Rezension zu »Glorreiche Zeiten« von Kate Atkinson

Glorreiche Zeiten

von


Belletristik · Droemer · · Gebunden · 512 S. · ISBN 9783426281291
Sprache: de · Herkunft: gb

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Alle Spielräume ausgeschöpft

Rezension vom 28.02.2016 · 3 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Kate Atkinson genießt ihre Allmacht als Autorin. In ihrem Roman »Life after Life« (2013, dt. »Die Un­voll­endete«, 2013) [› Rezension] schenkte sie ihrer Prota­gonis­tin Ursula Todd großmütig eine ganze Serie verschie­dener Leben. »Glor­reiche Zeiten«, ihr neuestes Opus, setzt inhalt­lich die volatile Fami­lien­chronik fort (im Mittel­punkt: Ursulas Lieb­lings­bruder Teddy und seine Tochter Viola), schaltet anderer­seits erzäh­lerisch einen Gang zurück, indem sich die beiden ganz kon­ven­tio­nell mit nur einen Lebens­weg be­schei­den müssen.

Teddy spielte bereits im Fiktions­karussell der »Unvoll­endeten« mehrere Rollen. Im II. Weltkrieg wurde der Bomber­pilot über Deutsch­land abge­schos­sen. Über seinen Verbleib gab es keine ver­läss­lichen Nach­rich­ten. Jetzt erfahren wir, dass er überlebt hat. Nach der Kriegs­gefan­gen­schaft in Deutsch­land kehrt er un­ver­sehrt nach Groß­britan­nien zurück und heiratet seine Sand­kasten­liebe Nancy Shaw­cross (unge­achtet der Tatsache, dass sie in Ursulas vielen Lebens­läufen regel­mäßig ermordet worden war).

Erschüttert von unsäglich grausamen Kriegseinsätzen hatte Teddy sich geschworen, dass er, sollte es ein »Danach« geben, ein »stetes, klag­loses Leben führen« wolle und ver­suchen werde, immer »freund­lich zu sein«. Zunächst arbeitet er als Lehrer, später ver­öffent­licht er als »Agrestis« Kolum­nen in einem Journal vom schönen Land­leben. Der einstige Über­bringer tausend­fachen Feuer­todes nimmt jetzt alles mit pragma­tischer, gedul­diger, gut gelaun­ter Gelas­sen­heit hin. Seine persön­lichen Mei­nungen und Gefühle hält er zu­guns­ten eines beschau­lichen Lebens zurück.

Damit spendiert ihm seine Schöpferin zwar noch viele Lebens­jahre, aber kein Glück. In der Ehe findet Teddy nicht die erhoffte Erfül­lung. Ihr einziges Kind, Viola, ent­wickelt sich, von der Mutter ver­zogen und ver­wöhnt, zu einem wahren Satans­braten. Nach Nancys frühem Krebs­tod kümmert sich Teddy verant­wor­tungs­voll um seine Tochter, ohne sie je für sich gewin­nen zu können. Sie hasst alles und jedes, was er ihr in guter Absicht ange­deihen lassen möchte, ist un­dank­bar, aggres­siv, schlam­pig und schmud­delig, selbst im Umgang mit Teddys sorgsam gehegten Büchern.

Die »Tyrannin« mit »ver­steiner­tem Herzen« ist Teddys Konter­part und Lebens­prüfung. Rastlos sucht sie ihr Glück, ohne es zu finden. Als Mutter zweier ver­wahr­loster Kinder erscheint sie mindes­tens so mons­trös, wie sie sich als Tochter ge­bär­det hatte. Nie lernt sie, »wie man liebt«, und niemand, nicht einmal ihre Kinder, liebt sie. Sie bleibt einsam und zutiefst un­glück­lich. Nichts gibt ihr Halt in ihrem Elend und ihrer kind­lichen Sehn­sucht nach mütter­licher Wärme. »Ich will meine Mutter«, wimmert sie im gestan­de­nen Alter von sechzig Jahren.

