Rezension zu »In der Gnade« von Joy Williams

In der Gnade

von


Die Tochter eines gestrengen, übermächtigen Reverend versucht, seinem Einfluss zu entkommen und ein eigenständiges Leben zu führen, doch beides gelingt ihr nicht.
Belletristik · dtv · · 336 S. · ISBN 9783423283991
Sprache: de · Herkunft: us

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Der allmächtige Vater

Rezension vom 08.05.2024 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Joy Williams wurde 1944 in Neuengland geboren und hat bis heute zwölf Bücher unterschiedlicher Inhalte veröffentlicht. Im Jahr 1973 erschien ihr Debüt­roman »State of Grace«, er wurde hoch­gelobt und für den National Book Award nominiert, aber erst jetzt, nach fünfzig Jahren, in der Über­setzung von Julia Wolf auf Deutsch heraus­gebracht.

Der schwer fassbare Plot, wie er sich über drei »Bücher« ent­wickelt und mehr durch Persön­lich­keiten und Befind­lich­keiten als durch Ereig­nisse, Kausa­litäten und zielge­richtete Hand­lungen heraus­bildet, erklärt sich in seinen Grund­zügen viel­leicht aus der Biografie der Autorin Joy Williams. Sie ist – wie ihre Protago­nistin Kate – Tochter eines Pfarrers aus Neu­eng­land, floh nach Florida, heiratete und lebte in einem Wohnwagen, verborgen in dunklen Wäldern, und gebar ein Kind. Alles, was die Autorin sich wohl für ihr Leben ersehnt hatte, treibt auch Kate an: Zwängen entkommen, sich selber finden, ein Leben in Freiheit und Unge­bunden­heit führen. Im Roman kommt es leider enttäu­schend anders.

Im ersten Buch lesen wir über hundert­zwanzig Seiten hinweg, wie eine namenlose Ich-Erzäh­lerin in den Sümpfen am Golf von Mexiko zusammen mit einem lebens­frohen jungen Mann namens Grady in einem Wohn­wagen haust. Erst später stellt sich heraus, dass er ein Student der Natur­wissen­schaften und seit Kurzem ihr Ehemann ist. Ein symbo­lischer Ring aus Holz verkör­pert den Familien­stand. Ein Kind ist unterwegs. Die junge Frau hat Angst, aber nicht vor Grady. »Wir sind verliebt«, konsta­tiert sie, doch ihre Gedanken gehen in eine andere Richtung: »Natürlich wäre es das Beste, wenn er uns tötet, also Daddy und mich. Ich werde nämlich das verrückte Gefühl nicht los, dass wir sonst ewig so weiter­machen. Aber dafür ist es nun zu spät. […] Selbst wenn er hinführe, er würde Daddy nicht finden [und wenn, dann] würde er nicht mit ihm fertig­werden. Immerhin hat Daddy die Religion auf seiner Seite, und damit Gott und den Teufel.«

Nach dieser Einstimmung auf die Grund­motive (Seite 8) folgt eine Unmenge kleiner Szenen mit wech­selnden Figuren und Schau­plätzen, mit einge­streuten Bibel­zitaten, sinn­lichen Natur­be­schrei­bun­gen, naiven Wunsch­fantasien von einem späteren glück­lichen Familien­leben im Wohl­stand mit styli­schem Baum­haus und Land Rover. Die erinner­ten Szenen wirken teils wie im Traum erlebt, teils brutal realis­tisch, teils symbol­stark, teils ordinär bis ekel­haft; sie folgen un­chrono­logisch, kontrastiv, asso­ziativ aufein­ander. Dabei behauptet die Ich-Erzäh­lerin: »Der Sinn für die richtige Ordnung der Dinge ist mir angeboren, wie ein Uhrwerk bestimmte er meine Kindheit.« Die aber, so der Grundton, war geprägt von einem über­mäch­tigen, eigen­artigen Vater, aus dessen Einfluss­sphäre sie sich zu befreien sucht, ohne es je zu schaffen. Früh­zeitig weiß Kate: »Ich habe keine Zukunft.« Viele Seiten später wird der Roman damit enden, dass Kate nach Hause zurück­kehrt, und »Welch ein Frieden.« wird der letzte Satz sein.

