Rezension zu »Wenn eins zum anderen kommt« von Penelope Lively

Wenn eins zum anderen kommt

von


Belletristik · Bertelsmann · · Gebunden · 288 S. · ISBN 9783570101575
Sprache: de · Herkunft: gb

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Leichte Carambolagen

Rezension vom 19.02.2016 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Wenn ein Schmetterling in Brasilien mit seinen Flügeln schlägt, kann das in Texas einen Tornado aus­lösen. So hübsch illustrierte jeden­falls der Chaos­forscher Edward N. Lorenz seine These, dass selbst mini­male Ver­ände­rungen in der Aus­gangs­situa­tion am Ende einer kom­plexen Ent­wicklung zu völlig anderen, unvor­herseh­baren Zuständen führen können.

Im verlässlich geregelten Leben der pensio­nierten Lehrerin Charlotte Rains­ford schlägt eines Tages kein kleiner Schmet­ter­ling, sondern ein Klein­krimi­neller zu. Eines kommt zum andern, die Tage nehmen einen ande­ren Verlauf als üblich, und am Ende stehen neue Be­kannt­schaf­ten, neue Er­kennt­nisse, neue Ein­stellun­gen, neue Auf­träge sowie eine Beinahe-Schei­dung.

Ein Schubs wirft die alte Dame zu Boden. Auf dem Gehweg liegend, sorgt sie sich weniger um die Verlet­zung, die sie beim Sturz davon­getra­gen hat, als um ihre Hand­tasche. Die ist weg, mitsamt Haus­schlüs­sel, Magen­tab­letten, Bank- und Bahn-Card, Kamm und Papier­taschen­tüchern.

Nach Hause gehen, um dort Ruhe zu finden, kann Charlotte nicht. Sie wird ins Kranken­haus gefahren und an der Hüfte operiert. Danach muss sie für einige Wochen zu ihrer Tochter Rose und Schwieger­sohn Gerry ziehen. Das fällt ihr besonders schwer, denn niemals wollte sie jeman­dem zur Last fallen. Hilf­losig­keit und Ab­hängig­keit – das ist der »GAU« für jeman­den wie Charlotte, als starke und autarke Per­sön­lich­keit »aus sieben­und­siebzig motten­zer­fresse­nen Jahren« her­vor­ge­gangen.

Wenn Charlotte auf ihr Leben zurückblickt, begreift sie sich als kom­plexes Produkt einer Sequenz unter­schied­licher Einzel­per­sön­lich­keiten – die junge Mutter, die erfolg­reiche, ange­sehene Lehrerin auf der Kar­riere­leiter, die gute Ehe­frau (jetzt verwit­wet). Sie hat allen Grund, stolz auf sich zu sein. Nur die neueren Versio­nen ihres Selbst machen ihr Kummer. Der Ruhe­stand, weithin als wohl­ver­dientes, er­strebens­wertes Ziel an­ge­sehen, als »be­schau­liche Abend­stim­mung« verklärt, hat Charlotte nichts als Verdruss und Malai­sen gebracht. Aus an­fäng­lichen Zipper­lein sind hand­feste Schmerzen und Defekte geworden, von den Bei­nen bis zu den Augen, vom Gehirn ganz zu schweigen.

Dennoch stand die alte Dame auch im Ruhe­stand nicht still, sondern blieb mitten im Leben tätig, gab Kurse für Aus­län­der und Analpha­beten. In ihrer neuen Unbe­weg­lich­keit ist daran nicht mehr zu denken. Ange­sichts der kargen Auswahl im Hause ihrer Tochter ist sogar ihre Begeis­terung für Bücher und die mor­gend­liche Zei­tungs­lek­türe stark abge­flacht. Lange­weile und ein Gefühl der Nutz­losig­keit machen sich breit. Viel­leicht könnte sie es irgend­wie ein­fädeln, während Roses Arbeits­zeiten private Nach­hilfe­stunden zu geben ...

Tochter Rose ist ihr kein Trost. Sie hat zwar zwei »Pracht­kinder« zur Welt gebracht, ansonsten aber kei­ner­lei Amb­itio­nen. Ihre Büro­tätig­keit für den alten Lord Henry Peters empfin­det Charlotte als per­spek­tiv­loses, läppi­sches Jobben. Doch Charlotte hat sich auf­er­legt, Distanz zu wahren, sich niemals in Roses Le­bens­weg ein­zu­mischen.

Lord Henry, 79, ein kauziger, selbstherrlicher Gentleman, ist eine Art Kontrast­figur zu Charlotte. Während diese mit dem Älter­werden hadert, nimmt er es mit Würde und gestaltet es zweck­mäßig. Die moderne Ob­ses­sion für Jugend­lich­keit ist ihm ein gräss­liches Phäno­men. Ob jung oder alt, er legt Wert darauf, für seine Fähig­keiten anerkannt zu werden.

Allerdings hat Lord Henry die Bodenhaftung verloren. Ohne Netz­siche­rung versteigt er sich in mitt­ler­weile allzu hohe Sphären. Sein »grauen­voller Charme« entfaltet schon lange nicht mehr die eins­tige Wirkung, und auch akade­misch ist der Fach­mann für Robert Walpole nicht mehr ganz auf der Höhe. Sein früher zu­ver­lässi­ges Gehirn gerät ge­legent­lich ins Stottern. Kürzlich hat er sich vor erlesenen Gästen in Man­chester blamiert, als er in einem Routine­vortrag über eins seiner Standard­themen nicht mehr alle Namen und Jah­res­zahlen parat hatte. Jetzt drängt es ihn, seine Re­puta­tion wieder­her­zu­stel­len. Ein TV-Auftritt, am besten ein Serien­format zur Prime­time, wäre das Richtige, um ihn wieder nach oben zu kata­pul­tie­ren.

