Rezension zu »Von hier bis zum Anfang« von Chris Whitaker

Von hier bis zum Anfang

von


Eine rasende Dreizehnjährige setzt sich in den Kopf, den Mord an ihrer Mutter zu rächen.
Kriminalroman · Piper · · 448 S. · ISBN 9783492071291
Sprache: de · Herkunft: gb

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Blinde Rache

Rezension vom 23.10.2021 · 24 x als hilfreich bewertet mit 1 Kommentaren

Cape Haven ist ein kleines, aber beliebtes (fiktives) Urlaubs­eldorado in Kalifor­nien, das manchen seiner Bewohner Glück und anderen Unglück beschert hat. Denn Stürme und Fluten haben die Klippen zermürbt, bis sie zusammen­brachen und die Häuser auf ihrem Rücken mit in die Pazifik­wellen rissen. Dies ver­schaffte nun freilich den Immobi­lien in der zweiten Reihe unver­stellten Meerblick und steigerte ihren Wert über Nacht gewaltig. Die Verlo­ckung, den Zuwachs schnell zu versil­bern, ist groß, aber nicht jeder will verkaufen.

Mit all dem hat Star Radley, die mit ihren beiden Kindern Duchess, 13, und Robin, 5, hier wohnt, nichts am Hut. Zu dritt über die Runden zu kommen fordert die Allein­erzie­hende stärker, als es ihr gut tut. Vom Vater der Kinder erhält sie keine Hilfe (den Kindern ist er nicht einmal bekannt), und so jobbt sie des Nachts als Sängerin und Tänzerin in einer Bar. Deren Besitzer, der auch im Immo­bilien­handel clever mitmischt, ist einer der vielen Männer, die die attrak­tive, aber herunter­gekom­mene Frau unver­blümt anbaggern und alles andere im Sinn haben als ihr zu helfen. Star erscheint ihr Leben aussichts­los, und sie ertränkt es in Alkohol- und Drogen­exzessen.

Chris Whitakers Roman »We begin at the end« Chris Whitaker: »We begin at the end« bei Amazon setzt hier ein. Das Jahr 2005 ist »the end« bzw. (in der Überset­zung von Conny Lösch) das »Hier« eines wendungs­reichen, über viele Seiten erst einmal rätsel­haften Handlungs­plots. Dreißig Jahre zuvor, am »Anfang«, hatte alles gar nicht schlecht begonnen. Da war Star Teil einer lebens­frohen, unzer­trenn­lichen Clique von Fünfzehn­jährigen. Zu denen gehörten der attrak­tive Vincent, sein bester Freund Walker und Martha, die mit Walker ein zärt­liches, sittsames Verhält­nis unter­hielt.

Wie die Ozeanklippen im Sturm bricht die jugend­liche Un­beschwert­heit jäh zusammen, als Stars sieben­jährige Schwester ermordet wird. Vincent gerät sofort unter Verdacht, wird verhaftet, verur­teilt und erbar­mungslos hart bestraft. Während der vielen Jahre, die er in einem Gefängnis für Erwach­sene zubringen muss, bleibt sein Freund Walker von seiner Unschuld überzeugt und hält Kontakt zu dem in sich gekehrten, schwer zugäng­lichen Inhaf­tierten. Derweil wird Walker Sheriff von Cape Haven, während Martha wegzieht und als Anwältin arbeitet.

Nach seiner Entlassung kehrt Vincent nach Cape Haven zurück, um dort einen zag­haften Neustart zu wagen. Doch als ein paar Tage später Star Radley ermordet wird, ist es schon vorbei mit dem neuen Leben. Bevor irgend­eine Ermitt­lung Beweise ans Licht fördern kann, steht Vincent bereits wieder als Mörder fest. Nun schwebt aller­dings das Damokles­schwert der Todes­strafe über ihm. (Sie wurde in Kalifor­nien zuletzt im Jahr 2005 vollzogen – dem »Hier« des Romans.)

Jetzt schlägt die Stunde von Duchesse als Protago­nistin der außer­gewöhn­lichen Art. Sie setzt sich ein einziges großes Ziel: den hinter­hältigen Mord an ihrer Mutter zu rächen. Zum Vorbild nimmt sie sich einen Vorfahren, den Bank­räuber Billy Blue Radley, den unver­söhn­licher Hass zu einem Leben abseits des Rechts und gesell­schaft­licher Konven­tionen trieb, und in seiner Tradition gibt sich die Dreizehn­jährige jetzt als kämpfe­rischer »Outlaw«.

