Rezension zu »Der Hase mit den Bernsteinaugen« von Edmund De Waal

Der Hase mit den Bernsteinaugen

von


Historischer Roman · Zsolnay · · Gebunden · 350 S. · ISBN 9783552055568
Sprache: de · Herkunft: gb

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Netsuke - Pretiosen aus Japan

Rezension vom 25.11.2011 · 166 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Edmund Arthur Lowndes de Waal, geboren 1964 in Notting­ham, England, ist Professor, Autor und Keramiker. Mit seiner 2010 erschie­nenen Familien­geschichte »The Hare with the Amber Eyes. A Hidden Inheritance« wurde er noch im gleichen Jahr mit dem Costa Book Award ausge­zeichnet. Nun, 2011, ist die deutsche Fassung »Der Hase mit den Bern­stein­augen« bei Zsolnay erschie­nen.

De Waal überblickt einen Zeitraum von etwa 150 Jahren und schildert uns die Geschicke seiner jüdischen Vorfahren, die Mitte des 19. Jahr­hunderts als kleine Handels­unter­nehmer in Odessa begannen, eines der reichsten Finanz­imperien in Europa aufbauten und schließ­lich in der Nazizeit verfolgt und enteignet wurden, alles verloren. Einzig eine Sammlung von 264 Netsuke hat den Krieg über­standen.

Netsuke sind etwa fingergroße Tier- und Menschen­figuren, kunstvoll und mit liebe­vollen Details aus Buchsbaum-, Kastanien-, Wurzel­holz und Elfenbein geschnitzt. Seit dem 17. Jahr­hundert dienten sie als Knöpfe, Schnallen und ähnliche Dekora­tionen – oder sie waren einfach nur dazu da, sie in der Hand zu halten oder in der Hosen­tasche mit geradezu zärt­lichen Empfin­dungen bei sich zu tragen. Die Zeit verleiht ihnen eine ganz besondere Patina.

Dass sich die Sammlung dieser zierlichen Pretiosen nun in einer Glas­vitrine in Edmunds Wohnung in London befindet, ist Anna zu verdanken, der Wiener Zofe von Baronin Emmy, des Autors Urgroß­mutter und Ehefrau von Viktor Ephrussi, seinem Urgroß­vater. Während die Nazis im Palais an der Ring­straße alles konfis­zierten, schaffte Anna die Figürchen klamm­heimlich in ihrer Schürzen­tasche nach und nach in ihr Zimmer. Während der Kriegs­jahre schlief sie auf den Kostbar­keiten, die sie in ihrer Bett­matratze gut versteckt hatte.

1994 starb Edmunds Großonkel Ignaz Ephrussi, genannt Iggie. Er war kurz nach dem Ende des 2. Welt­kriegs ins total zerstörte und von den Ameri­kanern besetzte Tokio gezogen. Es war sein Wunsch, dass Edmund sich der Netsuke annehmen solle.

Viel hat Edmund seinen Freunden von den Netsuke und seiner berühmten Familie erzählt, bis er sich 2005 endlich ent­schloss, dem weiten Weg der winzigen Objekte, die eng mit den Erinne­rungen an seine Familie verknüpft sind, zu folgen und ihn niederzu­schreiben.

Den Grundstein für die weit verzweigte Familie und ihren Wohlstand legte der Ururur­groß­vater des Autors, Charles Ephrussi, der aus Griechen­land stammte und einen lukra­tiven Getreide­handel begann. Edmunds Urgroß­vater Viktor, 1860 in Odessa geboren, sieht wie schon sein Onkel Leon die Zukunft in Europa: Paris, Wien und London. Durch Hoch­zeiten der Kinder verzweigt sich die Familie schnell. Gut, dass im Buch­vorsatz ein Stamm­baum abge­druckt ist, sonst würde man ange­sichts der zahl­reichen Familien­angehö­rigen leicht die Orien­tierung verlieren.

Um auf den Spuren der Netsuke zu bleiben, befinden wir uns nun bei Charles Ephrussi, einem der drei Söhne von Leon, welcher seine Privat­bank in Paris leitet. Seine anderen Geschwis­ter bauen Filialen in London und Wien auf. Bald gehören die Ephrussi neben den Roth­schilds zu den reichsten Familien Europas.

Für Charles gibt es Schöneres im Leben als den schnöden Mammon, und so verab­schiedet sich der junge, vermö­gende Dandy von seiner Arbeit als Banker. Künste aller Art faszi­nieren ihn. Er leitet die Kunst­zeit­schrift Gazette des Beaux-Arts, veröffent­licht Artikel über Albrecht Dürer und wird zu einem Sammler heute bedeu­tender impres­sionisti­scher Maler. Er organi­siert Ausstel­lungen, fördert, wo und wen er kann. Wie geschätzt Charles gewesen sein muss, belegt ein Bild von Charles Pierre-Auguste Renoir. In seinem Gemälde »Das Frühstück der Ruderer« (1881) hat er den groß­zügigen Mäzen der Künste verewigt.