Dabei hat die junge Frau in ihrer frühen Auszeit am Golf von Mexiko durchaus an Leben und Werten ihrer Kom­milito­ninnen teilge­nommen, aller­dings ohne daraus Befrie­digung zu ziehen. In einer umfang­reiche­ren Sequenz erzählt sie, wie sie Grady in sein College begleitet und dort einige frühere Mitbe­wohne­rinnen aus dem Wohn­heim wieder­trifft. Offenbar hat sie ihr Studium mit der Ehe aufge­geben und sich seither voll­ständig von ihren ober­flächli­chen Alters­genos­sinnen ent­fremdet. Wie der Prozess einer Ent­frem­dung von der Realität erscheint auch, wie Kate in einem längeren Gespräch mit einem Poli­zisten versucht, einen myste­riösen Unfall zu begrei­fen, in den Grady mit seinem gelieb­ten Jaguar ver­wickelt war.

Im zweiten Buch erfahren wir Erhel­lendes aus der Fami­lien­ge­schichte, jetzt aus der distan­zier­teren Per­spek­tive der dritten Person. Vater Reverend Jason Jackson zieht mit seiner Ehefrau und den beiden Töchtern auf eine winzige Insel, die aus nur einem Ort besteht. Die dortige Gemeinde ist seit Jahren von Gott und der Welt ver­nach­läs­sigt. Der Vater ist eine höchst markante, furcht­ein­flö­ßende Erschei­nung, geprägt von einem kaputten Auge ohne Lid. Es »stand immer offen und glotzte gleißend blau und uner­müd­lich in die Welt«. Nur wenn Daddy allein mit seinem Herrn ringt, »gequält und aufge­wühlt«, umtost von Sturm und Gischt, verhüllt er es schüt­zend mit einem Schal. Bald sterben Kates »süßes« Schwes­ter­chen und die dem Wahn­sinn nahe Mutter, und Kate lebt alleine mit diesem dämoni­schen, erdrü­ckend präsen­ten Mann »in seinem Turm­zimmer«, »so finster und un­durch­schau­bar«. Obwohl er sich ihr im Alltag durch­aus freund­lich und anteil­neh­mend widmet und sie sich artig, zutrau­lich und wiss­be­gierig gibt, fühlt sie sich vor ihm wie ein nich­tiges Insekt im Netz einer riesi­gen Spinne, glaubt zu einem prä­kon­zeptio­nellen Nichts zu schrump­fen. Er »sah mein Leben, ehe ich es über­haupt gelebt hatte, und er wusste, jeder Schritt, den ich tat, würde mich am Ende nur wieder nach Hause bringen«. Argwöh­nisch beäugen die kinder­losen, von der Ein­tönig­keit ihres Insel­lebens abge­stumpf­ten Insel­bewoh­ner, wie der Reve­rend mit seinem sieben­jähri­gen Kind umgeht, sie unter­richtet, wie Kate mit »uner­träg­licher Aus­drucks­losig­keit« Passagen aus der Bibel rezitiert: »So ein unan­geneh­mes Kind … der Hauch des geweih­ten Verbre­chens umgibt sie – die Aura einer ge­weih­ten Hure … Sie spiegelt einzig ihren Vater.«

Im dritten Buch kehren wir mit Kate als Ich-Erzäh­lerin zurück ins College-Wohn­heim. Das Jahr, in dem sie und Grady »wie Ehe­leute« im Air­stream-Wohn­wagen im Wald gelebt haben, ist mit dem schweren Auto­unfall zu Ende gegan­gen. Nun ver­gegen­wärtigt sie sich wie im Traum frühere Balkon­szenen mit ihren hohl­köpfi­gen, auf Äußer­lich­keiten fixier­ten Mit­studen­tinnen, als sie bei­spiels­weise auf der Straße den mittel­losen Schwar­zen Corin­thian Brown beob­achten. Er ist auf dem Weg zu dem Schrott­platz, wo er Auto­wracks bewacht. Wegen seiner Haut­krank­heit säuselt eine der Studen­tinnen mit süß­licher Stimme: »Derma­titis-Dödel, willst du nicht hoch­kom­men und den Mädchen helfen, Brownies zu machen?«

Dabei ist Corin­thian Brown ein wahrer Freund von Kate. »Er be­schützt einfach die Dinge, die bereits be­siegt und zer­stört wurden«, und ge­nießt es, in den besse­ren Limou­sinen zu sitzen und gute Bücher zu lesen. Außer­dem hat er einen weite­ren Job und versorgt die Tiere in einem kleinen Zoo.