Da ist Viola Romaine längst eine erfolgsverwöhnte, vor allem bei Frauen beliebte Best­sel­ler­auto­rin. Ihre Romane sind reich an auto­bio­grafi­schen Bezügen, an Bot­schaf­ten an ihren ver­hass­ten Vater. Doch bei ihm finden ihre Werke wenig Anklang. Um litera­risch ernster ge­nom­men zu werden, fasst sie als nächs­tes Pro­jekt einen »Kriegs­roman« ins Auge. Die Erin­nerun­gen ihres Vaters wären eine gute Grund­lage. Doch Teddy geht in­zwi­schen auf die hundert Jahre zu, ein erschöpf­tes, dahin­vege­tieren­des Wesen. Viola hat ihn in einem preis­güns­tigen Pflege­heim unter­ge­bracht – auch dieser Ort eine Hölle auf Erden.

»Glorreiche Zeiten« – der deutsche Titel klingt erheblich sarkastischer als das Original (»A God in Ruins« Kate Atkinson: »A God in Ruins« bei Amazon , 2014, Über­setzung: Anette Grube) und ak­zentu­iert damit, was der Text zwischen den Zeilen sub­versiv zu be­schwö­ren scheint: die bes­sere Ver­gangen­heit, als andere, ge­mein­schafts­orien­tierte, klarere Werte galten als heute. Viola ist eine radikale Re­prä­sen­tan­tin der neuen Zeit, in der Selbst­ver­wirk­lichung jeder­manns Ziel ist. Je egois­ti­scher, je rück­sichts­loser sie durch­ge­boxt wird, desto höher die Kosten für die aus der Bahn ge­dräng­ten Rivalen. Nach dem Auf­ent­halt in einer kau­zigen Blumen­kinder-Kom­mune mausert sich Viola als Femi­nistin und Frie­dens­akti­vistin. Bei De­monstra­tio­nen gegen Cruise Missiles hilft sie den Welt­frieden sichern. Doch während sie sich für »die Zukunft aller Kinder der Welt« enga­giert, schiebt sie die lästige Ver­ant­wortung für ihre eige­nen beiden Kinder Teddy zu. Der liebe­volle Groß­vater über­nimmt die Aufgaben, aber nach seinen eigenen Regeln: »kein Wellen­sittich­futter« mehr für die vege­tarisch auf­gezo­genen Enkel.

Obwohl die Welt Teddys Auffassung nach »ein besserer Ort war, als die Männer ihre Gefühle nicht gezeigt haben«, verklärt Teddy die kriege­rische Ver­gan­gen­heit nicht. Zwar hält er stand­haft daran fest, dass die gnaden­lose Zer­mür­bungs- und Ver­gel­tungs­stra­tegie des Gene­rals Harris (und damit seine eigenen Einsätze als Pilot eines Halifax-Bombers) recht­mäßig und gerecht war (»Er würde es wieder tun«). Mit Un­ver­ständ­nis nimmt er hin, wie sich Poli­tik und öffent­liche Meinung zuneh­mend distan­zieren von den ver­heeren­den Folgen der un­mäßigen Bom­barde­ments deutscher Städte und ihrer Zivil­bevöl­kerung. Für diese höchst ge­fähr­lichen Aktio­nen haben Teddy und seine Kame­raden ihr Leben riskiert, und mehr als die Hälfte haben es verloren. Aber Teddy hat Verständ­nis für die Fragen und Zweifel.

In dieser umstrittenen Grundsatzfrage bezieht die Erzählerin übrigens keine Stellung. Ihre Schil­derun­gen ver­hül­len oder be­schöni­gen nichts – im Gegen­teil: Sie lässt keine Grau­sam­keit aus. Aber sie ur­teilt nicht. Sie tritt hinter ihren Helden Teddy zurück, ent­zieht ihm nicht den Boden. Erst im Nach­wort äußert sich die Auto­rin frei­mütig über den Bomben­krieg als eine »Strate­gie, die mit den besten Vor­sätzen begann«, dann eska­lierte wie »ein stets ge­öff­neter Schlund, der nie genug bekam«. Ihr Buch sei aller­dings »ein Roman, keine Pole­mik, [...] und dem­ge­mäß habe ich es den Figu­ren und dem Text über­lassen, die Zweifel und Ambi­gui­täten aus­zu­spre­chen.«

