Vom Glück auf den Streuobstwiesen
Gräfin Hildegard von Kamcke ergeht es nicht besser als Tausenden anderer im Winter 1945. Bevor die Russen kommen, hat sie mit ihren beiden Kindern ihren repräsentablen Gutshof in Masuren verlassen, um nach Westen zu fliehen. Nur die junge Mutter und die fünfjährige Vera überleben den entbehrungsreichen Treck über die zugefrorene Ostsee; der kleine Sohn erfriert unterwegs. Das Bild des zurückbleibenden Kinderwagens mit dem toten Baby darin und die Vorstellung, dass er im Tauwetter des Frühjahrs in der offenen See versinken würde, ist eins der vielen Päckchen, die Vera zeitlebens wird tragen müssen.
Entkräftet, verlaust und nahezu verhungert erreichen Hildegard und Vera einen Fachwerkhof im Alten Land, nordwestlich von Hamburg, südlich der Elbe gelegen. Willkommen sind sie nicht, denn das Haus ist schon voll. »Woveel koomt denn noch vun jau Polacken?«, herrscht Ida Eckhoff, »Altländer Bäuerin in sechster Generation«, die Neuankömmlinge an, und damit sind die Fronten zwischen den beiden Frauen von Anfang an geklärt. Das Feuer ist eröffnet.
Ida verweist die Dame und das Kind in die »eiskalte Gesindekammer«. Hildegard ersucht höflich, aber entschieden um etwas zu essen für ihre Tochter. Ida schmettert ab: »Von mi gift dat nix!« Die Gräfin, geübte Sängerin mit dreihundert Jahre altem Stammbaum im Rücken, kontert subtiler. Spöttisch lächelnd stimmt sie eine Arie aus dem »Zigeunerbaron« an: »Ja, das Schreiben und das Lesen / Ist nie mein Fach gewesen, / Denn schon von Kindesbeinen / Befasst' ich mich mit Schweinen ...« Dem weiß Ida nichts Adäquates entgegenzusetzen. Schließlich bedient sich Hildegard einfach selbst im Kuhstall und beim Obst.
Wut, Hass und Rivalität, aber auch Respekt bestimmen fortan die täglichen Scharmützel zwischen den zwei stolzen und ebenbürtigen Frauen. Die ostpreußische Adlige tritt standesbewusst und zackig auf, doch Müßiggang kennt sie nicht. Sie schuftet wie ein Mann, schwingt im Kuhstall die Forke und trällert dabei Mozart-Arien. Dafür zollt Ida Eckhoff ihr bisweilen mit kleinen wortlosen Gesten Anerkennung.
Auch Ida hat ihr Päckchen zu tragen. Acht Jahre zuvor war ihr Ehemann in einem Entwässerungskanal ertrunken. Ihr Sohn Karl, der hoffnungsvolle Hoferbe, ist in Gefangenschaft. Als er zwei Jahre nach Kriegsende heimkehrt, hat er ein steifes Bein und ist nervlich zerrüttet. In den Nächten schreit er und macht ins Bett, tagsüber hockt er auf der Bank, schaut über die Felder mit den unzähligen Obstbäumen, pfeift ein Liedchen, bläst schöne runde Rauchkringel in die Luft.
Freude findet Karl an der kleinen Vera, die ebenso energisch wie ihre Mutter auftritt. Laut grölend stampft sie in der Sommerhitze durch die Kirschbaumreihen und drischt »wie ein aufziehbarer Trommelaffe« mit einem Holzlöffel auf einen Kochtopf ein, um die dreisten Stare zu verscheuchen. Karl versorgt das Mädchen mit Brot und Milch und trocknet ihr das verschwitzte Gesicht. Auch Hildegard beeindruckt ihn durch ihre aufrechte Haltung und ihren Gesang. Für die Ambitionen der ehemaligen Gutsherrin öffnen sich damit neue Wege. Im Winter darauf sitzt die »hergelaufene Gräfin mit ihrem ewig hungrigen Kind« mit der Bäuerin am großen Esstisch in der guten Stube, und im nächsten Herbst »zog Ida Eckhoff auf ihr Altenteil und hatte eine Schwiegertochter, die sie achten konnte und hassen musste«.
