Rezension zu »Il venditore di metafore« von Salvatore Niffoi

Il venditore di metafore

von


Agapitu Vasoleddu, wortgewandt und mit unerschöpflicher Fantasie gesegnet, zieht über die Dorfplätze Sardiniens und unterhält, provoziert, tröstet und belustigt mit seinen originellen, maßgeschneiderten Geschichten das Publikum, je nach dessen Befindlichkeit und Charakter. Ein sprachliches Feuerwerk. Eine zeitlose Erzählung.
Belletristik · Giunti · · 192 S. · ISBN 9788809849174
Sprache: it · Herkunft: it · Region: Sardinien

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Die Kraft der Wörter

Rezension vom 22.01.2018 · noch unbewertet · noch unkommentiert

VR – virtual reality – gilt als Meilenstein auf dem Wege zur Digitalisierung unserer Welt. Entgegen dem Trend, künst­liches Erleben als erstrebens­wert zu glorifi­zieren, feiert Salvatore Niffoi mit seinem neuen Buch die uralte, zutiefst menschliche Tradition des münd­lichen Erzählens.

Erzählen ist eine Fertigkeit, die wie ein Zauber wirkt. Erzählen kann Trost spenden, Freude verdoppeln, Unerträg­liches lindern, Sehnsüchte stillen, Unrecht anprangern, Sorgen beiseite schieben, ein anderes Leben auspro­bieren lassen. Das bemerkt Niffois Protagonist Agapitu Vasoleddu schon früh am eigenen Leib. Während der Junge die Ochsen führt, rezitiert er Homer, Vergil und Dante (keiner weiß, wo er all das gelesen oder gehört hat) und improvisiert die tollsten Geschichten – »un impasto buono di follia e storie mai vissute, un uomo che sudava sogni e se la cantava per non cedere alla tentazione della morte«.

Als 1891 eine Heuschreckenplage sein Heimatdorf Thilipirches überfällt und eine Hungersnot ausbricht (»Carestia Manna«), packt er seine Sieben­sachen und folgt seiner Berufung. Als »Matoforu, il venditore di metafore«, zieht er von Dorf zu Dorf, um die Menschen zu unter­halten. Er stellt seinen Ochsen­karren am Brunnen, unter einem Baum, auf dem Markt ab, setzt sich auf seinen Schemel, nimmt seine berritta ab, bekreuzigt sich und verkündet mit lauter, klarer Stimme, was er bietet: »Storie per grandi e piccini, mille storie in una sola, tutto il mondo in punta di parola!« »Fame e lacrime, riso e vino nero per tutti!« »Avvicinatevi! Avvicinatevi, prego, non perdete questa occasione per ubriacarvi di parole!«Erst trauen sich ein paar Kinder und Frauen heran, skeptisch, ob sie sich auf die Verführung einlassen sollen. Bald ist das ganze Dorf versammelt und wird hineinge­sogen, verschlungen und verzaubert werden von der Kunst des contastorie. Als Lohn erhält er Brot und Wein und Gast­freund­schaft.

Was sind das für Geschichten, die Agapitu Vasoleddu erzählt? Es sind immer andere, denn er passt sie dem an, was er über sein Publikum erfahren hat. Sind die Leute dort geizig, leicht­gläubig, fromm, hat ein Unglück sie heimge­sucht, wurde er zu hohen Herr­schaften oder in ein Kloster, zu einer Hochzeit oder einem Begräbnis eingeladen? Dann erzählt er beispiels­weise von dem alten Toten­gräber, der als letzte Arbeit vor dem Ruhestand die beiden Lieben­den ausgraben soll, die er vierzig Jahre zuvor als seine erste Arbeit beerdigt hatte. Eng umschlungen hatte er sie ins Grab gelegt – und kann sie jetzt nicht mehr finden. Oder von dem unzu­friede­nen Bauern, der lieber Hirte sein will, von dem schlauen Erfinder, der eine Sünden­vergebungs­maschine (»macchina cancella­peccati«) baut, von der Dorfhure und ihrer Tochter, die panische Angst vor Mäusen hat, vom unglück­lichen Zwerg und von »Calamida«, die das Unglück auf sich zog »come cani arrajolati«.