Bevor Charles sich den Impres­sionisten widmete, war er wie viele Pariser, die es sich leisten konnten, der Modewelle der Japonai­series verfallen. Legendäre Selten­heiten aus Japan, einst nur für Könige erschwing­lich, wurden nun massen­weise impor­tiert. Wer etwas auf sich hielt, kaufte alles, insbe­sondere Lack­arbeiten wie zum Beispiel Dosen und Scha­tullen, Fayencen, Porzellan, Seide, Wand­schirme mit Blattgold. Auch Netsuke wurden in Europa angeboten, aber viele hielten sie für Nippes: ein Oktopus, viele Ratten, eine Mispel, ein sich liebendes Paar ... Nur Charles hatte den richtigen Kunst­verstand, erkannte den Wert der fernöst­lichen Kleinode und stellte sie auf grünem Samt in einer Vitrine aus.

Später schenkt Charles seine Netsuke-Sammlung dem Cousin Viktor (Edmunds Urgroß­vater) zu dessen Hochzeit mit der Baronin Emmy. Doch als das Paar in ein Palais mit herr­schaft­lichen Prunk­räumen und Pracht­stiege – das repräsen­tativste Haus an der Ring­straße in Wien – einzieht, verschwin­den die Minia­turen in Emmys Ankleide­zimmer.

Mit den Nationalsozialisten geht die Ära der Ephrussis in Wien wie der Juden in ganz Europa auf brutale Weise zu Ende. Die Ephrussis haben noch ein wenig Geld und Bezie­hungen, dem einen oder anderen gelingt die Flucht. Edmunds Groß­mutter Elisabeth heiratet einen Holländer, lebt in London. Als sie nach dem Krieg kurz nach Wien, den Ort ihrer Kindheit, zurück­kehrt, gibt Anna ihr die kleinen Sammler­stücke. In einer Akten­tasche nimmt Elisabeth sie mit und schenkt sie ihrem jüngeren Bruder Iggie. Mit ihm gelangen sie wieder nach Tokio, in das Land, in dem sie einstmals ge­schaffen wurden.

Auf Seite 346 schreibt de Waal, wie wichtig es ihm ist, gründlich zu arbeiten, immer wieder alles zu über­prüfen, um alles richtig wieder­zugeben. Er hat alle Orte aufge­sucht; sogar in Odessa hat er an der Promenade gestanden, wo sich 1880 das Bank- und Wohnhaus der Ephrussis befand. Auf diese Weise hat er ein Sitten­gemälde geschaf­fen, bei dem jeder Pinsel­strich Aussage­kraft hat – mal zart hinge­tupft, mal pointiert, mal kräftig aufge­tragen, mal freund­lich hell, mal dunkel düster, und bisweilen mit seinen bitteren Tränen versehen. Viele Schau­plätze sind zerstört, manche neu aufgebaut, andere aus alten Foto­grafien, Erzäh­lungen, Tagebuch­aufzeich­nungen detail­genau rekon­struiert. Er lässt uns Einblick nehmen in das Alltags­leben seiner wohl­situierten Verwandt­schaft – wobei man den Eindruck gewinnt, das Geld vermehre sich von ganz allein, denn wirklich zu arbeiten scheint niemand zu müssen. Repräsen­tative Empfänge, Bälle, Treffen in Salons zum Tee oder beim Billard bestimmen ihre Tage. Kaum vorstell­bar, dass Emmy die meiste Zeit ihres Tages im Ankleide­zimmer verbringt: Vierzig Minuten benötigt sie allein dafür, ihre Löckchen unter ihrem Hut zu drapieren. Mit beson­derem Genuss werden Sie Seite 166 f. mit der Abbildung studieren: De Waal muss mit den Bern­stein­augen des kleinen Hasen aus der Vitrine heraus zuge­schaut haben, was die Baronesse alles anziehen muss, bis sie sich endlich ganz en vogue im Ausgeh­kostüm der Öffent­lichkeit präsen­tieren kann.

Edmund de Waals historische Betrachtung umschließt die Gesamt­situation Europas, speziell die Öster­reich-Ungarns und Wiens, seit den Gründer­jahren über die Anfänge des National­sozialis­mus bis zu Hitlers wahn­sinnigen Kriegen und seinem Untergang. Im Mittel­punkt steht die familiäre Situation der Ephrussis, die sich als Wiener Juden assimi­liert hatten und großzügig Anleihen an das Regime vergaben. De Waal kann seine persön­liche Betrof­fenheit nicht immer zurück­halten, was sein Zeit­doku­ment als umso authen­tischer und anrüh­render heraus­hebt. Dabei zeichnen ihn seine Beschei­denheit und Zurück­haltung besonders aus. Nachfahr einer so renom­mierten, einfluss­reichen und unvor­stellbar wohl­habenden Familie zu sein lässt bei ihm keinen Standes­dünkel aufkommen.

Auch dank der nuancierten, feinen Wortwahl ist »Der Hase mit den Bern­stein­augen« ein Lesegenuss, von dem ich keine Sekunde der Lektüre missen möchte.


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