Rezension zu »Loretta« von Shawn Vestal

Loretta

von


Belletristik · Kein & Aber · · 400 S. · ISBN 9783036957456
Sprache: de · Herkunft: us

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Rechtschaffene, Widerspenstige und Tollkühne

Rezension vom 29.06.2017 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Ein rebellischer Geist zeichnet Loretta aus, unter welch repres­siven Umständen sie auch immer leben muss. Damit hat sich der amerika­nische Autor Shawn Vestal eine bemer­kens­werte Protago­nistin für seinen Debüt­roman ausge­sucht. Seine zweite gute Wahl ist ihr kultu­relles Umfeld, die Mormo­nen, oder genauer »The Church of Jesus Christ of Latter-Day Saints« (»Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage«). Über diese christ­liche Gemein­schaft (1830 von Joseph Smith begründet, Haupt­sitz in Salt Lake City, Utah, über 15 Millionen Mit­glieder weltweit) ist zumin­dest bei uns wenig bekannt. Junge Mormo­nen sind gehalten, einen zwei­jährigen Missionars­dienst zu leisten, und vielleicht sind Ihnen die adretten jungen Männer im schwarzen Anzug schon einmal aufge­fallen, denn sie ziehen auch durch europä­ische Straßen und sprechen Leute an.

Obwohl die Mormonen anderen Religionen und Kirchen immerhin teil­weise Wahr­heiten zuge­stehen, sehen sie sich als einzig wahre Kirche. Doch auch inner­halb dieser Gemein­schaft haben sich unter­schied­liche Strömun­gen abge­spalten, die die diversen Anpas­sungen an die Zeit­läufte, etwa an die US-Gesetz­gebung gegen die Vielehe, nicht mit­gehen mochten. In derlei Spannun­gen gerät die junge Loretta, und Shawn Vestals Roman thema­tisiert ihre Brisanz und Auswir­kungen.

Loretta wächst in Short Creek, Arizona, auf, dem Sitz einer besonders radi­kalen funda­mentalis­tischen Mormonen­gemeinde. Es sind die Sieb­ziger­jahre. Lorettas Eltern sind bemüht, den strengen Regeln Folge zu leisten, aber sie prakti­zieren nicht die Vielehe und gehören nicht zum inneren Kreis der Gemeinde. Dass die »ewige Seele« ihrer spät­gebore­nen Tochter Loretta Eingang bei diesen »Recht­schaffenen« finde, ist ihr wichtigstes Anliegen, und sie verfolgen es mit strenger Fürsorge.

Doch die Fünfzehnjährige hat ganz andere Vorstellungen von ihrer Zukunft. Vor allem will sie niemals so leben wie ihre Mutter: einem Mann unter­worfen, fügsam duldend den Haushalt führend, unter Verzicht auf Freude und Genuss nach Erlösung strebend, um nach bestan­dener irdischer Prüfung endlich ins Himmel­reich zu gelangen.

Loretta kennt extrem diesseitige Alternativen zu ihrer frommen Welt, seit sie dreizehn ist. Wenn sie nachts klamm­heimlich aus dem Fenster klettert und mit ihrer Freundin herum­stromert, reißt sie starke Typen wie den unge­stümen, heiß­blütigen Bradshaw auf, »die der Prophet verbannt hat«. Und sie träumt davon, mit ihm durchzu­brennen und all das auszu­leben, was ihr bisher verwehrt ist, die Freiheit der modernen Welt zu genießen, wie sie die Lippen­stift-Werbung suggeriert, in der ein hübsches Mädchen sich verführe­risch auf der Motor­haube eines rosa Ford Mustang räkelt. Aber sie ist realistisch genug, den Ausbruch aufzu­schieben, so lange sie nicht einmal Geld hat.

Das Schicksal verordnet dem Mädchen ohnehin einen gegen­sätzlichen Weg. Ihre nächt­lichen Eskapaden fliegen auf, der Vater lehrt die »wider­spenstige Hure« Mores, die Mutter trägt seine Sank­tionen (Prügel, Arrest) mit. Um ihre gefähr­dete Seele zu retten, soll ein recht­schaffe­ner, gläubi­ger Mann Loretta bei sich aufnehmen: Dean Harder. Der betreibt einen gut gehenden Lebens­mittel­handel, ist mit der »Schwester­ehefrau« Ruth, 41, »versiegelt« und zieht mit ihr sieben gemein­same Kinder groß. Als Loretta sechzehn Jahre alt ist, nimmt Dean sie gemäß dem Grund­satz des Propheten als zweite Ehefrau. Loretta fügt sich wider­stands­los, doch sie bewahrt sich ihren Plan, eines Tages abzu­hauen.

