Rezension zu »Fließsand oder Eine todsichere Anleitung zum Scheitern« von Steve Toltz

Fließsand oder Eine todsichere Anleitung zum Scheitern

von


Belletristik · DVA · · 528 S. · ISBN 9783421046819
Sprache: de · Herkunft: gb

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Pech, Spaß, Irrwitz oder Tragik?

Rezension vom 18.06.2017 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Über fünfhundert Seiten lang fabuliert Steve Toltz atemlos und abgedreht von zwei be­mit­leidens­werten Tröpfen, die eine verbor­gene zynische Schick­sals­macht bade­wannen­weise mit Pech über­schüttet. Die Skurrilität der Situa­tionen und Episo­den und der witzige Erzähl­ton sollen über die Tragik ihrer Vita und die Absur­dität der mensch­lichen Existenz hinweg­hieven.

Liam Wilder, der Ich-Erzähler, wird seit High­school-Tagen von einem heißen Wunsch getrieben: Ein erfolg­reicher Schrift­steller will er sein. Zuspruch erhält er von seinem un­ortho­doxen Kunst­lehrer, der selber nie ein Kunst­werk, wohl aber ein Lehr­buch voller wider­sprüch­licher Rat­schläge zustande gebracht hat. Darin sucht der junge Mann Orien­tierung, um den »erleuch­teten Weg durch die Dunkel­heit« zu finden. Doch die Jahre vergehen, ohne dass Liam etwas zuwege bringt – »ein Leben in der Warte­schleife«. Was er zu exoti­schen Themen (»die Beulen­pest, blinde Passa­giere, Narko­lepsie oder zwei Buck­lige«) oder aus eigener Erfah­rung (»Liebes­abenteuer mit Bisexu­ellen beider­lei Geschlechts«, Jobs, die normaler­weise von illegalen Einwan­derern oder von Häftlingen auf Freigang erledigt werden) nieder­schreibt, findet keine Gnade vor den über­zogenen, unerfüll­baren Ansprüchen, die er an sich selbst und seinen Erstling stellt.

Mit dreißig will Liam – inzwischen verheiratet und Vater einer Tochter – einen letzten Versuch wagen, als Schrift­steller zu reüs­sieren. Einen Plot hat er aus seinen tiefsten persön­lichen Abgrün­den exhumiert: Seine Schwester Molly kam ums Leben, als ein Polizist sie in Aus­übung seines Amtes mit dem Auto über­rollte. Leicht variiert – der Cop als Mörder statt als Unfall­fahrer – findet Liam das ein zün­dendes Konzept. Um den Roman besonders authen­tisch gestalten zu können, besucht er eine Polizei­schule, mit dem Neben­effekt, dass er sich nach sechs­monatiger Aus­bildung als Polizei­beamter in New South Wales quali­fiziert hat. Nichts­desto­weniger lehnen sämtliche Verlage Australiens das daraus erwach­sene Manu­skript ab. Am Ende dieses weiteren tristen Kapitels finden wir Liam, der so gar nichts vom Biss eines Gesetzes­hüters hat, in einem Job, den er ohne Ende hasst.

Mit dem Tag seiner Vereidigung zum Constable Wilder wird Liam zum Dauer­helfer seines alten Schul­freundes Aldo Benja­min, der zweiten Hälfte des Prota­gonisten­duos. Seit der High­school hat Aldo in fünfzehn Jahren nichts als Chaos ange­richtet: unzäh­lige irr­witzige Unter­nehmen gegründet, unermessliche Schuldenberge angehäuft, Gläubiger aller Art auf seine Spur gelockt, kein kriminelles Fettnäpf­chen ausge­lassen. Herunter­gekom­men, von Minder­wertig­keits­komple­xen gequält und von seiner über alles geliebten Stella geschieden, schleppt sich Aldo mühselig durch sein Dasein.

