Rezension zu »Kleine Feste« von Michele Serra

Kleine Feste

von


Erzählungen · Diogenes · · Gebunden · 208 S. · ISBN 9783257069648
Sprache: de · Herkunft: it · Region: Norditalien

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Mal mir einen Frosch!

Rezension vom 07.07.2016 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Kurzgeschichten mag man oder nicht. Sie sind eben ›nur‹ literarische Pralinen – ein rascher Reiz, ein kurzer Genuss, schnell konsumiert, von der nächsten überlagert, verdrängt, vergessen, zu winzig, um prägenden Eindruck zu hinter­lassen. Doch die Begrenzt­heit ist ihre Stärke. Erfunden, um mit dem Boom des ameri­kani­schen Zeit­schriften­wesens im neun­zehn­ten Jahr­hun­dert wach­sende Leser­massen zu unter­halten, passen Kurz­ge­schich­ten in unsere Zeit besser denn in jede zuvor. Sie fordern nicht viel Frei­zeit, wenig Speicher­platz, sind mobil konsu­mierbar, stilis­tisch viel­seitig wie Musik­videos, und sie sättigen nicht. Aber man unter­schätze nicht ihren Nähr­wert. Wenn sie gut gemacht sind, sendet so ein Text­chen ein Blitz­licht in eine der vielen dunklen Ecken der mensch­lichen Exis­tenz, und man erschrickt, staunt, freut sich oder ist gerührt von dem, was da wo­mög­lich erst- und letzt­malig kurz auf­leuch­tet. Alles weitere bleibt dem Leser über­lassen.

Michele Serras Kurzgeschichten sind gut gemacht – tats­äch­lich eher »kleine Feste« als »Cerimonie« Michele Serra: »Cerimonie« bei Amazon , wie der italie­nische Ori­ginal­titel lautet. Julika Bran­des­tini hat die Ge­schich­ten, die in Italien bereits 2002 er­schienen und mit dem Premio Elsa Morante der Insel Procida ausge­zeichnet wurden, jetzt erst­mals ins Deutsche über­setzt. Michele Serra, 1954 geboren und bei uns weit­gehend unbe­kannt, ist in Italien auf meh­reren Feldern präsent. Der streit­bare Linke und beken­nende Homo­sexuelle hat sich als Kolum­nist, Jour­nalist, Schrift­steller, Fernseh­autor, Humorist, Sati­riker und Text­schreiber für Beppe Grillo einen Namen gemacht.

Zwölf bemerkenswerte Kurzgeschichten versammelt das hübsche Leinen­bänd­chen aus dem Dio­genes-Verlag. Das Inhalts­ver­zeich­nis stimuliert die Fantasie: zwölf Satz­an­fänge, die alle dem Text der jewei­ligen Erzäh­lung ent­nom­men sind. »Die Partei­gänger der Schleif­maschine und die des Schmir­gels«, »Wer wusste schon, wann der Hirsch endlich röhrte«, »Gongs im Bambus­wäld­chen, Dudel­säcke in den Bergen und Harfen auf der Heide« – was mag einen da wohl erwarten?

Alle Geschichten sind aus der Ich-Perspektive verfasst, geben sich also rea­lis­tisch, authen­tisch, womög­lich auto­bio­grafisch. Die Situa­tionen, in die der Autor seine Figuren stellt, sind jedoch nicht immer all­täglich. Gleich in der Ein­gangs­ge­schich­te sind wir »ergrif­fen« von dem alten Mann, der sich vor uns am tos­kani­schen Fluss­ufer unge­niert seiner Kleidung ent­ledigt und so, wie Gott ihn ge­schaffen, ins Wasser begibt. Man kommt ins Gespräch (»ich bin ein Freund alles Irdischen«), der Alte gibt Spin­nertes und Be­den­kens­wertes von sich. Was ihn umtreibt, ist der Zwie­spalt, dass er Atheist ist, aber einen starken Drang zu beten verspürt. Nicht Leid, Ver­zweif­lung oder Angst will er einem Gott kom­muni­zie­ren, sondern sein Glücks­ge­fühl, leben zu dürfen. Über­zeugt, dass der Mensch ein Ge­meinschafts­wesen sei, will er eine Gebets­gruppe begrün­den und dem Gottes­dienst der Priester eine dies­seitige, rein humane Litur­gie ent­gegen­setzen. »Der ist verrückt«, denkt der Erzäh­ler bis­wei­len, lässt sich aber ein auf diese aben­teuer­liche, inspi­rieren­de Melange aus Sozio­logie, Philo­sophie (»Sind alle Esel als Esel geboren?«) und Religion (»wir bil­deten eine kleine Abend­mahl­runde«). Schließ­lich soll eine Art Ver­geisti­gung im Ange­sicht der Natur­schön­hei­ten helfen, einen »eigenen Ritus« der Ungläu­bigen zu erfinden. Obwohl auch das nicht so recht klappen will und wir den kauzigen Alten, notge­drungen unserem Erzähler folgend, seinem Schick­sal über­lassen müssen, hat er doch viele Schlag­lichter auf den Sinn des Lebens, die Reli­gionen, Schön­heit, Werte, Worte und Lite­ratur geworfen.

