Rezension zu »Eva schläft« von Francesca Melandri

Eva schläft

von


Francesca Melandris episch breiter Roman umspannt die Jahre 1919 bis 1992 und schildert das Familiendrama um Gerda, drittes Kind eines Optanten, Schwester eines Terroristen und eine Ausgestoßene während einer explosiven, kämpferischen Zeit, in der man ein Volk systematisch verdrängen bzw. vereinnahmen wollte.
Belletristik · Blessing · · 448 S. · ISBN 9783896674357
Sprache: de · Herkunft: it · Region: Südtirol

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Der wilde Oberlauf der Etsch

Rezension vom 10.03.2011 · 171 x als hilfreich bewertet mit 13 Kommentaren

Fast scheint es schon vergessen, dass Südtirol nach dem 1. Weltkrieg Italien zugesprochen wurde – gegen den Willen seiner deutschsprachigen Einwohner. Um sie zu assimilieren, wurde Italienisch als Amtssprache eingeführt, und alle Ortschaften, Berge, Flüsse usw. wurden italienisch umbenannt – so auch die Etsch, deren Oberlauf der Region fortan ihren neuen Namen verlieh: Alto Adige. Aber Deutsch wurde ab 1925 an den sogenannten »Katakombenschulen« weiterhin heimlich unterrichtet, obwohl die Lehrer mit Höchststrafen rechnen mussten. Durch die staatlich geförderte massenweise Zuwanderung von Italienern (»Majorisierung«) sollten die Südtiroler in ihrer angestammten Heimat zur Minderheit reduziert werden. Im Dezember 1939 mussten die Südtiroler wählen, ob sie entweder »heim ins Reich« umsiedeln wollten (»Optanten«) oder in der italienischen Provinz bleiben, wodurch sie jedoch dem »Volkstum« untreu wurden. Nach dem Krieg kehrten viele Optanten zurück; auf ihren Höfen lebten aber mittlerweile Italiener, sie selber mussten sich als Nazis beschimpfen lassen und wurden ausgegrenzt: So wurde ihre Volksgruppe gespalten.

Die Frustration über Italiens Südtirol-Politik entlud sich in ersten Bombenattentaten. 1961 sprengten Freiheitskämpfer, verharmlosend »Bumser« genannt, in der sogenannten Feuernacht etliche Strommasten. Die italienischen Behörden verhafteten sie, folterten sie, schlugen sie zu Krüppeln, steckten sie für Jahre ins Gefängnis; einige starben. Militär und Polizeikräfte marschierten zu Tausenden ein. Südtirol wurde ein Heerlager und stand kurz vor einem Bürgerkrieg. Während sich die erste Welle nicht gegen Menschen richtete, sondern nur Sachschäden anrichten sollte, folgten später radikalisierte, gewalttätige Terroranschläge, z.T. von Geheimdiensten und den Neofaschisten unterstützt.

Obwohl der »Befreiungskampf« noch immer im Südtiroler Heimatbund vorangetrieben wird, hat doch heute kaum jemand je von der Feuernacht gehört, kennt kaum jemand die Mailänder-Prozesse. Ist dieses Thema einfach nur vergessen, oder wird es bewusst heruntergespielt?

Francesca Melandri versetzt uns in ihrem Roman »Eva schläft« (Originaltitel: »Eva dorme«) in jene unruhige Zeit der jüngeren Geschichte Norditaliens.

Neben der politischen Entwicklung flicht sie einen fiktionalen Handlungsstrang um die 20-jährige Gerda, die ein uneheliches Kind erwartet. Nur dem Chefkoch Naumann hat sie es zu verdanken, dass sie als schwangere Hilfsköchin im Meraner Edel-Hotel geduldet wird. So schläft Eva, das Neugeborene, in einer Apfelkiste.

Doch bald kann Eva laufen, und Gerda muss schleunigst eine Betreuung organisieren. Die Suche nach einer neuen Bleibe ist anrührend beschrieben. Von ihrer Familie wird sie abgewiesen, und im Kloster wird Eva nur aufgenommen, wenn Gerda einer Adoption zustimmt. Schließlich ist eine Großfamilie bereit, sich um das Mädchen zu kümmern. Hier wird es aufwachsen – weitgehend ohne seine Mutter, denn den Beiden bleiben nur zwei gemeinsame Monate im Jahr (Gerdas arbeitsfreie Zeit).