Nur gut, dass er nicht weiß, wieviel Schlimmeres das Schicksal noch für ihn bereit­hält. Er wird Eintags­insek­ten um ihr schnelles, aber sicheres Ende beneiden, er wird sich wünschen, »ent­schaffen« zu werden, er wird nach einer Reihe erfolg­loser Selbst­mord­ver­suche einen doppelt tod­sicheren unter­nehmen. Doch wir ahnen schon: Was sich der Autor für seinen arm­seligen Unglücks­raben an Uner­trägli­chem ausge­dacht hat, sprengt schier unsere Vor­stellungs­kraft. Indes: Alles hat zwei Seiten. Für Liam birgt das Elend des Freundes, der ihm perma­nent Hilfe suchend auf die Pelle rückt, eine erneute Chance, seinen Herzens­wunsch zu reali­sieren und dem unge­liebten Brotjob zu ent­fliehen. Aldo wird zu seiner Muse.

Steve Toltz' Roman »Quicksand« Steve Toltz: »Quicksand« bei Amazon (übersetzt von Klaus Timmer­mann und Ulrike Wasel) hat drei Teile. Im ersten werden die beiden Freunde und ihr absurd-chao­tisches Leben sehr unterhalt­sam prä­sentiert.

Der zweite Teil (»Der Wahn­sinn der Muse«) porträtiert Aldo als »Quer­schnitts­gelähm­ten, den Poeten, den Verge­waltiger, den Mörder, den Religions­unter­nehmer und falschen Pro­pheten«. Im Roll­stuhl vor Gericht, des Mordes und der Verge­walti­gung ange­klagt, schildert er den Ge­schwo­renen seine Lebens­ge­schichte als tragi­schen Prozess, bei dem der sichere Unter­gang bereits vorge­zeichnet schien. Seine end­losen wortge­waltigen, aber­witzigen Mono­loge gehen bis an die Schmerz­grenze, wenn er die Zeiten im Kranken­haus und im Gefäng­nis, seine Nöte und Ängste, seine Selbst­mord­gedan­ken aus­breitet und als letztes Beweis­stück die Nieder­schrift eines Zwie­gesprächs verliest, das er mit einer Stimme, die ihm als eine Art Gott vor­stell­bar wäre, führte. Freilich wittert nicht nur Liam hinter der auf­wändi­gen, live im Inter­net-Stream verbrei­teten Vertei­digungs­insze­nie­rung eine geniale Verkaufs­strategie.

Der dritte Teil (»Eine Seuche von Einzelfällen«) versöhnt mit manch anstren­gender Kost im Mittel­teil. Über­sättigt von vielen Seiten voller über­borden­der Fantasie, aus­ufern­den Szenen und weit­läufigen Philo­sophas­tereien, stößt unser Interesse an natür­liche Grenzen. Doch dann dreht der Autor noch einmal richtig auf und verwir­belt seine Hand­lungs­fäden bis zum Schluss. Aldos »Lebens­vorrat an Ängsten« ist aufge­braucht, befreit lebt er als Eremit auf einem Insel­chen. Scharen skurriler Typen pilgern von über­all herbei, um ihn zu sehen, zu hören oder gar zu berühren. Wenn Stille einkehrt, vernimmt mancher Anbeter ein »fernes Zähne­knir­schen oder unter­drück­tes Schluchzen oder seine an Gott gerich­teten Schmä­hungen«. In Wahr­heit hat Aldo sein Unter­nehmer­tum immer auf dem Schirm.

Unter dem Eindruck von Aldos gequälten Grimassen und dem Funkeln des Bösen in seinen Augen hält Liam seinen Freund mittler­weile für verrückt. Aber als Roman­sujet will er nicht von ihm lassen. Doch da nimmt ihn die schnöde Pflicht ernsthaft in Beschlag: Er muss in einem Mord­fall ermitteln ...

Steve Toltz ist im deutschsprachigen Europa noch unbe­kannt. Mit seinem offen­bar uner­schöpf­lichen Fundus an kreativer Fantasie, sinn­vollen und sinn­freien Ein­fällen, realis­tischen und abge­drehten Handlungs­elemen­ten, all dies von frischer Origina­lität, erzählt mit farben­frohem Ausdruck und durchweht von scharfem Sarkas­mus, hat er das Zeug, um als Geheim­tipp gehandelt zu werden. Leider allzu ver­schwende­risch und unkritisch über­schüttet er seine Leser mit Säcken voller Minia­turen. Nicht wenige von ihnen gehen in der Flut unbe­achtet unter, dabei könnte mancher Autor­kollege jede einzelne zu einem schimmern­den Schmuck­stück heraus­arbeiten. Für Toltz' nächstes Buch würde ich mehr Kon­zentration und Straffung wünschen.


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