Doch Duchesse ist von ihrem Erbe und ihrer tragi­schen Vita schwer belastet und verformt. Nie konnte sie ein Kind sein. Immer fiel es ihr zu, sich um die Mutter, den kleinen Bruder, den Haushalt zu kümmern. Nach all ihren Erniedri­gungen, Über­forde­rungen und Verlet­zungen, ihrer Depri­vation und Isola­tion schreit ihre Seele förmlich nach Liebe, Zuwendung und Schutz. Gleich­zeitig hat sie über die Jahre einen Schutz­panzer ausge­bildet, dessen Stacheln sich wahllos gegen jeden auf­richten, der sich nähert, und geradezu toll­wütige, asoziale Aggres­sionen auslösen. Schon mit ihren maßlos über­zogenen Verbal­attacken stößt sie jeden vor den Kopf, ausge­rechnet auch jene, die es gut mit ihr meinen, die sie schützen und lieben wollen. »Wenn du noch einmal was über meine Familie sagst, schneid ich dir den Kopf ab, du Arschloch«, schreit sie einen Klassen­kamera­den an.

Auch die Erwachsenen haben ihr Leid zu tragen, doch tun sie es möglichst schwei­gend. Die entsetz­lichen Ver­brechen halten Hinterblie­bene, Freunde und Nachbarn über Jahre fest im Griff. Nur langsam lassen Schmerzen nach, und alle tragen seelische Narben davon. Dennoch engagiert sich Chief Walker, wiewohl selbst mit einer unheil­baren Krankheit geschla­gen, für das Wohl­ergehen der beiden Radley-Kinder und bietet immer wieder seine Hilfe an. Duchess aber verachtet ihn als Weichei (»für Weiches hatte sie keine Verwen­dung«) und traut ihm nicht zu, in der Gerichts­verhand­lung auch nur das Geringste zur Wahrheits­findung beizu­tragen.

Für eine gewisse Zeit finden die beiden Waisen ein neues Zuhause auf der Farm ihres Groß­vaters in Montana. Hal, Stars Vater, ist ein gedul­diger, einfühl­samer alter Mann, der seine Enkel nie zuvor kennen­gelernt hatte. Während Robin sich einlebt und dafür das Un­verständ­nis der älteren Schwester zu hören bekommt, kann Duchesse dem Großvater nicht verzeihen, dass er die kleine Familie nicht unter­stützt hat – deswegen sei Star gezwungen gewesen, Geld in miesen Bars anzu­schaffen, und zur Süchtigen geworden.

Chris Whitakers vielschichtiger Roman verbindet einen unlösbar scheinen­den Kriminal­fall mit einem tragi­schen Familien­drama. Seine Figuren mit ihren Entwick­lungen, die Handlungs­orte und die an Western erin­nernde Atmos­phäre, in die die Handlung einge­bettet ist, wirken authen­tisch. Was das Buch aber auszeich­net, ist seine emotio­nale Wucht. Insbe­sondere das bewegende fehlge­leitete Seelen­leben der jungen Protago­nistin lässt uns Leser auf dem Weg, den sie unbeirrt verfolgt, nicht los und hält eine besondere Spannung hoch, bis zum bitteren Ende mit seiner unerwar­teten, schmerz­haften Wendung. Ihre unbe­schreib­liche Katharsis erschüt­tert sie und uns zutiefst.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Herbst 2021 aufgenommen.


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Kommentare

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Zu »Von hier bis zum Anfang« von Chris Whitaker wurden 1 Kommentare verfasst:

Annette Radon schrieb am 27.01.2024:

Viel zu viele Leichen, die für den Haupthandlungsstrang völlig überflüssig sind, ein Mord - oder war es doch keiner? - dessen Motiv nie auch nur ansatzweise geklärt wird, Charaktere, die kaum eine Entwicklung durchmachen, und wenn doch, bleibt dem Leser der Einblick ins Seelenleben der Protagonisten verborgen.

Ich habe den Roman zu Ende gelesen, weil ich auf die eine Erklärung, die alle Handlungen und Geschehnisse in ein anderes Licht setzen würde, gewartet habe, auf leider vergeblich.

Kein Lesegenuss, keine Spannung, kein Psychodrama, kein veränderter Blick auf die Welt. Das Lesen dieses Romans war für mich verschwendete Lebenzeit, der Vergleich mit "Der Gesang der Flusskrebse" vollkommen unverständlich!

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