Rezension zu »Eisiges Land« von Tore Kvæven

Eisiges Land

von


Wie konnten die Wikinger im Mittelalter auf Grönland überleben, und wer waren sie eigentlich? Diese Fragen behandelt Tore Kvævens Roman, indem er den Lebensweg eines klugen, mutigen jungen Mannes schildert, der sich nicht abfinden mag mit widrigen Bedingungen und uralten Sippenstreitigkeiten.
Historischer Roman · Piper · · 544 S. · ISBN 9783492072359
Sprache: de · Herkunft: no

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Eine untergegangene, unvergessene Kultur

Rezension vom 09.03.2024 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Grönland ist die größte Insel der Erde, mit rund 2,2 Millionen Quadrat­kilo­metern etwa so groß wie das ganze west­europä­ische Festland von Portugal und Sizilien bis an die Grenzen zu Dänemark, Polen und die Slowakei. (Die bei uns üblichen Welt­karten in Mercator-Projek­tion bilden die nörd­lichste Land­fläche der Welt aller­dings wegen der sphäri­schen Verzer­rung noch viel gewal­tiger ab, als sie ohnehin ist.) Die nicht einmal 60.000 Einwohner leben an den Fjorden der Küste, haupt­sächlich im Westen. Zur Besied­lungsge­schichte des Landes liegen kaum gesi­cherte Erkennt­nisse vor, denn es sind nur wenige Artefakte wie Reste von Hütten erhalten, alle schrift­lichen Quellen wurden außerhalb Grönlands verfasst, die Über­liefe­rungen in den berühmten nordi­schen Helden­sagen sind natur­gemäß unzuver­lässig, Namen, deren Bedeu­tungen und bezeich­nete Orte lassen nur Vermu­tungen zu.

Offenbar haben seit über viertausend Jahren immer wieder Wellen kühner Inuit-See­fahrer aus Alaska und Kanada die Insel ange­steuert und sich nieder­gelas­sen, um Robben, Rentiere und Moschus­ochsen zu jagen. Dann wurden die Sied­lungen wieder aufge­geben, das Land blieb für Jahr­zehnte und Jahr­hun­derte sich selbst über­lassen, bis neue Gruppen kamen und gingen. Eine bedeu­tende Wende brachte im 10. Jahr­hun­dert n. Chr. die Zuwan­derung von Nord­euro­päern, speziell von rebelli­schen Islän­dern wie Erich dem Roten, der 984 dorthin verbannt wurde und das Land Græn­land, seine eigenen Leute Græn­lendin­gar und die dort ange­troffe­nen Inuit-Urein­wohner Skræ­lingar nannte. Die neuen Sied­lungen trieben regen Handel mit Amerika und Nor­wegen, und ihre Kultur blühte bis ins 15. Jahr­hundert. Schon Leif Eriksson (Sohn Erichs des Roten) hatte das Christen­tum einge­führt und gilt, seit er auf der Insel Vinland (einem Teil Neufund­lands) landete, als erster Europäer, der ame­rikani­schen Boden betrat.

Diese wagemutigen Besiedler Grönlands nannten sich selbst Wikinger, in etwa »See­fahrer auf Raub­zug«. Sie definier­ten sich also nicht als Volk im ethni­schen Sinne, sondern als stolze Gruppe, die sich von den gefes­tigten Gesell­schafts­ordnun­gen ihrer skan­dinavi­schen Her­kunfts­länder und deren ehren­werten Formen des Brot­erwerbs absetzte. Als verwegene Naviga­toren auf innova­tiven Schiffs­typen waren sie sehr erfolg­reiche Ent­decker neuer Seewege und unbe­kannter Küsten und etab­lierten stabile Handels­beziehun­gen. Erst 1261 erklärten sie sich Nor­wegen zuge­hörig. Im 14. Jahr­hun­dert ließen die Handels­verbin­dungen nach, ver­schwan­den im 15. Jahr­hundert ganz, und die Sied­lungen in Grönland wurden aufge­geben. Die Gründe für diesen Nieder­gang sind bis heute nicht ganz geklärt, aber die Kultur der Wikinger hat ihre Faszi­nation durch die Zeiten bewahrt.

