Lob der Besonnenheit
Vier Schwerpunkte hat dieser Montalbano-Krimi, und jeder trägt zum Gelingen des Ganzen sein Quantum an Spannung, kluger Unterhaltung und Nachdenklichkeit bei.
Als erstes lockt der Autor mit einer nostalgischen Vorstellung: Wie mag das Leben in Vigàta vor sechzig Jahren ausgesehen haben? Den Anlass liefert ein italienisch-schwedisches Team, das in der Stadt einfällt, um einen Film zu drehen, der in den Fünfzigerjahren spielt. Man will die Drehorte realistisch aussehen lassen und ruft dazu die Einwohner auf, alte Schmalfilme als Vorlagen einzureichen. Doch was entsteht, ist eine Art Themenpark, dessen Unaufrichtigkeit Montalbano ärgert. Die meisten vigatesi sind freilich hochmotiviert: Sie kramen auf den Dachböden, belagern die Dreharbeiten, und der Anblick der schwedischen Schauspielerinnen bringt manche Ehe aus dem Gleichgewicht.
Aus diesem Hintergrund entspringt der zweite Schwerpunkt. Dem Pensionär Ernesto Sabatello fielen beim Stöbern sechs Filmchen in die Hände, die sein Vater zwischen 1958 und 1963 gedreht hatte. Alle sechs zeigen nichts als ein paar Steine einer Mauer, den identischen, starren Ausschnitt, und alle sechs wurden jeweils am 27. März um 10 Uhr 25 aufgenommen. In seiner Ratlosigkeit, was es damit auf sich habe, bittet Sabatello den commissario, sich der Sache privat anzunehmen. Montalbano packt der Forscherehrgeiz, und er verbeißt sich in die mysteriöse Familiengeschichte.
Solange in Vigàta der Film gedreht wird, scheinen selbst die Kleinkriminellen ihre Tätigkeit ruhen zu lassen, so dass Salvo Montalbano für ein paar Tage nach Boccadasse fliegt, um Livia zu besuchen. Die schwierige Beziehung zwischen den beiden Langzeitverlobten ist ein weiterer Schwerpunkt und roter Faden des Romans. Man gewinnt den Eindruck, dass beide ihr eigenständiges Leben längst höher schätzen als das Beisammensein. Vor allem Salvo zieht seine beruflichen Herausforderungen und privaten Alltagsroutinen der stets brenzligen Zweisamkeit mit Livia vor. Schon die Telefonate sind Minenfelder. Ein falscher Ton kann die erstrebte harmonische Stimmung abstürzen, Vorwürfe eskalieren lassen. Seit dem Tod des gemeinsamen Pflegesohnes François (eingeführt in »Il ladro di merendine | Der Dieb der süßen Dinge«, ums Leben gekommen in »Una lama di luce | Die Spur des Lichts«) hat Livia ihre Zuwendung ganz auf ihre Hündin Selene fixiert, die den Tagesablauf auch während Salvos Besuch dominiert.
In der Mitte des Buches setzt der zweite Fall ein – der letzte Schwerpunkt. Sogar das Telegiornale berichtet, was in Vigàta geschah: Zwei Bewaffnete mit Anonymous-Masken drangen in eine Schule ein, nahmen eine Klasse in Geiselhaft, drohten Kindern und dem Lehrer, feuerten Warnschüsse ab. Dass es kein Blutvergießen gab, ist Montalbanos Vize Mimì Augello zu verdanken, der zufällig zugegen war. Schließlich flüchteten die Täter ohne weitere Forderungen.
Betrifft der erste Fall eine Privatangelegenheit in weiter Vergangenheit, berührt der zweite Tendenzen und Ängste unserer Tage. War das ein Anschlag mit terroristischem oder aktionistischem Hintergrund? Spezialeinheiten der Polizei, hohe Beamte, Politik und Medien mischen mit und beäugen die Methoden des Provinz-commissario mit Skepsis. Doch gerade die handwerklich solide, umsichtige Aufklärungsarbeit seines Teams führt zum Ziel, während Aufsehen erregenden Schnellschüssen die Luft ausgeht.
Beide Fälle treten (gemäß bewährter Strategie) mit einem markanten Vorfall in Montalbanos Agenda und verkomplizieren, verästeln, verrätseln sich dann von Seite zu Seite, was das Mitraten zum anspruchsvollen Vergnügen macht. Wir verfolgen die Aktivitäten in einer linearen Erzählung in der 3. Person aus der Perspektive des Protagonisten und erhalten so häufig Einblick in seine Gedankenwelt. Wie er mit Mitarbeitern, Zeugen, Verdächtigen und Vorgesetzten spricht, charakterisiert ihn als scharfen Analytiker und intelligenten Strategen, als Ehrenmann und Moralisten, aber auch, wenn angebracht, als raffinierten Strippenzieher (der auch Livia etwas vormacht). Wenn er übers Ziel hinausschießt, ihm seine Impulsivität in die Quere kommt, er seine eigenen Grundsätze verletzt, erschrickt er über sich selbst.