»Zwei Frauen, ein Herd, das war noch niemals gut gegangen«, und so toben die Schlachten unablässig weiter. Vera pendelt möglichst still und unauffällig zwischen den Fronten, spricht hier plattdeutsch und dort hochdeutsch. Karl lebt friedlich in seiner eigenen Welt inmitten des stürmischen Getöses. Der Konflikt eskaliert, als Hildegard einen riesigen, zweihundert Jahre alten Eichenschrank wegschaffen lässt, um Platz für ein Klavier zu machen. Während Hildegard triumphierend »Alla turca« in die Tasten haut, zieht ihre Gegnerin ihre schönste Tracht an und erhängt sich auf dem Dachboden. Vera, die ein Rumpeln gehört hat, schleicht die Treppe hoch und findet Oma Ida, die »in der Luft zu tanzen« scheint ...
Dörte Hansens Debütroman »Altes Land« beeindruckt von Anbeginn durch starke, außergewöhnliche Charaktere, die sich, verschärft durch die extremen Zeitumstände, in tiefster Rivalität ineinander verbeißen und nicht loslassen können, bis der Kampf entschieden ist. So erschütternd die Handlung, so trocken erzählt sie die Autorin, kurz und bündig, schmucklos, treffsicher. Unter der Oberfläche allerdings lauern bissiger Humor, bittere Ironie.
Mit Idas Tod könnte Hildegards Siegeszug enden, doch da geht die Familiensaga erst richtig los. Das Interesse der Gräfin scheint verpufft, wo alle Widerstände sich aufgelöst haben und kein Ziel mehr lockt. Sie lässt ihr Kriegskind Vera bei Karl zurück und schafft qua Heirat mit einem reichen Architekten – »nicht von Stand, alles nicht ganz comme il faut, aber beinahe« – den Einstieg in Hamburgs bessere Kreise. Aus der neuen Ehe geht die Tochter Marlene (Veras Stiefschwester) hervor. Sie wird die Familie in die nächste Generation und bis in die Jetztzeit führen.
Vera dagegen bleibt in gewisser Weise heimatlos, vermag nirgendwo Wurzeln zu schlagen. Einen dauerhaften Partner findet sie nie. Sie studiert Zahnmedizin und praktiziert den Beruf, wohnt aber, da sie sich um den bald pflegebedürftigen Karl kümmert, auf dem Hof. Im Dorf wird sie toleriert und anerkannt, gilt aber immer als etwas merkwürdig geratenes Flüchtlingskind. Da sie keine wirkliche Bäuerin ist, verwahrlost ihr Anwesen im Lauf der Jahre.
Marlenes Tochter Anne (Hildegards Enkelin und Veras Nichte) ist die Protagonistin des zweiten Hauptteils der Handlung, der in unseren Tagen spielt und überraschende neue Töne anschlägt. Zwar trägt Anne die Liebe ihrer Großmutter zur Musik in sich, doch ihr mittelmäßiges Talent lässt ihr keine Chance, die hochgestochenen Erwartungen ihrer ambitionierten Mutter zu erfüllen. Sie bricht ihr Musikstudium ab, kehrt aber nach dem Intermezzo einer Tischlerlehre zur Musik zurück. Leider reicht es nur für einen ungeliebten Job bei der privaten Musikschule »Musimaus«.
Die Schilderungen aus diesem Institut für kulturbeflissene Wohlstandsbürger gehören zu den Sahnestückchen in Dörte Hansens thematischer und stilistischer Vielfalt. Weitab der bedrückenden Flüchtlingsproblematik teilt die Autorin hier amüsante Spitzen aus. Zum »Musimaus«-Schnuppertag kommen Eltern, um ihre drei- bis fünfjährigen Sprösslinge »einfach die FREUDE an der Musik« erspüren zu lassen. »Spielerisch«, die Maxime des Frühförderungskonzepts, kommt den Erwartungen der Interessenten entgegen, von denen keiner verprellt werden darf.
