«) zu ehe­lichen gedenkt, ist es vorbei mit der Be­schau­lich­keit der ver­gan­genen hundert Jahre. Er mutet der Familie einen miss­liebi­gen Fremd­körper zu und schockt sie mit der uner­hörten Absicht, das Haus um eine vierte Etage aufzu­stocken. Derlei Ver­ände­run­gen wohnt hier gleich etwas Um­stürz­leri­sches inne – am Horizont dräuen dunkle Wol­ken Unheil.

Das Pikante an Franz' Heirat ist, dass die jüdische Professorentochter (eine rein fiktionale Figur) zuvor eine Liebes­beziehung mit keinem Gerin­geren als dem Erz­herzog Rudolf unter­halten hatte. Trotz manchen Tuschelns weiß der Bräuti­gam von nichts und die Affäre soll auch Hettis ewiges Geheim­nis bleiben. So heiß und auf­richtig die gegen­seitige Liebe war, eine gemein­same Zukunft mit dem Kron­prinzen – Sohn von Kaiser Franz Joseph I. und Kaiserin Elisa­beth (»Sisi«) und auf Druck des Vaters mit Stephanie von Belgien verhei­ratet – kam niemals in Frage. Daher entschied sich Henriette für den sicheren Hafen einer gut­bürger­lichen Ehe mit einem Fabri­kanten. Am Tag ihrer Vermäh­lung erschießt sich der unglück­liche Erzherzog auf Schloss Mayer­ling – ihret­wegen, glaubt Henriette. Den Mann an ihrer Seite ver­schmäht sie lebens­lang.

In der Familie Alt wird Henriette nie wirklich aufgenommen. Arg­wöh­nisch be­lauern alle, was die extra­vagante, eigen­willige Dame unter­nimmt. Ein folgen­reicher Seiten­sprung macht sie end­gültig zur Persona non grata. Doch fügen würde Hen­riette sich niemals. Beharr­lich und aus­dauernd erträgt sie ihre iso­lierte Rolle, an der sie nichts zu ändern vermag.

Historische Begebenheiten zwischen Politik, Tragik und Tratsch (»über Persön­lich­keiten des Aller­höchsten Hauses«) verwebt der Autor glaub­würdig mit den fiktiven Erleb­nissen seiner Figuren. Gleich zur Ein­wei­hungs­feier des Hauses 1791 präsen­tiert ein inter­national be­jubel­ter Star seine neueste Oper, betitelt »Die Zauber­flöte«. Leider hinter­lässt der Kom­ponist, während er seine Klavier­version darbietet, rein äußer­lich »ein Bild des Jammers und der Un­ordnung«. Im Erzähl­fluss bilden die Leiden des jungen Kron­prinzen und Hen­riette Steins Rolle darin ein frühes Span­nungs­ele­ment, dem später weitere, teils sehr grau­same Ereig­nisse folgen.

Die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn zerfällt. Hans und Her­mann, die Söhne von Hen­riette und Franz, ziehen in den Ersten Welt­krieg. Nach dessen Ende ist die k. u. k. Monar­chie beseitigt, das Reich zer­schla­gen. Freie Repub­liken werden ausge­rufen, Wien wird sozial­demo­kratisch regiert.

Am traditionsreichen Familienunternehmen hat keiner der beiden Söhne ein sonder­liches Interesse. Her­mann schließt sich der NSDAP an und ent­wickelt sich zu einem über­zeug­ten, gefähr­lichen Faschisten. Sein Bruder Hans hatte künst­leri­sche Ambi­tionen, musste sich jedoch an der Kunst­gewerbe­schule »unge­nügende Arbeiten« be­scheini­gen lassen – ebenso wie sein Mit­be­werber »Hitler Adolf«. Nach dem Krieg führt er die Klavier­fabrik fort, ohne sich bei seinen Arbeitern sonder­liches Ansehen ver­schaffen zu können. Notge­drungen öffnet sich der noch immer über­zeugte Monar­chist sozial­demo­krati­schen Ideen. Mit seiner Ehe­gattin, der Jüdin Selma Rosner, zieht eine kokette, selbst­be­wusste und dis­kussions­freudige junge Frau ins Haus. Als Schau­spiele­rin feiert sie große Erfolge am Burg­theater.