Der norwegische Autor, Schaf­züchter und Lehrer Tore Kvæven (*1969) hat bereits 2018 einen außer­gewöhn­lichen Roman ver­öffent­licht, der seiner Leser­schaft einen Eindruck ver­schaffen kann, wie das Leben der Wikinger auf Grönland ausge­sehen haben könnte. In Norwegen mit zahl­reichen Preisen ausge­zeichnet, ist das Buch jetzt für den Piper-Verlag von Andreas Brunster­mann und Gabriele Haefs ins Deutsche über­setzt worden.

Die Handlung setzt 1293 ein, als Zeichen des Ab­schwungs bereits erkennbar wurden. Viel­leicht bezieht sich der Original­titel des Romans auf diesen Aspekt: »Når landet mørknar« (»Wenn das Land dunkler wird«). Es fehlt an Holz zum Schiffs­bau, Walrösser – die wert­volls­ten Beute­tiere – lassen sich nur noch ver­einzelt blicken, die einst regen Handels­kontakte mit Norwegen und Island versiegen. Die Menschen leben von ihrem Vieh­bestand, aber dessen Erträge sind auf den kargen, während der langen Winter gefro­renen Böden gering. Blutige Aus­ein­ander­setzun­gen zwischen den Sippen um Macht und knappe Ressour­cen sowie gegen die aus Norden vor­dringen­den Inuit fordern Todes­opfer. Mut und neue Ideen sind nötig, soll das drohende Ende der Wikinger auf Grönland abge­wendet werden.

In einer kleinen Siedlung an der Südspitze der riesigen Insel lebt Arnar, der fünf­zehn­jährige Prota­gonist. Der Sohn eines Berg­bauern sieht mit großer Spannung seiner ersten Teilnahme an einer Walross­jagd entgegen, seit sich nach vielen Jahren erstmals wieder dreißig der Tiere in den Fjord gewagt haben. Hûnvarg, der gerade erwachsen gewordene Sohn von Hafgrim, dem »Gesetzes­verkünder«, hat sie entdeckt, und nun werden alle Bewohner der Umgebung infor­miert. Für jeden Mann gilt gleiches Jagdrecht, und wenn sich alle zu­sammen­schlie­ßen, können ihnen die »Geschöpfe des Wohl­standes« mit ihrem Fleisch, Speck, Öl und Elfenbein genug Ertrag bringen, um den harten Winter zu über­stehen.

Der Frieden in der Gemeinschaft steht freilich auf tönernen Füßen. Uralte, doch unver­gessene Streitig­keiten gefährden jedes Zweck­bündnis. Zwei­hundert Jahre ist es her, dass der Vorfahr von Himin-Gorm, des Häupt­lings von den Odins­höfen, all jene, die dem neuen Christen-Gott folgen wollten, des Verrats bezich­tigt hat. Auf dem »Thing­stein« drohte er ihnen, »er würde sie tot­schlagen lassen«, wenn sie sich fortan nicht von seinem Herr­schafts­gebiet fern­halten. So zerbra­chen die Freund­schaften zwischen den umlie­genden Berg­dörfern, und selbst zur gemein­samen Jagd kommen die Bewohner der Odinshöfe und der Fjordhöfe als Erzfeinde. Jeder spürt, dass nicht allein reiche Walross­beute auf dem Spiel steht.

Die drei größten Boote werden von dem selbstbe­wussten Himin-Gorm (einem wahren »Ungetüm«) und seinen Männern gerudert. Unbeein­druckt nehmen der furcht­lose, zuver­sicht­liche Arnar und sein kräftiger Knecht Sel-Flokke auf den Bänken eines Bootes von den Fjord­höfen Platz. Weitere Boote werden zu Wasser gelassen, teilweise wenig Vertrauen erweckend mit Robben­haut und Treib­holz­stücken geflickt. Beim sogleich einset­zenden Wett­rudern setzen sich, vom Hass befeuert, zwei Boote an die Spitze: das der Himin-Gorm-Sippe und das der Hafgrim-Sippe. Die verfolg­ten Tiere wehren sich mit ihren eigenen Mitteln. Unbe­rechen­bar tauchen sie ab, schießen wieder hoch, teilen sich auf, wenden unver­mittelt ihre Richtung, verwirren damit die trägen Boote, die im Chaos unver­meid­lich zusam­men­stoßen.