Anne hasst diesen Tag, an dem sie mit ihrem Kollegium die »Rattenfänger-Nummer« abziehen muss. Wem fiele es nicht schwer, die Contenance zu wahren, wenn ein vollgesabberter Dreijähriger mit schaumnassem Kindermund voller Waffelresten seine klebrigen Fingerchen nach der eigenen kostbaren Sopranflöte C ausstreckt und die Mutter (geringelte Strumpfhose, geblümtes Tuch im Haar) ihr Herzchen zum finalen Zugriff ermuntert (»Möchtest du da mal reinpusten?«)?
An anderer Stelle kriegt die hanseatische Ausprägung der Ökowelle ihr Fett weg, und da beißt Dörte Hansens Sarkasmus bitterböse zu. Während bunte Hochglanzmedien das idyllische Landleben propagieren, fliehen stadtsatte Akademiker – »Ausgemusterte« und »gesellschaftliche Ladenhüter, die auf dem Bauernmarkt noch einmal durchstarten wollten« – visionsbeladen aus der Millionenstadt in die Provinz. »Verspannte Großstadt-Elsen mit ihren Sinnkrisen quengelten um marode Reetdachhäuser wie ihre Töchter früher um ein Pony«. Sie kaufen und renovieren für ein Schweinegeld alte Höfe (»Backstein-Ruinen«), legen Bauerngärten und Streuobstwiesen an, um in ihren »Manufakturen« Gelee aus alten Apfelsorten zu köcheln. Wer dann noch immer nicht ausgelastet oder kuriert ist, kauft Schafe und produziert eigenen Käse.
Derweil kämpfen die professionellen Obst-Bauern im malerischen Alten Land, um in einer knallharten Bio-Industrieszene Erträge und Rentabilität ihrer Höfe zu sichern. Dirk zum Felde, diplomierter Landwirt, ist einer von ihnen. Auf seinem Traktor fährt er verbittert mitten durch das »Freilichtmuseum« um ihn herum und verstäubt »das böse Gift auf die armen, armen Bäume«. Von den »Sinnsuchern« und »Öko-Missionaren«, die ihn als »Bauern-Bimbo« verachten, hat er die »Schnauze voll«.
In diesem Spannungsfeld lebt Anne mit ihrem Christoph und Söhnchen Leon (im Buggy-Alter) und kommt ebenso wenig zur Ruhe wie ihre ver- und getriebenen Vorfahren. Als sie von »Musimaus« und Christoph (der schon eine andere hat) bedient ist, lässt sie alles hinter sich und zieht bei Vera in die Altenteilerwohnung ein. Sie meint, sich als Tischlerin auf dem verlotterten Hof nützlich machen zu können, aber die Tante würde am liebsten alles beim Alten lassen – bloß keine Neuerungen, bloß nichts kaputtmachen, was so lange gehalten hat.
Der große Handlungsbogen über sieben Jahrzehnte wird mit Sprüngen zwischen den Zeitebenen, Rückblenden und vielen zeitkritischen Episödchen (inklusive mancher Überzeichnung und manchen Klischees) erzählt; am Ende ergibt sich das ganze Bild der Familiengeschichte und der Verwandlung des Alten Landes. Wie ein Leitmotiv steht über allem die Giebelinschrift des Eckhoff-Hofes aus dem 18. Jahrhundert: »Dit Huus is mien un doch nich mien, de no mi kummt, nennt't ook noch sien«. Der Kreis schließt sich, indem es Marlene zu ihren Wurzeln zieht. Gemeinsam mit ihrer Tochter Anne reist sie nach Masuren, um herauszufinden, was noch geblieben sein mag vom stolzen Anwesen der von Kamcke.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2015 aufgenommen.