Rezension zu »40 Tage Nacht« von Olivier Truc

40 Tage Nacht

von


Kriminalroman · Droemer · · Gebunden · 496 S. · ISBN 9783426199879
Sprache: de · Herkunft: fr

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Archaik und Moderne im höchsten Norden Europas

Rezension vom 13.07.2015 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Das womöglich abgelegenste Wunderland kultureller Exotik in Europa ist der Schauplatz dieses originel­len Kriminalromans, den der langjährige Skan­di­na­vien-Kor­res­pon­dent von Le Monde verfasst hat. Vielen von uns mag der Nor­den Lapplands im Nor­den Norwegens fremder anmuten als andere Regionen der Eu­ro­pä­ischen Union, sicher aber menschenfeindlicher, herrschen doch dort Bedingungen, die dem Mitteleu­ropäer den Alltag als schiere Qual erscheinen lassen.

Wie verbringt man unbeschadet geschlagene vierzig Tage in absoluter Dunkelheit bei bis zu minus 40 Grad? Die Ureinwohner Lapplands, die Sami, kennen es nicht anders. Seit Jahrhunderten haben sie gelernt, sich als Rentierzüchter, Jäger und Händler den außergewöhnlich harten Herausforderungen zu stellen. Die rätselhaften Umweltphänomene und existentiellen Fragen erklärten sie sich mit einer Natur­religion, und von Generation zu Generation überliefern uralte gedichtete Mythen und Heldensagen die graue Vorge­schichte in mündlicher Kontinuität. Einer der Höhepunkte ihres Jahresablaufs ist, wen wundert's, die Wie­dergeburt der Sonne nach der langen Polarnacht. Am 10. Januar blinzelt sie für gerade einmal 42 Minuten hinter dem Horizont hervor, macht den Tag ein wenig licht und schenkt jedem Menschen seinen Schatten wieder.

Neben den Unbilden der Natur machten den Sami auch Mitmenschen aus dem Süden zu schaffen. Im 17. Jahrhundert rückten Schweden herauf, um sie zu ›kolonisieren‹, was hieß: Sie vertrieben sie aus ihren Stammesgebieten, versklavten sie als Arbeitskräfte in Bergwerken, verboten ihnen ihre Sprache, ihre heid­nische Religion und ihre Mythen und zwangen sie, fromme Christen zu werden. Besonders die Er­we­ckungs­be­we­gung der konservativ-moralischen Laestadianer tat sich missionierend und belehrend hervor. Seither führt die Mehrzahl der Samen eine begrenzte Existenz wie viele andere indigene Minderheiten: Viele leben noch wie ihre Vorfahren von ihren Rentierherden auf den weiten Hochebenen, wo sie einsam in Zelten oder schlichten Kotten hausen, andere arbeiten als Hilfskräfte bei Bauern, manche, vor allem aus der jüngeren Generation, sind Juristen und Ärzte geworden und leben in der Stadt.

Ausgerechnet in der magischen letzten Nacht vor dem Wiederauftauchen der Sonne geschieht ein Verbre­chen, das tief in diesem historischen Hintergrund verwurzelt ist. Aus einer Galerie in Kautokeino wurde eine samische Schamanen-Trommel gestohlen. Der Deutsche Helmut Juhl hatte sie erst kürzlich erhalten, um sie seiner einzigartigen Sammlung zu samischer Lebensart und Handwerkskunst einzugliedern, war aber noch nicht einmal dazu gekommen, das seltene Stück zu dokumentieren.

Der Diebstahl des Kultstückes erregt öffentliches Aufsehen. Für die Samen bedeutet er nichts weniger als einen »Dolchstoß«, einen Angriff auf ihre Seele, auf ihre Kultur. Im Zuge der Missionierung waren die Trommeln der Schamanen konfisziert und verbrannt worden – feurige Exempel der Unterdrückung in einer dunklen Zeit. Weltweit sollen nur noch fünfzig Stück übrig geblieben sein, die entwendete Trommel aber war die einzige auf eigenem samischen Boden.

Der örtliche Priester, ein pietistischer Laestadianer, spricht mit zwei Zungen. Wenn er von Respekt für die Kultur »unserer samischen Freunde« als ein zu schützendes Gut redet, glaubt ihm keiner, wo er doch im passenden Umfeld kein Hehl aus seiner Besorgnis über das Wiedererstarken des heidnischen Aber­glau­bens macht. Immer mehr »verirrte Seelen« steigern sich neuerdings bei traditionellem Joik-Gesang und reichlich Alkohol in Trance, und die Trommel – »ein Werk des Teufels!« – ist ein wichtiges Stimulans dabei.

Extra für die samischen Belange wurde schon vor Jahren eine eigenständige Polizei eingeführt, or­ga­ni­sa­to­­risch ein Teil der Stadtpolizei. Sie kümmert sich insbesondere um die Sami auf den Hochebenen, regelt Streitereien um Weidegründe, um wildwechselnde, gestohlene, bei Unfällen getötete Rentiere und derglei­chen. Schlimme kriminelle Vergehen hat es in den weitläufigen Gegenden bisher nicht gegeben.