Der zweite Erzählstrang des Romans stellt uns eine liberalere mormo­nische Gemein­schaft vor, wo man Polygamie und altmodi­sche Kleider­ordnung ablehnt. Hier, in Gooding, Idaho, leben Dean Harders sieb­zehn­jähriger Neffe Jason Harder und dessen Großvater. Der gehört zwar dem Hohen Rat der Gemeinde an, aber er weiß: »Die Regeln sind die Regeln sind die Regeln und die ewigen Wahr­heiten unver­änder­lich, doch inner­halb der Bruder­schaft der Menschen gibt es Durch­lässe und Umgehun­gen, Geheim­nisse und Aus­nahmen.« In seiner Jugend ist er Motorrad­rennen gefahren und teilt daher die Begeis­terung seines Enkels für den legen­dären Drauf­gänger Evel Knievel, der auf dem Motor­rad schon die toll­kühnsten Sprünge gewagt hat und sich bald mit einer Dampf­rakete über den Snake River Canyon kata­pultie­ren will. Gerne würde Jason dabei sein, doch ihn plagen Skrupel, weil er damit gegen die Sabbat­ruhe verstoßen würde. Grandpa aber raunt ihm zu, »ein biss­chen Unfug ist gut für die Seele«, und dann fahren beide im alten Pickup zum Schau­platz des sensatio­nellen Nerven­kitzels.

Die beiden Erzählstränge, die konträren Harder-Familien­zweige und ihre unter­schied­lichen Lebens­auffassun­gen treffen mit Grandpa Harders Tod unsanft auf­ein­ander. Für Jasons Eltern war Deans Extremis­mus stets ein »pein­licher Dorn« und ein Tabu­thema gewesen – jetzt steht der ganze Tross auf einmal vor der Tür, fremde Erschei­nungen, als wären sie »gerade aus dem Jahr 1875 einge­troffen«, und nistet sich dauer­haft in Grandpas Haus ein. Beim gemein­samen Essen wahrt man den Frieden, aber ansonsten weicht man sich aus und beob­achtet aus der Ferne, was sich auf dem anderen Hof so tut.

Einzig Loretta, die scharfe Cousine, fällt aus dem Rahmen. Jason erkennt ihre Lage, will nicht zulassen, dass sie ihr Leben so reduziert fristen soll, und findet mit dieser Aufgabe zu sich selbst. Ursprüng­lich ein gehor­sames Weichei mit Versager­tendenz, wächst er, inspiriert und motiviert durch sein wage­mutiges Idol und dessen Mut und Zuver­sicht verkün­dende Medien-Bot­schaften, zu einem Mann der Tat und Lorettas Retter.

Der berühmte Motorrad-Stuntman Evel Knievel (1938-2007) wirkt nicht nur als ferner Mentor oder Kataly­sator, sondern tritt als Werte setzender handelnder Charakter auf. Mehrfach wendet sich der prominente Ver­fechter der grenzen­losen Freiheit des Indivi­duums »an eine begeis­terte Nation«, feiert das Risiko, berichtet von den Vorbe­reitungen zu seinen toll­dreisten, lebens­gefähr­lichen Spektakeln vor sensations­gierigem Publi­kum, seiner Motiva­tion, seinen Emo­tionen, seinen Adrenalin­schüben und seinem häufigen Scheitern. Zwei Mal begegnet Jason dem Helden persön­lich und bekommt sogar kurz seine knochige Hand zu fassen, bevor er die Start­rampe am Canyon betritt und alles in »Gottes Hand« liegt.

Shawn Vestal ist ein inhalt­lich auf­schluss­reicher und sprach­lich anspre­chen­der Roman gelungen. (Verena Kilch­ling hat »Daredevils« Shawn Vestal: »Daredevils« bei Amazon aus dem Ameri­kani­schen übersetzt.) Er vermittelt auf unterhalt­same Weise und in flotter Sprache die so anders­artige Welt der Mormo­nen, ihren engen länd­lichen Alltag jenseits allen Konsums und aller Moderne und ihren ganz auf das Jenseits ausge­richte­ten Glauben. Indem er zwei wider­streitende Aus­richtun­gen vorstellt, relati­viert er die beiden Posi­tionen, ohne sein eigenes Urteil durch­scheinen zu lassen oder den pädago­gischen Zeige­finger zu erheben.

Den erzähleri­schen Schluss­punkt setzt die aus meh­reren Perspek­tiven ausge­leuch­tete Nacht-und-Nebel­aktion, in der die jungen Prota­gonis­ten aus Gooding fliehen. Für die Titel­heldin eröffnet sich die Aussicht auf die ersehnte Freiheit – wie es ihr auf längere Sicht ergeht, muss offen­bleiben. Vielleicht so gut wie dem Autor? Der wurde (1966) selbst in Gooding geboren und trat als junger Mann aus der Mormonen-Kirche aus.


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