Ursprünglich hatte ihn sein Faktotum Rose nach Man­chester be­gleiten sollen. Doch der Gehweg-Stoß warf über die Banden namens Charlotte und Rose diese Planung um. Touchiert wird Henrys Nichte Marion (ge­schie­den). Sie erklärte sich bereit, an Roses Stelle ein­zu­sprin­gen, musste dazu aber ein Rende­vouz mit ihrem ver­heira­teten Lieb­haber absagen. Ihre SMS (»Ich schaff's nicht am Freitag [...] Küss­chen«) wurde ver­hängnis­voller­weise von dessen betro­gener Ehefrau ent­gegen­genom­men und löste ihrer­seits sehr un­schöne Kon­sequen­zen aus.

Des einen Leid, des andern Freud'. Marion bringt die spontane Kurz­reise mit dem reichen Erb­onkel einen finanz­starken Zufalls­kontakt ein, der der re­zessions­ge­beu­tel­ten Innen­archi­tektin einen lukra­tiven Auftrag ver­mittelt. Und auch die not­ge­drun­gen daheim ge­blie­bene Rose macht ebenda eine erfreu­liche Be­kannt­schaft mit weit­reichen­den Folgen.

Durch den Schubser auf dem Bürgersteig ging Anton, vor Kurzem aus Ost­europa im­migriert, seiner Abend­kurs­leiterin verlus­tig. Für seinen sozialen Aufstieg vom Bau-Hilfs­arbei­ter zum erlernten Beruf als Buch­halter muss und will der Fünf­zig­jäh­rige aber weiter intensiv Englisch pauken. Charlotte gibt ihm ins­geheim Privat­stunden im Haus ihrer Tochter. Als Rose da­hinter­kommt und den Nach­hilfe­schüler erblickt, fühlt sie sich gleich hin­gezo­gen zu dem armen Schlucker. Was sind Gerry und die »ge­ruh­same Ko­exis­tenz« mit ihm gegen Antons un­wider­steh­liches Lächeln, seine »Augen, die dunkle Wälder in sich bergen, ruri­ta­nische Schlösser, Musik von Janácek oder Bartók«? Es keimt eine gegen­seitige Liebe, die nicht sein darf und keine Zukunft hat, die die beiden dennoch in trauten Spazier­gängen durch Londons Park­an­lagen und Museums­besuchen tugend­haft ausleben.

So kommt eins zum anderen, Charlottes Geschichte und die vieler anderer Figuren, die »so kapriziös ins Rollen gebracht [wurden] von dem, was Charlotte eines Tage auf der Straße zustieß«, bis die Autorin uns zu­zwin­kert, dass sie jetzt mal per »Kunst­griff« ein Ende setzen wird, weil es »befrie­digend und prak­tisch« ist, während die Ge­schich­ten selbst ebenso wie die Zeit weiter­laufen, aus­ein­an­der­drif­ten, getrennte Wege gehen.

Wenn wir das Buch dann nach den letzten Aus­blicken zu­klap­pen, schlägt unser Puls immer noch so schmet­ter­lings­flü­gel­sanft wie am Anfang – von Tornados nir­gend­wo eine Spur. Penelope Livelys Stärke sind die leisen Töne, zarten Hand­lungs­fäden, süffi­santen Bemer­kun­gen, hinter­sinni­gen Kom­men­tare, subti­len Charak­ter­be­obach­tungen. Mit feinem Gespür lässt sie ihre ein wenig aus der Bahn ge­stups­ten Figuren nuancen­reich über ihren Ist-Zu­stand reflek­tieren und sich ab­wägend rück­besin­nen auf die Wege, die hinter ihnen liegen. Sie bewahrt Sym­pathie für ihre Charak­tere, hält aber kriti­sche Distanz zu ihnen und dem, was sie so treiben. An der Ober­fläche machen sie oft einen amü­santen, leicht schrägen Eindruck, doch in ihrem Inne­ren sind alle voller Melan­cholie, als hätten sie ihre Chancen im Leben ver­passt. Dass sich die Zeit weder anhalten noch zurück­drehen lässt, dass sie an bisher unbe­kannte Grenzen stoßen, spüren Charlotte und Lord Henry am un­mittel­bars­ten.

Das Bild vom harmlos flatternden Schmetterling und seinen weit­rei­chen­den Folgen, im Ori­ginal­titel (»How it all began« Penelope Lively: »How it all began« bei Amazon ) und mehr­fach im Roman­verlauf ange­sprochen (Über­set­zung: Maria Andreas), dient Penelope Lively nur als litera­rischer Aufhänger und roter Faden. An­sonsten serviert die für ihr gepflegtes erzähle­risches Werk hoch­geehrte Dame Commander of the Order of the Bri­tish Empire bewährte und aus­giebig gerühmte Unter­haltungs­lite­ratur, intelligent, inhalt­lich und stilis­tisch ein kleines bisschen alt­backen, very traditional, very British.


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