Unzweifelhaft belegt dieser Roman Joy Williams’ außer­gewöhn­liches Sprach­ver­mögen. Die Erzähl­kraft der Autorin ist beein­druckend, viele Szenen bestechen und bleiben im Gedächt­nis. Die Charak­teristi­ken der Haupt- und Neben­figuren sind einfalls­reich, teil­weise poe­tisch, ebenso wie viele Be­schrei­bungen der Schau­plätze. Nach dem Tod der Mutter etwa durch­schrei­ten wir Zimmer für Zimmer des leerge­räum­ten Pfarr­hauses, bis wir in der Küche auf Kate treffen, wie sie »fiebrig und nach­denk­lich« trockene Corn­flakes isst. »Das Ölge­mälde lehnte an der Wand.«

Dennoch lohnt das betagte Werk die späte edito­rische Mühe meines Erach­tens nicht mehr so ganz. Stilis­tisch, erzähle­risch und thema­tisch finde ich es allzu­sehr seiner Zeit verhaf­tet, dazu unein­gängig, schwer ver­ständ­lich, biswei­len rätsel­haft. Was in den Sieb­ziger­jahren inno­vative und provo­kante Formu­lierun­gen und Chiffren gewesen sein mögen, hat heute bis­weilen Reiz, Rele­vanz und Origina­lität einge­büßt.

Obendrein stößt mich (ganz zeitunab­hängig) ab, wie die Autorin deut­liche Schwer­punkte bei absurd-splee­nigen Ideen, schockie­renden Verun­glimpfun­gen, obs­zönen Ver­störun­gen setzt (»eine Vulva aus Plastik« als Ansteck­nadel, »Eiter in der Kirsch­torte«, »in den Weiß­wein gepisst« und Schlim­meres im Top-Restau­rant), um eine über­spitzt düstere Atmos­phäre zu schaffen. Was leistet ein winziges Detail wie das, der Schrott­händler und Arbeit­geber Corin­thian Browns habe »seine erste und letzte Frau getötet, indem er ihr Gesicht zu fest in eine heiße Pfanne mit Essen drückte, das ihm nicht schmeckte«? Oder Kates ausführ­liche Schilde­rung, wie eine Touristin im Rolls-Royce die Windel ihres kleinen Jungen wechselt und seine Exkre­mente detail­liert analy­siert? Zum Ver­ständ­nis vieler Szenen aus Kates Fantasie muss man wohl Freud und die Tiefen­psycho­logie heran­ziehen, etwa um die Geheim­nisse der Tochter-Vater-Beziehung, aber auch von Einzel­bildern wie das der »Fische, die in den Mündern ihrer Mütter geboren werden und sich bei Gefahr dorthin zurück­flüch­teten«, zu erahnen.

Kates Vater steht von Anfang bis zum Ende zwischen ihr und dem prakti­schen, zuver­sicht­lichen Grady. Ihr ist das bewusst, es liegt schwer auf ihrer Seele, sie möchte Grady reinen Wein ein­schen­ken (»Ich muss dir von Vater erzählen.«), aber es kommt nie dazu. So erfährt Grady gar nicht, dass der Reverend so furcht­ein­flößend war, dass Kate einst die Flucht vor ihm ergriff. Als der Vater später nach ihr sucht, um sie zurück­zu­holen, findet er sie in einem billigen Motel. »Was solltest du suchen, mein Liebling, was dich von mir fortführt?«, fragt er seine Tochter. Ihre Antwort: »Das sage ich dir, Daddy: Liebe. Ich habe Liebe gesucht.«


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