Der Autor setzt gleich zu Anfang und leit­moti­visch immer wieder ein eindring­liches Stil­mittel ein: Er schenkt den gejagten Tieren eine eigene Perspek­tive. »Wie ein flüch­tiger Geist durch­schnei­det das Walross die Unter­strömun­gen des Fjords. Ein Schatten, der an den stock­dunklen Fels­wänden des Fjord­grundes vorbei­fegt … die langen Holz­pfähle, die sich in seinem Körper festge­bissen haben.« Die Blicke von Tier und Mensch begegnen sich zum ersten Mal, als das von Schmerz und Angst gepei­nigte Tier mit unbän­diger Wut donnernd die Wasser­ober­fläche durch­bricht. Arnar erstarrt einen Moment, ehe er die Klinge seiner Axt tief in den Schädel des Tieres rammt und sich dafür die Aner­kennung der Männer sichert, denn »diese Fähig­keit ist nicht allen gegeben«.

Arnars weiterer Lebensweg bildet den eigent­lichen Plot des Romans. Der lebens­hungrige junge Mann will trotz aller widrigen Umstände für sich und die Seinen eine gute Zukunft aufbauen. Sein großer Traum ist es, eines Tages das sagen­hafte Vinland zu errei­chen. Die Alten erzählen in ihren Geschich­ten von Bären und riesigen Moschus­ochsen, die die Skrä­linger dort jagen, aber seit Jahr­zehnten war kein Boot mehr dorthin aufge­brochen.

Nach drei harten Wintern treibt es Arnar zunächst in die Berge. Mächtige Gletscher ver­schließen unbe­siedelte Täler und Ebenen. Die Vision, sich hier nieder­zu­lassen, das Land urbar zu machen, Hunderte Tiere darauf weiden zu lassen, spornt Arnar an. Aber ein Haus zu bauen bedarf des Ein­ver­ständ­nisses von Häuptling Himin-Gorm, und das zu erhalten erfordert Geschick und Glück.

Die zufällige Begegnung mit einer jungen Frau am Ufer des Fjords wirbelt Arnars Leben durch­ein­ander. Er spürt gleich, dass »die Walküre mit den langen Haaren« seine große Liebe und genau die Richtige für ihn ist. Erst sehr viel später erfährt er, dass Eir, Tochter von Hastein, schon einem anderen ver­sprochen und somit für jeden anderen Mann eine Unbe­rühr­bare ist. Insgeheim nähern sich die beiden einander an, aber ihr Leben geriete in Gefahr, sobald der Rivale davon erführe.

Dies sind die Motive und Elemente, die die Handlung auf vielen Schau­plätzen voran­treiben. Ebenso großes Interesse erzeugen aber die detail­lierten Beschrei­bungen und Szenen aus dem Alltags­leben. Tore Kvæven führt uns vor Augen, wie die Menschen unter feind­lichsten Lebens­bedin­gungen exis­tieren konnten, indem sie einfalls­reich nutzten, was die Natur ihnen bot: Tierfelle zur schüt­zenden Beklei­dung, Walross­zähne als Werkzeuge, Steine, Holz, Pflanzen und Feuer für die Herstel­lung ihrer Behau­sungen, Gerät­schaften, Waffen und Boote. Nicht minder beein­druckend erleben wir die Sitten und Gebräuche der Menschen und insbe­sondere die Umwälzung, die die Chris­tianisie­rung brachte. Auf einmal sollte es sündig sein, Tiere an im Kreis ange­ordneten Pfählen darzu­bringen, um die Götter gnädig zu stimmen, wo es doch Zeiten gegeben hatte, da ihnen selbst Menschen geopfert wurden? Die Christen sprachen auch anders Recht: Statt auf dem »Blutanger« bis zum Tod Streitig­keiten auszu­fechten und Verfeh­lungen zu bestrafen, verhan­delten sie auf dem Thing­platz mit bloßen Worten, was Recht sein sollte.

Hilfreich ist das Glossar norwe­gischer Wörter am Ende des Buches, doch verzich­tet hat man leider auf eine Land­karte mit den Schau­plätzen der Handlung und eine Liste der vielen Personen und Gruppen.


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