Serras Kurzgeschichten punkten nicht durch äußere Handlung. Die ist ziemlich unauf­geregt, aber originell, gern etwas skurril oder absurd und inso­fern durchaus über­raschend und unter­haltsam. Größeren Raum nehmen jedoch die viel­fälti­gen Über­legun­gen ein, die die Ge­scheh­nisse beim Erzähler aus­lösen. Er charak­terisiert die Personen, analy­siert, was in ihnen vorgehen mag, asso­ziiert dieses und jenes und erweitert seine Gedanken­flüge regel­mäßig in philo­sophische und spiri­tuelle Sphären. Auffallend oft ringt er mit der Not des »Ent­christiani­sierten«, die Sehn­sucht nach »Höhe­rem« zu stillen, die Leer­stellen der Trost­losig­keit zu füllen, seit er all die »theo­logi­schen Märchen [...] in die Motten­kiste meiner katho­lischen Erziehung verbannt hatte«. Es sind gewisser­maßen ›essayis­tische Erzäh­lungen‹, die Alltags­situatio­nen einer ein­gehen­deren Betrach­tung unter­ziehen.

Dass der Leser sich gern von diesen Geschichten fesseln lässt, liegt auch an Serras kunst­vollem Stil, der humor­volle Leich­tig­keit, eine ausge­prägte, originelle poeti­sche Bild­lich­keit und das komplette Spektrum kritischer Aussage­weisen von sanften An­regun­gen über leichte Ironie bis zu beißendem Sarkas­mus vereint.

So lesen wir einerseits – immer aus der Ich-Perspektive –, wie Manlio, Besitzer eines kleinen Ladens in der Via Pacini (eine Mai­länder »Hunde­scheiß­meile, min­destens zwei Kilometer voller alter, schep­pernder Blech­jalousien«), kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn es um die »Nicht­existie­renden« mit »idio­tisch rasierten Militär­köpfen« geht, deren arm­selige »Iden­tität einzig aus einem blau-violetten WOW besteht, das sie nachts neben ein iden­tisches POW sprayen«. Ihr »stumpf­sinni­ges Alphabet« von »Ich bin auch noch da«-Bot­schaften ver­schandelt ganze Straßen- und Eisen­bahn­züge. Nachdem er selbst ein paar Mal Opfer dieser anony­men »Herren Ich« gewor­den war und seinen Roll­laden mühselig gereinigt hat, legt er sich auf die Lauer – und ertappt tat­sächlich einen Täter. Was folgt, ist ein verbales Schar­mützel und ein amü­santes »Drama der Iden­tität«.

In »Kleine Tempel der Kindheit« geht es dagegen ganz harmlos zurück in die Kindheit des Ich-Erzählers. Im voll bepackten Fiat 600 fuhr die Mai­länder Familie bei glühender Sommer­hitze über »Sträß­chen, die mehr schlecht als recht ins Gelände einge­passt waren«, an die Riviera di Ponente. Da schweifen die Ge­danken von prakti­schen Fragen (die »Knie­kuss­haltung« auf dem Rücksitz, und »wie machten wir es eigent­lich mit dem Gepäck?«) über die Charak­teristik der Auto­typen (»die gedrun­gene Eiform des Wagens mit seinem Eigelb aus Per­sonen«) durch eine Fülle von Reise­impres­sionen (die rasier­ten Nacken der vorne Sit­zenden, die draußen vorbei­huschen­den »Wasser­gräben, die Pappel­reihen, die hellen Land­häuser«, die durch die offenen Fenster­chen herein­wehen­den Gerüche, Staub­körn­chen, Insek­ten).

Am rührendsten ist die letzte Geschichte des Bandes. Wie tröstet man ein Kind, das über einen schmerz­lichen Verlust in Tränen aufge­löst ist? Die warm­herzige Anteil­nahme, das Mit­leiden des Vaters dringt durch die milde Ironie und die kühne Bild­lich­keit der Be­schrei­bun­gen unge­schwächt hin­durch. »In seinem Gesicht, auf dem die Züge noch immer auf kleins­tem Raum versammelt waren, weinte alles auf einmal. Das Kinn war unter den abwärts ge­zoge­nen Lippen zu­sam­men­ge­krampft und glänzte wie ein nasser Tisch­tennis­ball. Aus den Augen tropfte eine un­glaub­liche Menge Tränen, alle paar Sekunden eine, mit dem un­fehl­baren Eifer einer Wasser­uhr.« Wie sich Gio­vanni vom »Regen­rohr unserer Familie«, der deren »ganzen Tränen­wolken­bruch« sammelt und zur Erde ableitet, schließ­lich zurück ins Leben läutert (unter anderem »geschäfts­männisch wie alle Kinder«), gibt Anlass, über Ver­traut­heit, Männer und Frauen als Trau­ernde, das Jenseits, Leben und Tod (»Heb­amme und Toten­gräber arbeiten am selben Strang, wenn auch in ver­schie­denen Gewerk­schaften«) und den ewigen Kreis­lauf des Wassers nach­zu­denken.

Schöne, unterhaltsame und überaus anregende Lektüren für Zwischendurch!


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