Rechtschaffene, Widerspenstige und Tollkühne
Ein rebellischer Geist zeichnet Loretta aus, unter welch repressiven Umständen sie auch immer leben muss. Damit hat sich der amerikanische Autor Shawn Vestal eine bemerkenswerte Protagonistin für seinen Debütroman ausgesucht. Seine zweite gute Wahl ist ihr kulturelles Umfeld, die Mormonen, oder genauer »The Church of Jesus Christ of Latter-Day Saints« (»Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage«). Über diese christliche Gemeinschaft (1830 von Joseph Smith begründet, Hauptsitz in Salt Lake City, Utah, über 15 Millionen Mitglieder weltweit) ist zumindest bei uns wenig bekannt. Junge Mormonen sind gehalten, einen zweijährigen Missionarsdienst zu leisten, und vielleicht sind Ihnen die adretten jungen Männer im schwarzen Anzug schon einmal aufgefallen, denn sie ziehen auch durch europäische Straßen und sprechen Leute an.
Obwohl die Mormonen anderen Religionen und Kirchen immerhin teilweise Wahrheiten zugestehen, sehen sie sich als einzig wahre Kirche. Doch auch innerhalb dieser Gemeinschaft haben sich unterschiedliche Strömungen abgespalten, die die diversen Anpassungen an die Zeitläufte, etwa an die US-Gesetzgebung gegen die Vielehe, nicht mitgehen mochten. In derlei Spannungen gerät die junge Loretta, und Shawn Vestals Roman thematisiert ihre Brisanz und Auswirkungen.
Loretta wächst in Short Creek, Arizona, auf, dem Sitz einer besonders radikalen fundamentalistischen Mormonengemeinde. Es sind die Siebzigerjahre. Lorettas Eltern sind bemüht, den strengen Regeln Folge zu leisten, aber sie praktizieren nicht die Vielehe und gehören nicht zum inneren Kreis der Gemeinde. Dass die »ewige Seele« ihrer spätgeborenen Tochter Loretta Eingang bei diesen »Rechtschaffenen« finde, ist ihr wichtigstes Anliegen, und sie verfolgen es mit strenger Fürsorge.
Doch die Fünfzehnjährige hat ganz andere Vorstellungen von ihrer Zukunft. Vor allem will sie niemals so leben wie ihre Mutter: einem Mann unterworfen, fügsam duldend den Haushalt führend, unter Verzicht auf Freude und Genuss nach Erlösung strebend, um nach bestandener irdischer Prüfung endlich ins Himmelreich zu gelangen.
Loretta kennt extrem diesseitige Alternativen zu ihrer frommen Welt, seit sie dreizehn ist. Wenn sie nachts klammheimlich aus dem Fenster klettert und mit ihrer Freundin herumstromert, reißt sie starke Typen wie den ungestümen, heißblütigen Bradshaw auf, »die der Prophet verbannt hat«. Und sie träumt davon, mit ihm durchzubrennen und all das auszuleben, was ihr bisher verwehrt ist, die Freiheit der modernen Welt zu genießen, wie sie die Lippenstift-Werbung suggeriert, in der ein hübsches Mädchen sich verführerisch auf der Motorhaube eines rosa Ford Mustang räkelt. Aber sie ist realistisch genug, den Ausbruch aufzuschieben, so lange sie nicht einmal Geld hat.
Das Schicksal verordnet dem Mädchen ohnehin einen gegensätzlichen Weg. Ihre nächtlichen Eskapaden fliegen auf, der Vater lehrt die »widerspenstige Hure« Mores, die Mutter trägt seine Sanktionen (Prügel, Arrest) mit. Um ihre gefährdete Seele zu retten, soll ein rechtschaffener, gläubiger Mann Loretta bei sich aufnehmen: Dean Harder. Der betreibt einen gut gehenden Lebensmittelhandel, ist mit der »Schwesterehefrau« Ruth, 41, »versiegelt« und zieht mit ihr sieben gemeinsame Kinder groß. Als Loretta sechzehn Jahre alt ist, nimmt Dean sie gemäß dem Grundsatz des Propheten als zweite Ehefrau. Loretta fügt sich widerstandslos, doch sie bewahrt sich ihren Plan, eines Tages abzuhauen.
