Rezension zu »In hellen Sommernächten« von John Burnside

In hellen Sommernächten

von


Belletristik · Knaus · · Gebunden · 384 S. · ISBN 9783813504606
Sprache: de · Herkunft: gb

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Visionen am Rand der Welt

Rezension vom 15.05.2012 · 3 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Liv, die Ich-Erzählerin, hat am Ende des Romans endlich zu sich selbst gefunden. Sie weiß nun, wohin sie gehört, "was sie mit ihrem Leben anfangen will". Vor zehn Jahren, als sie gerade die Schule abgeschlossen hatte, hat sie in jenem Sommer der hellen Nächte etwas erlebt, das sie selbst als "Privileg" beschreibt, nämlich etwas zu sehen, was nie geschehen sein konnte.

Die berühmte Malerin Angelika Rossdahl beschließt, Oslo für immer zu verlassen und nach Kvaløya zu ziehen, eine norwegische Insel am nördlichen Polarkreis. Hier geht im Winter niemals die Sonne auf; im Sommer dagegen hat der Tag kein Ende, und die Menschen finden in der andauernden Helligkeit keinen Schlaf. In dieser unwirtlichen Welt wächst die kleine Liv in einer distanzierten, kalten, lieblosen Atmosphäre auf. Sie kann sich weder an Oslo noch an einen Vater erinnern. Früh lernt sie, dass für Mutter nur die Malerei zählt. Tagelang arbeitet sie in ihrem Atelier, ihrem Heiligtum, das niemand betreten darf, auch Liv nicht. Die beiden führen ein Leben in Freiheit und gegenseitiger Akzeptanz; keine der beiden eröffnet der anderen ihre Gefühle, Sehnsüchte oder Ängste. Nur Nachbar Kyrre kommt gelegentlich in dieser bewusst isolierten Gemeinschaft vorbei, um Reparaturen vorzunehmen.

Am Sonntag lädt Mutter ein paar Herren zu einer Teeparty. Sie erinnern Liv an die "Freier" aus dem griechischen Mythos um Penelope. Unnahbar, unberührbar, einer Göttin gleich sitzt Mutter in der trauten Runde der sie Anbetenden. Liv meidet diese Plauderstunden, verdrückt sich gern und sucht die Gesellschaft Kyrres. Über die Jahre ist er ihr Vertrauter, ein Vaterersatz geworden. Als sie noch ein Kind war, hatte Mutter ihr die alten norwegischen Sagen, Legenden und Mythen vorgelesen, und so glaubt sie, was Kyrre ihr nun berichtet: "Hast du schon gehört?" Zwei Klassenkameraden sind im Fjord ertrunken, wahrscheinlich angelockt von der Huldra, einer feenhaften, Männer betörenden Schönheit der nordischen Mythen. Dies ist der Anfang eines gruseligen Sommers mit den hellen Nächten, die alle verrückt machen. Ein Sommergast mit leicht pädophiler Neigung verschwindet, später auch Kyrre ...

Ständig ist Liv mit Kamera und Fernrohr unterwegs. Sie hält sich für eine "Spionin Gottes", eine "Zeugin", die Tag und Nacht Wache halten muss, in einer "Aufmerksamkeit, die keinerlei Zweck kennt". Doch sind ihre Beobachtungen nicht nur Interpretationen, Hirngespinste eines vereinsamten, vernachlässigten, eigentlich traumatisierten jungen Mädchens? Obwohl ihr bewusst ist, dass es keine Huldra gibt, wird sie mit fortschreitender Handlung von Angst verfolgt, verfällt in Panik, ist besessen von der Vorstellung, an allem sei ihre Klassenkameradin Maia schuld.

Maia, Tochter eines Alkoholikers, ist ein geheimnisumwittertes Kind ohne Zuhause. Sie treibt sich überall herum, macht sich an Männer heran, taucht plötzlich in Livs Leben auf, verschwindet genauso schnell wieder von der Bildfläche, gespenstergleich. Für Liv ist sie die gefahrvolle Huldra.

Livs Wahn wird von tiefer Eifersucht befeuert. Einstmals hatte Mutter sich an einem Portrait von Liv versucht, gab es dann aber unvollendet auf. Jetzt lädt sie Maia zu Sitzungen ins Atelier, ist von ihr gefangen, will den Blick, das noch unbekannte "Irgendwas" in ihr herausfinden. Liv bemerkt im ganzen Haus den unangenehmen Geruch, wenn Maia, der bevorzugte Eindringling, da ist.

John Burnsides "In hellen Sommernächten", von Bernhard Robben einfühlsam aus dem Englischen übersetzt ("A summer of drowning"), ist in jeder Beziehung ein faszinierender Roman. Unübertroffen sind Burnsides ausgefeilte, fein ziselierte und wohlgesetzte Beschreibungen der Polarkreis-Landschaft mit ihrem Licht, der Einsamkeit, der stillstehenden Zeit, der endlosen Leere. Es ist falsch zu glauben, man würde in der hier lastenden Stille ein "Tonikum für die Seele" finden: Hintergrundgeräusche, zufällige Veränderungen in der Atmosphäre können erschrecken. Burnsides Sätze sind oft lang und verschlungen und dennoch leicht.

Behutsam baut Burnside das Psychogramm Livs auf. Sie ist eine schizophrene Figur mit zweitem Gesicht. Im Zusammenleben mit ihrer Mutter ist sie zu einer beziehungsunfähigen Frau geworden. Sie hat "keine Karriere, keinen Ehemann, ... keine Freunde". Obgleich eher abgestoßen und unbeachtet von der kalten Mutter, verehrt die vereinsamte Liv trotzdem die geniale, anerkannte Künstlerin. Sind es die dunklen Mythen und Spukgeschichten, die Livs leerem Leben Inhalt geben und in die sie sich hineinsteigert, bis man gar in ihr selber die Züge einer Huldra vermuten könnte? "Ich bewirke nur, dass Dinge geschehen," sagt sie.

Angesiedelt in der mystischen Welt der Naturschönheiten des fernen Nordens, reißt uns dieser verstörende Roman zwischen Realität und Irrealität hin und her, ohne jemals in die Nähe platten Mystery-Kokolores zu geraten; Livs Welt ist durchwebt mit den Wesenszügen einer nur ihr zugänglichen, jenseitigen Welt voller Geister und Spuk – ein faszinierendes Gebilde, in dem manches für immer ein Rätsel bleiben muss.

John Burnsides Roman ist das beste Stück Literatur, das ich seit Längerem gelesen habe – mit einer poetischen Sprache wie ein leichtfüßiger Tanz, in den man hineingezogen wird und in dem man sich in höhere Sphären weiter und weiter bis zur Unendlichkeit drehen möchte.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner ganz privaten aktuellen Lesetipps aufgenommen.


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