Einen wahren Freund wird Eva in Ulli haben. Gemeinsam planieren sie mit der Schneeraupe die Skipisten und vertrauen einander ihre Geheimnisse an. Ulli wird sein Leben freiwillig beenden, weil er in der damaligen Zeit nicht so sein darf, wie er ist: homosexuell.

Gerda wird sich in den Carabiniere Vito verlieben, einen Süditaliener, der auch für Eva Vater sein möchte. Er wird sich entscheiden müssen zwischen Gerda und ihrem unehelichen Kind oder der Mama in Kalabrien. Indem er sich mit Gerda, der Schwester eines Terroristen, einlässt, verstößt er gegen Dienstvorschriften, weswegen ihm die Entlassung aus dem Staatsdienst droht – Gerda wird ihm die Entscheidung abnehmen.

Der Roman ist voller Leid, Schmerz und Aussichtslosigkeit. Die meisten Bauern führen ein müh- und armseliges Leben. Sie wollen keine Eskalation, wenn sie sich den Freiheitskämpfern anschließen. Und doch schildert die Autorin, sich auf Zeugenaussagen berufend, wie 1000 Soldaten in den Dörfern auftauchen, Handgranaten in die Häuser werfen, die Menschen zusammentreiben. Ein Oberst, der im Hubschrauber zum Ort des Geschehens gebracht wird, befiehlt dem Tenente, alle zu erschießen und das Dorf Montassilone (Tesselberg) niederzubrennen. (Das reizte mich zu recherchieren – aber zuverlässige, anerkannte Informationen über ein derartiges Massaker habe ich nicht gefunden.)

Gerda und Eva, das ist eine Mutter-Kind-Beziehung voller Liebe und Entbehrungen. Als Erwachsene reist Eva zu Ostern von Franzenfeste nach Kalabrien zum Sterbebett ihres lieb gewonnenen Vaters Vito. Während der langen Zugfahrt durchlebt sie ihre Kindheit und beschreibt die Landschaften und ihre Mitreisenden.

Wenn man heute durch die wunderschöne Berglandschaft Südtirols reist, spürt man nichts mehr von den politischen Unruhen, sehr wohl aber die Genugtuung über die inzwischen erlangte weitreichende Autonomie der Region im italienischen Staat. Viele Menschen pflegen ihr Tirolerisch wie eh und je, viele sind perfekt zweisprachig, man kocht vielerorts nach urtümlichen österreichischen Rezepten, lecker gemixt mit italienischen Anteilen, und überall pflegt man alte Traditionen. Die Südtiroler genießen einen touristischen Boom und leben, wie es scheint, friedlich und zufrieden miteinander, egal welche Wurzeln sie haben.

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• Marco Balzano: »Resto qui«
• Sepp Mall: »Wundränder«


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Kommentare

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Zu »Eva schläft« von Francesca Melandri wurden 13 Kommentare verfasst:

paul costa schrieb am 12.02.2011:

habe das Buch bereits in italienischer Sprache gelesen. War fuer mich als zweisprachiger Suedtiroler sehr aufschlussreich. Erzaehlt genau die Geschichte meiner Familie. Leider wird es noch einige Jahrzehnte dauern bis alles ueberstanden ist . Ich kann das Buch nur empfehlen.

Christine Hager schrieb am 08.05.2011:

Ich lese das Buch auf Italienisch, kann es gut verstehen, finde es berührend, interessant und aufschlussreich, es gefällt mir sehr. Leider geht mir durch meine doch unzulänglichen Sprachkenntnisse manche Schönheit des Stils und Lebendigkeit der Sprache verloren.

Martha Speck schrieb am 07.11.2012:

Eines der schönsten Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe. Ich bin selber Südtirolerin aus der "Eva-Generation" und komme aus der beschriebenen Stadt. Das Buch beschreibt ziemlich genau die Realität und regt zum Nachdenken auf beiden Seiten an.