Burleske Komik, tiefe Tragik, pastorale Idylle, geheimnisvolle Magie, schlichte Frömmigkeit, derber Sex, Ironie und Mitgefühl sind die Zutaten, aus denen er seine Geschichten komponiert. Im Mittel­punkt stehen Betrogene, Betrüger und betrogene Betrüger, gewitzte Schwächlinge und kraft­strotzende Dumm­bartel, verführ­bare Ehefrauen und plumpe Verführer, unzufrie­dene Grundbesitzer und glückliche Schafhirten. Agapitu Vasoleddu spielt mit Klischees und Vorur­teilen, die er bestätigt und widerlegt, wie es Situation und Publikum ratsam erscheinen lassen. Manche Geschichten erinnern in Ton und Moral an Johann Peter Hebels »Schatz­kästlein«, andere in ihrer Drastik und Holz­schnitt­artig­keit an Boccaccios »Decamerone«, wieder andere an alte Sagen, aber alle sind originell erfunden und lebhaft ausgestaltet.

Niffoi lässt in seinem eindrucksvollen Buch das ländliche Sardinien der abgelegenen Dörfer aufleben, wie es vielleicht einmal war, wo die Leute arm, stolz und kernig waren, fest verwurzelt in Traditionen, aber erstaunlich beweglich und offen. Auffällig: Die in Literatur und Film über Jahrzehnte themati­sierte Kultur der Banditen, der Ehre und der Rache fehlt hier ganz.

Bald ist Agapitu Vasoleddu bekannt wie ein bunter Hund und gefragt wie heute ein Medien­star. Über all seinen Wande­rungen, Bekannt­schaften und Erleb­nissen wird ihm immer bewusster, dass auch er Bedürf­nisse hat und nicht ewig in einem Ochsen­karren in Begleitung eines alten Hundes herum­vaga­bundie­ren kann. Er erkennt sein Ziel, und dahin führt ihn am Ende sein Weg. Damit ergibt sich eine mehrfach geschach­telte Struktur: Im Inneren zwölf eigenstän­dige Geschichten, zusammen­gebun­den im Rahmen von Agapitus Wander­jahren, und diese wurden wiederum von einem Rahmen­erzähler aufge­schrie­ben, dem Psychiater dottor Mitreddu Branca aus Noroddile. Man hat ihn um diesen Dienst gebeten, damit »nessuno dimentichi che oggi siamo peggio di quello che eravamo ieri, con qualche lusso in più e qualche gioia in meno«.

Dieses wunderbare Buch zu lesen ruft beim Leser Wirkungen hervor, die denen der Zuhörer des »maestro delle parole« nahekom­men. Denn Niffois Stil ist wie schon in seinem Erfolgs­roman »La vedova scalza« [› Rezension] (dt. »Die barfüßige Witwe« [› Rezension]) kräftig, farben­froh und kunstvoll. Sein immenser Wortschatz erlaubt es ihm, alle Register zu ziehen. Exoten, Laut­male­reien, Eigen­schöpfun­gen, Varianten, viele sardische Begriffe (die wichtigsten werden übersetzt) lassen unsere Versuche, im Wörter­buch Aufklärung zu finden, oft ins Leere laufen. Sparen Sie sich also die Mühe, und vertrauen Sie einfach auf Ihr Empfinden im Kontext.

Was Niffoi erzählt, ist nicht an eine Zeit gebunden. Die Themen und Charaktere haben keinen ›Aktualitäts­wert‹. Man könnte dieses Buch als rückwärts­gewandt kritisieren. In Wahrheit ist es eine gelungene Besinnung auf die Kraft der Wörter, die zeitlose Erfahrung lebendigen Erzählens und guten Zuhörens. Es zu lesen ist erheiternd und erfüllend, und es wirft ein Licht auf Sardinien, das dem ansonsten oft gezeich­neten (düster, trist, archaisch, irrational) ein helles Bild der Freund­lich­keit und Lebens­freude entgegen­setzt.

Zum Abschluss als stuzzichini ein paar markante Zitate:

  • »Ma lo sa lei che una storia ben raccontata vale almeno cento volte una storia solo letta? Ogni storia di mannai Nicolosa Longhitta per me è un cinema in diretta, dove vedi, tocchi, senti, annusi, gusti, e tu sei tutti gli attori nello stesso momento, sei il cielo e il mare, la pioggia e il vento, il riso e il pianto, tutto sei!«
  • Viveva con una zia, Dorina Crabizzosa, una donna dalle mani e dal cuore d’oro che quando non lavorava in sartoria si dedicava alla lettura dei libri, che di tempo da sprecare in chiesa non ne aveva. »Sono i libri« ripeteva sempre »che aiutano a vivere meglio e a curare i mali del mondo.«
  • »Perché pare proprio che il tuo destino sia segnato da forti venti e molte tempeste. Non dimenticarlo mai che Dio è la bussola degli uomini!« Matoforu si vestì lentamente, di malumore, perché per come la vedeva lui, a Thilipirches, più che altro Dio la bussola l’aveva persa, e con quella anche la pazienza.
  • »Ajò, ajò! Via dal passato! Correte! Curride, frades meos, correte e guardate avanti!«

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