Die erzählte Zeit beginnt mit Teddys Geburt (1914) und endet mit seinem Tod (2012). Sein Lebens­lauf wird in epischer Breite ent­faltet, alle Fami­lien­ange­höri­gen (Eltern, Ge­schwis­ter, Tochter und Enkel) wer­den ein­be­zogen. Doch »Teddys Krieg« ist der trei­bende Motor des Romans. Bei denen, die ihn durch­lei­den, hinter­lässt er lebens­lange Spuren, und noch auf die fol­gen­den Gene­ratio­nen wirft er seine Schatten. Kate At­kin­son hat in um­fassen­den Recher­chen über­raschen­de Einzel­heiten zutage ge­för­dert, bis hin zu tech­nischen Kon­struk­tions­details, so dass die Szenen aus der Luft wie auf dem Boden den Leser über­zeu­gen, er­schüt­tern und scho­ckie­ren. Bisweilen erschei­nen ihre Schilde­rungen wie bitter-sarkas­tische, grotesk über­zeich­nete Fiktion und spiegeln doch das tat­säch­liche Grauen realer Kriegs­ereig­nisse wider.

Wurde der Leser in »Die Unvollendete« mit der unent­wegten Variation der Handlung ver­un­sichert, so for­dert ihn in »Glor­reiche Zeiten« das Spiel mit der Zeit. Zwar etab­lie­ren wichtige Zeit­ab­schnitte und Epi­so­den eine grobe Kapitel­struktur (Kind­heit: Spazier­gang mit der Tante; 1944: Teddy schreitet vor seinem letzten Einsatz das Flugfeld ab; nach 1980: Teddys Enkel­kinder; 2012: im Pflege­heim ...). Doch die ist ober­fläch­lich und unver­bind­lich. Denn die Erzäh­lung springt auf furiose Weise zwischen Episo­den der Ver­gangen­heit oder der Zukunft, um dann wieder im Ge­danken­fluss der Ist-Zeit fort­zu­fahren.

Kate Atkinson ist eine reflektierte Autorin. Es ist ihr wichtig, sich hin­rei­chend »auk­toria­len Spiel­raum zu lassen«. Roman­schrei­ben erfährt sie als halb bewuss­ten, halb getrie­benen Prozess, bei dem Plot und Bilder­sprache, litera­rische Tradi­tionen, Refe­renzen auf Gelese­nes und Erleb­tes ein Eigen­leben ent­wickeln. Sie glaubt, »dass alle Romane nicht nur Fiktion sind, sondern auch von Fiktion handeln«, und fordert: »Jede Kate­gorie, die ein­schränkt, sollte ver­worfen werden.« Dazu gehört auch die Chrono­logie.

Atkinson-Romane sorgen für ungewöhnliche, betörende Lese­erfah­run­gen. Auf dem festen Funda­ment solide recher­chier­ter Fakten füllt die Autorin die Seiten mit reich­halti­gen Details, lässt gleich­zeitig ihrer Fantasie freien Lauf, schaut im Vor­wärts­schrei­ten immer wieder zurück und wirft gleich­zeitig den Blick weit in die Zukunft. Die Voraus­ver­weise bleiben oft ge­heim­nis­voll, bis sie später wei­tere Informa­tionen nachreicht. Kurz vor dem Ende über­wältigt uns geradezu eine uner­war­tete Kehrt­wende.

»Glorreiche Zeiten« ist ein genialer, anspruchsvoller Roman. Kate Atkinson schreibt mit leichter Feder und doch raffiniert, voller Esprit, Ironie und Melan­cholie. Mit spitz­züngig-kriti­schem Unterton präsentiert sie ihre Figuren in ihrem Lebens­umfeld und die Trends ihrer Zeit mit allen Aus­wüchsen. Unge­schoren bleibt dabei niemand.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2016 aufgenommen.


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