Giuseppe Colucci schrieb am 11.01.2013:

Ho letto in italiano "Eva dorme". Dopo molti anni mi sono riscoperto a piangere delle lacrime di emozione per l'amore dolcissimo di un padre che padre non era e di una figlia che figlia non era. Grazie Dottoressa Melandri..ah! dimenticavo io sono nativo del militare di Accettura (MT), pero'devo dirLe che noi in virtu'dell'aria purissima delle nostre vallate non abbiamo i brufoli...ahahaha

Marialuise Wallnöfer schrieb am 18.02.2013:

Auch ich bin Südtirolerin, und auch mich hat das Buch unendlich berührt. Es ist soviel Liebe und Verständnis für die Südtiroler Geschichte drin, soviel Einfühlungsvermögen, dass ich es vor Allem unseren italienischen Mitbürgern wärmstens empfehlen würde.Gar manche von ihnen, vor allem die der älteren Generation, kennen nämlich die Geschichte Südtirols bis heute nur aus italienischer Sicht, d.h. doch etwas verzerrt.
Ich glaube, zu soviel Empathie, wie Francesca Melandri sie in diesem Roman zeigt, ist nur eine Frau fähig....

Ernst Foltin schrieb am 15.04.2013:

Ist die Geschichte der Gerda Huber wahr? Eine solche Frage wird regelmäßig und gedankenlos gestellt. Die Antworten müssten lauten:
(a) Ja natürlich. Es kann jemand nur schreiben, was er selbst gesehen oder erlebt hat, etwas was stattgefunden hat.
(b) Selbstverständlich nicht. Sobald eine Geschichte erzählt wird, findet Verkürzung statt, Poetisierung, Abstrahierung, wie man will.
Wahrheit einer Lebensgeschichte kann nur darin bestehen, dass der Erzählerstandpunkt klar gemacht wird, dass die Relativität hervortritt. In dieser Hinsicht ist Melandri ein besonderes Kunststück geglückt. Sie erzählt in ihrem Buch die Geschichte zweimal. Einmal als Geschichte vom Standpunkt eines Erzählers oder Historikers, und einmal als inneren Dialog der Tochter Gerdas, der Eva. Die beiden Erzählungen sind ineinander verflochten, was zwei Effekte hervorruft: der Fortgang der Handlung wird wie in einem Kriminalroman verzögert, sodass sich das Buch spannend liest; die beiden Erzählerstandpunkte relativieren sich gegenseitig, sodass ein absoluter Wahrheitsanspruch der Geschichte schon gar nicht erst entstehen kann. Die Reflexion findet nicht erst nach der Lektüre statt, sie ist bereits fix in den Roman integriert.
Dass die Schilderungen genuss- und liebevoll in die Details gehen, ist einfach ein Vergnügen: Kochkunst, ein hilfloser Abtreibungsversuch, ein akademischer Rechtsradikaler, ein Gewalttäter aus innerer Verwahrlosung, Geschäftsleute, Soldaten, ..., Südtiroler, Süditaliener. Aber es gibt keine Guten und keine Bösen. Ein Satz kehrt auf immer wieder überraschende Weise wieder und hält das ganze wie mit einem dünnen Faden zusammen: Eva schläft.

Konstanze Kubath, geb Wieser schrieb am 28.06.2013:

Mein Vater war gebürtiger Südtiroler, der in Deutschland mit seiner Frau 3 Mädchen großgezogen hat. Er hat uns die Liebe zu seiner Heimat sehr gut "vererbt", so dass wir immer wieder dorthin zurück kehren. Dieses Buch vermittelt ein tiefes Verständnis für die Menschen in Alto Adige und erklärt die Geschichte des Landes und seiner BewohnerInnen.

Margrit Rotach schrieb am 29.07.2013:

Ein wunderbares Buch das mir als im Piemont lebender Schweizerin eine mir bis jetzt unbekannte Welt eröffnet! Der Roman ist in jeder Beziehung empfehlenswert: interessant, lehrreich und mit einer berührenden Handlung.

Conrad Haas schrieb am 03.09.2013:

Alle unsere Freunde haben, und werden, dieses wunderbare Buch erhalten. Meine Banater (donauschwäbische, Ungarn, Rumänien) Herkunft hat mich für die nationale Problematik sensibilisiert. Wir sind zweisprachig aufgewachsen und empfinden dies, sieht man vom damaligen kommunistischen Umfeld mal ab, als unbezahlbaren Gewinn.
Übrigens: Im heute rumänischen Banat gibt es eine Gemeinde namens Tirol (auch "Königsgnad"), Andreas Hofer sei`s geschuldet.
Mit welcher Liebe und ohne erhobenen Zeigefinger Francesca Melandri ihre Personen begleitet ist seltene Empathie.

