Eva schläft
von Francesca Melandri
Francesca Melandris episch breiter Roman umspannt die Jahre 1919 bis 1992 und schildert das Familiendrama um Gerda, drittes Kind eines Optanten, Schwester eines Terroristen und eine Ausgestoßene während einer explosiven, kämpferischen Zeit, in der man ein Volk systematisch verdrängen bzw. vereinnahmen wollte.
Der wilde Oberlauf der Etsch
Fast scheint es schon vergessen, dass Südtirol nach dem 1. Weltkrieg Italien zugesprochen wurde – gegen den Willen seiner deutschsprachigen Einwohner. Um sie zu assimilieren, wurde Italienisch als Amtssprache eingeführt, und alle Ortschaften, Berge, Flüsse usw. wurden italienisch umbenannt – so auch die Etsch, deren Oberlauf der Region fortan ihren neuen Namen verlieh: Alto Adige. Aber Deutsch wurde ab 1925 an den sogenannten »Katakombenschulen« weiterhin heimlich unterrichtet, obwohl die Lehrer mit Höchststrafen rechnen mussten. Durch die staatlich geförderte massenweise Zuwanderung von Italienern (»Majorisierung«) sollten die Südtiroler in ihrer angestammten Heimat zur Minderheit reduziert werden. Im Dezember 1939 mussten die Südtiroler wählen, ob sie entweder »heim ins Reich« umsiedeln wollten (»Optanten«) oder in der italienischen Provinz bleiben, wodurch sie jedoch dem »Volkstum« untreu wurden. Nach dem Krieg kehrten viele Optanten zurück; auf ihren Höfen lebten aber mittlerweile Italiener, sie selber mussten sich als Nazis beschimpfen lassen und wurden ausgegrenzt: So wurde ihre Volksgruppe gespalten.
Die Frustration über Italiens Südtirol-Politik entlud sich in ersten Bombenattentaten. 1961 sprengten Freiheitskämpfer, verharmlosend »Bumser« genannt, in der sogenannten Feuernacht etliche Strommasten. Die italienischen Behörden verhafteten sie, folterten sie, schlugen sie zu Krüppeln, steckten sie für Jahre ins Gefängnis; einige starben. Militär und Polizeikräfte marschierten zu Tausenden ein. Südtirol wurde ein Heerlager und stand kurz vor einem Bürgerkrieg. Während sich die erste Welle nicht gegen Menschen richtete, sondern nur Sachschäden anrichten sollte, folgten später radikalisierte, gewalttätige Terroranschläge, z.T. von Geheimdiensten und den Neofaschisten unterstützt.
Obwohl der »Befreiungskampf« noch immer im Südtiroler Heimatbund vorangetrieben wird, hat doch heute kaum jemand je von der Feuernacht gehört, kennt kaum jemand die Mailänder-Prozesse. Ist dieses Thema einfach nur vergessen, oder wird es bewusst heruntergespielt?
Francesca Melandri versetzt uns in ihrem Roman »Eva schläft« (Originaltitel: »Eva dorme«) in jene unruhige Zeit der jüngeren Geschichte Norditaliens.
Neben der politischen Entwicklung flicht sie einen fiktionalen Handlungsstrang um die 20-jährige Gerda, die ein uneheliches Kind erwartet. Nur dem Chefkoch Naumann hat sie es zu verdanken, dass sie als schwangere Hilfsköchin im Meraner Edel-Hotel geduldet wird. So schläft Eva, das Neugeborene, in einer Apfelkiste.
Doch bald kann Eva laufen, und Gerda muss schleunigst eine Betreuung organisieren. Die Suche nach einer neuen Bleibe ist anrührend beschrieben. Von ihrer Familie wird sie abgewiesen, und im Kloster wird Eva nur aufgenommen, wenn Gerda einer Adoption zustimmt. Schließlich ist eine Großfamilie bereit, sich um das Mädchen zu kümmern. Hier wird es aufwachsen – weitgehend ohne seine Mutter, denn den Beiden bleiben nur zwei gemeinsame Monate im Jahr (Gerdas arbeitsfreie Zeit).
Einen wahren Freund wird Eva in Ulli haben. Gemeinsam planieren sie mit der Schneeraupe die Skipisten und vertrauen einander ihre Geheimnisse an. Ulli wird sein Leben freiwillig beenden, weil er in der damaligen Zeit nicht so sein darf, wie er ist: homosexuell.
Gerda wird sich in den Carabiniere Vito verlieben, einen Süditaliener, der auch für Eva Vater sein möchte. Er wird sich entscheiden müssen zwischen Gerda und ihrem unehelichen Kind oder der Mama in Kalabrien. Indem er sich mit Gerda, der Schwester eines Terroristen, einlässt, verstößt er gegen Dienstvorschriften, weswegen ihm die Entlassung aus dem Staatsdienst droht – Gerda wird ihm die Entscheidung abnehmen.
Der Roman ist voller Leid, Schmerz und Aussichtslosigkeit. Die meisten Bauern führen ein müh- und armseliges Leben. Sie wollen keine Eskalation, wenn sie sich den Freiheitskämpfern anschließen. Und doch schildert die Autorin, sich auf Zeugenaussagen berufend, wie 1000 Soldaten in den Dörfern auftauchen, Handgranaten in die Häuser werfen, die Menschen zusammentreiben. Ein Oberst, der im Hubschrauber zum Ort des Geschehens gebracht wird, befiehlt dem Tenente, alle zu erschießen und das Dorf Montassilone (Tesselberg) niederzubrennen. (Das reizte mich zu recherchieren – aber zuverlässige, anerkannte Informationen über ein derartiges Massaker habe ich nicht gefunden.)
Gerda und Eva, das ist eine Mutter-Kind-Beziehung voller Liebe und Entbehrungen. Als Erwachsene reist Eva zu Ostern von Franzenfeste nach Kalabrien zum Sterbebett ihres lieb gewonnenen Vaters Vito. Während der langen Zugfahrt durchlebt sie ihre Kindheit und beschreibt die Landschaften und ihre Mitreisenden.
Wenn man heute durch die wunderschöne Berglandschaft Südtirols reist, spürt man nichts mehr von den politischen Unruhen, sehr wohl aber die Genugtuung über die inzwischen erlangte weitreichende Autonomie der Region im italienischen Staat. Viele Menschen pflegen ihr Tirolerisch wie eh und je, viele sind perfekt zweisprachig, man kocht vielerorts nach urtümlichen österreichischen Rezepten, lecker gemixt mit italienischen Anteilen, und überall pflegt man alte Traditionen. Die Südtiroler genießen einen touristischen Boom und leben, wie es scheint, friedlich und zufrieden miteinander, egal welche Wurzeln sie haben.
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