Auf wohltuende Weise setzen sich Montalbano-Krimis ab vom heutzutage gängigen Noir-Genre mit seinen kaputten Helden und Milieus. Auch Camilleris Figuren haben ihre dunklen Seiten, aber nur Politiker, Bosse und Mafiosi haben sich der Menschlichkeit entfremdet und sind in hoffnungslose Abgründe der Gier und Gewalt entglitten. In seinen Protagonisten und Nebenfiguren aus dem Volke aber propagiert der weltkluge Autor traditionelle christliche und humanitäre Werte für ein friedliches, gedeihliches Miteinander, die aus der Mode zu geraten scheinen: Pflichtbewusstsein, Zuverlässigkeit, Takt, Respekt, Aufrichtigkeit, Vor- und Rücksicht, Mitgefühl. Der bedächtige, unprätentiöse Stil passt dazu ebenso gut wie die sorgfältig ausgezirkelte Struktur ohne Volten, cliffhanger und manipulative Tricks. Die Titelmetapher eines schützenden Sicherheitsnetzes etwa betrifft etliche Geschehnisse der vier Handlungsstränge, wird interpretiert, ausgeweitet, aber nicht zu Tode geritten.
Weil Salvo Montalbano ein Wertkonservativer im besten Sinne ist, stimmt ihn Umweltverschmutzung melancholisch, treibt ihn hohle Amtsarroganz auf die Palme, machen ihn Enzos und Adelinas frische Gerichte glücklich, verachtet er die affektierte Wichtigtuerei des Filmteams. (Seine Auslassungen über das bei einem Empfang kredenzte »finghirfud« triefen vor Sarkasmus.) Mit seiner Aversion gegenüber allem Modischen (wenn nicht allem Modernen) kokettiert er schon lange, von Computer und Internet hält er sich ostentativ fern.
Die Ermittlungen im Schul-Fall jedoch motivieren ihn, sich auf die aktuellsten dieser Tendenzen einzulassen. Denn in der überfallenen Klasse gab es übles Mobbing, und Mimì Augellos Sohn Salvuccio, Montalbanos Patenkind, weiß darüber gut Bescheid. Unter seiner (und Catarellas) Anleitung erlebt der commissario, wie Dreizehnjährige mit Geräten, Portalen und Apps ihr Leben gestalten und gestalten lassen. Montalbanos (bzw. Camilleris) prägnante, distanzierte Kommentare dazu stimmen nachdenklich. Sie ergehen sich nicht in Kulturpessimismus, verklären nichts und verurteilen nichts, identifizieren aber Verluste und Gewinne, Gefahren und Leistungen.
Während Catarella dank der üblichen Wortverdrehungen, Tür-Tolpatschigkeiten und überdrehter Sentimentalität leider fast zur Witzfigur verkommt – allein seine Computerkompetenz bewahrt ihn davor –, lässt Mimì Augello einmal etwas mehr Tiefe erkennen. Plantscht er bei der Betreuung der Schwed(inn)en noch in seinem liebsten Element, stürzt ihn der bewaffnete Überfall im Beisein seines Sohnes in einen ernsten Konflikt. Den heldenhaften Befreiungsschlag, den der Junge erhofft, kann er nicht verantworten; doch indem er eine besonnene, deeskalierende Strategie wählt, muss er nicht nur seine eigene erniedrigende Hilflosigkeit im Angesicht der Aggression, sondern auch Salvuccios Tränen der Scham und Enttäuschung ertragen.
Lesegenuss speist sich bei Camilleri nicht nur aus der intellektuellen Spannung, wie sich wohl all die aufgeschlagenen Rätsel lösen werden, sondern mindestens ebenso sehr aus den vielen leisen Randbemerkungen, literarischen Anspielungen, originellen Formulierungen, dem feinsinnigen Humor – und dem etwas kauzigen ›Sizilianisch‹, das der Autor sowohl dem Erzähler als auch den meisten Figuren in den Mund legt. Um es zu goutieren, sollte man robuste Italienischkenntnisse sowie Fantasie mitbringen, um im Druckbild der Aussprache- und Grammatikvarianten Vertrautes auszumachen; nach ein paar Seiten hat man sich eingelebt. Ein hilfreiches vocabolario finden Sie hier.
Camilleri, inzwischen 92, hat diesen 25. Band der Reihe [› Übersicht] 2015 konzipiert und jetzt wegen fortgeschrittener Erblindung seiner Assistentin diktiert. Wie viele seiner Vorgänger ist auch dieses Spätwerk ein nachdenklich stimmendes Buch, ein wenig aus der Zeit gefallen und dennoch mitten im Heute gelandet.