EN schrieb am 06.05.2014:

Ein mitreissendes Buch, ich kann mich den anderen Kommentaren nur voll und ganz anschliessen.
Einzig der Satz der Rezension "..Die Südtiroler genießen einen touristischen Boom und leben friedlich und zufrieden miteinander, egal welche Wurzeln sie haben" stösst bei mir auf. Leider brodelt es sehr in Südtirol/Alto Adige. Diesmal aber in der italienischsprachigen Bevölkerung. Die viele Unterstützung die die deutschsprachige Bevölkerung am Ende noch erhalten hat und immer noch erhält und das Leben zweier paralleler (fast separater) Gesellschaften in den Städten vom Kindergarten bis zur Uni und zum Sportverein ist dabei das Pendel diesmal in die andere Richtung ausschlagen zu lassen. Immer mehr italienischsprachige Bewohner fühlen sich in der momentanten schweren wirtschaftlichen Rezession benachteiligt gegenüber den deutschsprachigen. Es kommen alte reaktionäre Gedanken wieder auf. Hoffentlich wird es rechtzeitig zum erneuten Ausgleich kommen...
Diese Bedenken haben nichts mit dem Buch zu tun, dieses ist wirklich sehr empfehlenswert!

D.G. schrieb am 26.01.2015:

Selten habe ich mich in einen Roman so "hineingelebt" es hielt wochenlang an und ich habe das Buch inzwischen sehr oft weiter verschenkt

A.C. schrieb am 13.09.2016:

Als Suedtirolerin ein solches Buch zu lesen mutet Eigentümlich an. Unverkennbar, wenn man die sentimentale aber psychologisch genaue Beziehungsgeschichte weglässt, ist die Aussensicht einer Italienerin, welche als Urlaubsgast in unser Land kam. Abrupt der Wechsel von dokumentarischen Recherche zu Gefühlvoller Beschreibung der Liebesgeschichte. Als einheimische Leserin störten mich manche falsche Bezeichnung en: es gibt bei uns keinen Pastor, oder die mittlere Reife, schon gar nicht die aus Tannen bestehenden Wälder oder die Stadel,allesamt aus Fichtenholz....Eichenwälder in Bruneck?? Usw.

Dr. Frank Armbruster schrieb am 20.10.2016:

Dieses Buch ist neben der anrührenden privaten Geschichte auch ein typisch italienisches Buch. Die Italiener haben sich nie ernsthaft mit dem verbrecherischen System des Faschismus auseinandergesetzt. Diese Auseinandersetzung wird auch in diesem Buch nicht geleistet.Dafür wird aber nach allbekanntem Muster deutsche Schuld thematisiert. Die Südtiroler Freiheitskämpfer werden als Neonazis diffamiert; die italienischen Soldaten, die zur Unterdrückung der südtiroler Unabhängigkeitsbewegung aufmarschieren, sind in ihrer Mehrheit liebe Burschen, die nur das Beste wollen. Auch historische Tatsachen werden in diesem Buch verfälscht. Das angebliche Attentat an der Porzescharte war in Wirklichkeit ein perfides Schurkenstück des faschistisch unterwanderten italienischen Geheimdienstes, das glauben machen sollte, die Freiheitskämpfer hätten heimtückisch vier italienische Soldaten ermordet. Hubert Speckner hat in einer detaillierten und unwiderlegbaren Analyse aufgrund österreichischer sicherheitsdienstlicher Akten nachgewiesen, dass die angeblich Ermordeten bei einer Übung des italienischen Militärs ums Leben gekommen waren und dann geschickt "zwischen Porze und Roßkarspitz" als angebliche Opfer der Freiheitskämpfer abgelegt worden waren. Mangelhaft wird auch das Verhalten der italienischen Politiker nach 1945 dargestellt. Forderungen nach einer Volksabstimmung wurden mit Lügen abgewiesen "Es gibt überhaupt keine Süd-Tiroler Frage. Alles, was sich auf Süd-Tirol bezieht, ist eine inneritalienische Frage..." Und so ließe sich noch vieles anmerken.

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