Der zweite Erzählstrang des Romans stellt uns eine liberalere mormonische Gemeinschaft vor, wo man Polygamie und altmodische Kleiderordnung ablehnt. Hier, in Gooding, Idaho, leben Dean Harders siebzehnjähriger Neffe Jason Harder und dessen Großvater. Der gehört zwar dem Hohen Rat der Gemeinde an, aber er weiß: »Die Regeln sind die Regeln sind die Regeln und die ewigen Wahrheiten unveränderlich, doch innerhalb der Bruderschaft der Menschen gibt es Durchlässe und Umgehungen, Geheimnisse und Ausnahmen.« In seiner Jugend ist er Motorradrennen gefahren und teilt daher die Begeisterung seines Enkels für den legendären Draufgänger Evel Knievel, der auf dem Motorrad schon die tollkühnsten Sprünge gewagt hat und sich bald mit einer Dampfrakete über den Snake River Canyon katapultieren will. Gerne würde Jason dabei sein, doch ihn plagen Skrupel, weil er damit gegen die Sabbatruhe verstoßen würde. Grandpa aber raunt ihm zu, »ein bisschen Unfug ist gut für die Seele«, und dann fahren beide im alten Pickup zum Schauplatz des sensationellen Nervenkitzels.
Die beiden Erzählstränge, die konträren Harder-Familienzweige und ihre unterschiedlichen Lebensauffassungen treffen mit Grandpa Harders Tod unsanft aufeinander. Für Jasons Eltern war Deans Extremismus stets ein »peinlicher Dorn« und ein Tabuthema gewesen – jetzt steht der ganze Tross auf einmal vor der Tür, fremde Erscheinungen, als wären sie »gerade aus dem Jahr 1875 eingetroffen«, und nistet sich dauerhaft in Grandpas Haus ein. Beim gemeinsamen Essen wahrt man den Frieden, aber ansonsten weicht man sich aus und beobachtet aus der Ferne, was sich auf dem anderen Hof so tut.
Einzig Loretta, die scharfe Cousine, fällt aus dem Rahmen. Jason erkennt ihre Lage, will nicht zulassen, dass sie ihr Leben so reduziert fristen soll, und findet mit dieser Aufgabe zu sich selbst. Ursprünglich ein gehorsames Weichei mit Versagertendenz, wächst er, inspiriert und motiviert durch sein wagemutiges Idol und dessen Mut und Zuversicht verkündende Medien-Botschaften, zu einem Mann der Tat und Lorettas Retter.
Der berühmte Motorrad-Stuntman Evel Knievel (1938-2007) wirkt nicht nur als ferner Mentor oder Katalysator, sondern tritt als Werte setzender handelnder Charakter auf. Mehrfach wendet sich der prominente Verfechter der grenzenlosen Freiheit des Individuums »an eine begeisterte Nation«, feiert das Risiko, berichtet von den Vorbereitungen zu seinen tolldreisten, lebensgefährlichen Spektakeln vor sensationsgierigem Publikum, seiner Motivation, seinen Emotionen, seinen Adrenalinschüben und seinem häufigen Scheitern. Zwei Mal begegnet Jason dem Helden persönlich und bekommt sogar kurz seine knochige Hand zu fassen, bevor er die Startrampe am Canyon betritt und alles in »Gottes Hand« liegt.
Shawn Vestal ist ein inhaltlich aufschlussreicher und sprachlich ansprechender Roman gelungen. (Verena Kilchling hat »Daredevils« aus dem Amerikanischen übersetzt.) Er vermittelt auf unterhaltsame Weise und in flotter Sprache die so andersartige Welt der Mormonen, ihren engen ländlichen Alltag jenseits allen Konsums und aller Moderne und ihren ganz auf das Jenseits ausgerichteten Glauben. Indem er zwei widerstreitende Ausrichtungen vorstellt, relativiert er die beiden Positionen, ohne sein eigenes Urteil durchscheinen zu lassen oder den pädagogischen Zeigefinger zu erheben.
Den erzählerischen Schlusspunkt setzt die aus mehreren Perspektiven ausgeleuchtete Nacht-und-Nebelaktion, in der die jungen Protagonisten aus Gooding fliehen. Für die Titelheldin eröffnet sich die Aussicht auf die ersehnte Freiheit – wie es ihr auf längere Sicht ergeht, muss offenbleiben. Vielleicht so gut wie dem Autor? Der wurde (1966) selbst in Gooding geboren und trat als junger Mann aus der Mormonen-Kirche aus.