Franz Alt, die Spiegelfigur zu Kaiser Franz Joseph, ist trau­mati­siert aus dem Krieg zurück­gekehrt. Beider Öster­reich gibt es nicht mehr, beider Welt ist unter­ge­gangen, beider per­sön­licher Glanz ver­blichen. Der einstige Fabri­kant, auf offener Straße von einem Proleten ange­pöbelt und zu­neh­mend auf Hen­riettes Pflege ange­wiesen, verlässt das Haus Seiler­stätte 10 nicht mehr. Der Ex-Majestät bleibt nichts, als in einem der vielen unbe­heizten Zimmer von Schloss Schön­brunn verein­samt den bal­digen Tod zu er­warten.

Nach Franz' Tod wünscht Henriette als 73-jährige Witwe aus dem Haus auszu­ziehen. Doch da haben sich die Verhält­nisse zum wieder­holten Male ver­schlim­mert: Jetzt ver­schaffen sich die Nazi-Voll­zugs­beamten Eintritt und über­nehmen mit ihren robusten Metho­den die gesamte Firma. Die erzählte Handlung endet 1938.

Ernst Lothar (1890-1974) war ein vielseitig begabter Mann. Der promo­vierte Jurist machte Karriere im Handels­minis­terium, veröffent­lichte ab 1911 Gedichte, Erzäh­lungen, Novellen, ein Theater­stück und meh­rere Romane, war Mit­be­gründer der Salz­burger Fest­spiele und später Regisseur und Theater­direktor. Nach dem »Anschluss« Öster­reichs 1938 emigrierte er nach Amerika. Dort schrieb er fünf Romane in eng­lischer Sprache, von denen »The Angel with the Trumpet« den größten Erfolg erzielte. Nach dem Krieg leistete er Großes für den Wieder­auf­bau der Theater­kultur in Öster­reich, u.a. als Regis­seur am Burg­theater und in Salz­burg.

»Der Engel mit der Posaune« ist ein umfangreicher, traditionell angelegter Roman. Die Stoff­fülle – kom­plexe Charak­tere, zahl­reiche Episoden, die viel­schich­tigen Ver­quickun­gen mit den histo­rischen Ent­wick­lun­gen in bewegten Zeiten – ist über­wältigend und erlaubt tiefe Einblicke in das Lebens­gefühl der Epoche. Auto­mobile etwa sind für Franz Alt nichts als »moderner Schwindel« und lebens­gefähr­liche »Marter­werk­zeuge«. Wie offen­bar schon seit Menschen­gedenken verfallen die Sitten (vor allem bei den Frauen: Sie tragen kurze Röcke und Kurz­haar­frisuren, fahren Ski, er­schei­nen im kaiser­lichen Theater in Bluse statt Fest­klei­dung). Wenigs­tens in der Seiler­stätte 10 hält man an den gewohn­ten Tra­ditio­nen fest. »Wie vor zwanzig Jahren« – Kriegs­heim­kehrer Hans kann es kaum fassen – sitzt die Familie Alt hoch­herr­schaft­lich am fein gedeck­ten Tisch, und ein Diener serviert die Speisen.

So wird der Leser auf anspruchsvolle und vielfältige Weise gut unterhalten. Hen­riettes inner- und außer­ehe­liche Liebesge­schich­ten tou­chie­ren schon mal das Tri­viale, aber die fami­liären Ränke, die in den mys­te­riö­sen Tod ihrer Schwie­ger­tochter, der »Roten« Selma, münden, ent­wickeln sich spannend wie ein Krimi. Die ge­schil­der­ten Ereig­nisse aus Krieg und Natio­nal­sozia­lis­mus schließ­lich bieten reich­lich Dramatik und Tragik.

Lothars kultivierte Sprache klingt heute stellenweise leicht pathetisch (»Wenn er nur nicht immer ›Mutter‹ sagen wollte!«); an­derer­seits beschwingt viele Dialoge ein gut transkri­bierter Wiener Tonfall (»Geh, lass di'net lumpen – du kannst dir's ja pumpen – Geh, Schor­scherl, gölt – s'is so gut wie be­stöllt ...«).


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Kommentare

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Zu »Der Engel mit der Posaune« von Ernst Lothar wurden 1 Kommentare verfasst:

Andrew Williams schrieb am 23.09.2018:

Ein sehr schönes Buch, es hat mich sehr gut beeindrückt. Man kann es mit den Schriften Musils, Zweigs und Roths auf der selben Ebene stellen. Lothar beschreibt mit vielem Pathos und vieler Feinheit das Österreich, das Gott sei dank trotz aller Ereignisse weiterlebt.

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