Tor Jensen heißt der Leiter des Polizeikommissariats, und weil er privat gern einen ledernen Cowboyhut trägt, nennt ihn jeder »Sheriff«. Klement Nango, kurz vor der Pensionierung, ist der Quoten-Sami in der Truppe, und Nina Nansen wurde mit ihrem taufrischen Polizeiabschluss gerade erst aus Oslo hierher ver­setzt. Obwohl der Fall des Trommel-Diebstahls den »Sheriff« kaum beeindruckt, verursacht er ihm doch gehörigen Druck. Denn in drei Wochen findet in Oslo die wichtige UN-Konferenz über indigene Völker statt, wo es um Fördergelder aus den Töpfen der UNO und um das makellose Ansehen der Norweger geht. Neben den samischen Politikern erwarten auch die Rechtsextremisten zügige Resultate von der Polizei, und eine Demo auf dem Marktplatz von Kautokeino soll der Forderung (»Gebt uns unsere Trommel wie­der«) Nachdruck verleihen.

Um die unselige Trommel schleunigst wiederzubeschaffen, sollen Klement und Nina zunächst mit der Be­völkerung sprechen und dabei das gebotene Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen walten lassen. Der Tag ist noch nicht um, da wird gemeldet, dass der Rentierzüchter Mattis tot aufgefunden wurde.

Welch ein wunderbares Konzept voller Möglichkeiten für Spannung und Tiefgang! In der Tat kann Olivier Truc den Leser noch gut zweihundert Seiten lang fesseln. Doch dann verzettelt sich dieser Skan­di­na­vien-Krimi leider etwas in einer Vielzahl breit ausgetretener Handlungsstränge, ehe die beiden ungleichen Beamten das brutale Verbrechen an Mattis aufgeklärt haben und die Trommel wieder da ist, wo sie hinge­hört. Dann ist es Ende Januar, und die Tage sind bereits fünf Stunden lang.

Wenn Klement und Nina, in dicke Overalls verpackt, auf dem GPS-geführten Schneescooter über die Hochebenen rasen, erhalten wir Leser faszinierende Einblicke in die Existenzbedingungen und den sozia­len Wandel unter den weit von einander entfernt lebenden Züchtern. Johan Henrik etwa hat die Zeichen der Zeit erkannt. Nach samischer Tradition hat er als Jüngster von fünf Geschwistern Grundbesitz und Herde von seinem Vater geerbt und führt jetzt ein modernes Kleinunternehmen mit fünfzehn Angestellten, Schneemobilen, Schneepflügen, Quads, Autos, Schlachtwagen und Hubschrauber. Daneben hat er das Tourismusgeschäft entdeckt, organisiert Anglertouren, führt Besucher durch seine Tiergehege und verkauft samisches Kunsthandwerk. Zusätzliche Einnahmen gewinnt er aus dem Verleih seines Maschinenparks. Seine Frau betreibt eine Imbissbude an der Landstraße. In seiner Familie hat Johan Henrik als Erbe die Pflicht, sich um die alternden Eltern zu kümmern, in der Gesellschaft gehört er zur angesehenen Ober­schicht und ist Mitglied in der Samipartei.

Ganz anders sieht es bei Aslak, einem der wenigen traditionellen Züchter, aus. Er haust mit seiner Frau, die seit Jahren nicht mehr spricht, nur ab und zu markdurchdringende Schreie von sich gibt, in einer primitiven Kate, in deren Mitte ein Holzfeuer lodert und den bis zu vierzig nächtlichen Minusgraden ein bisschen Wärme entgegenhaucht. Nahrung und Kleidung sind das einzige, was die beiden sonst noch zum Leben brauchen, und das geben ihnen die Rentiere. Ganz allein, nur von einigen Hütehunden begleitet, fährt As­lak auf seinen Skiern, um nach seiner kleinen Herde zu schauen. Er gehört zu den archaischen, furchterre­genden Typen, denen man nachsagt, sie kastrierten ihre männlichen Rene noch mit den Zähnen. Einmal soll er mit eigener Hand einen Wolf getötet haben. Er wird über die Runden kommen, doch nicht einmal die Politik, geschweige denn das Wirtschaftssytem, räumt traditionellen Jägern und Händlern wie ihm eine Chance auf eine Zukunft ein.

Zu diesen Verlierern ohne Hoffnung gehörte auch Mattis, Sohn eines Schamanen, doch ohne dessen Stärke und Ausstrahlung. Schon seit längerer Zeit hatte er existentielle Not und Verzweiflung mit Alkohol be­täubt, und auch der Ärger, den er sich mit den anderen Züchtern aufhalste, tangierte ihn nicht mehr. Seine vernachlässigten Rentiere trieben abgemagert und sich selbst überlassen über die Hochebenen und drangen immer wieder in fremde Weidegründe ein.

Ein weiterer Handlungsstrang eröffnet sich mit der Suche nach einer alten Mine. Bereits im 17. Jahrhun­dert waren reiche Zinn-, Erz- und Silbervorkommen entdeckt worden, und nun taucht der Angestellte einer großen Bergbaugesellschaft auf, um klammheimlich sein eigenes Süppchen zu kochen. Der neue heiße Krimistoff hängt zwar eng mit dem Fall der verschwundenen Trommel und einer dunklen Geschichte aus der Vergangenheit zusammen, doch der Autor legt immer noch mehr nach: jede Menge Intrigen, ein Faible für junge Mädchen, die Recherchen eines aus Kanada eingeflogenen Glaziologen ... All diese Ne­ben­strän­ge lenken leider vom zentralen Fall ab, bremsen die Spannung und gehen auf Kosten des Interes­ses an Land und Leuten.

»Le dernier Lapon« Olivier Truc: »Le dernier Lapon« bei Amazon wurde von Elsbeth Ranke ins Deutsche übersetzt.


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