Rezension zu »Das Rosie-Projekt« von Graeme Simsion

Das Rosie-Projekt

von


Belletristik · Krüger · · Gebunden · 352 S. · ISBN 9783810519511
Sprache: de · Herkunft: au

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Die ganz Normalen und die anderen Normalen

Rezension vom 08.02.2014 · 83 x als hilfreich bewertet mit 3 Kommentaren

Warum finden Frauen diesen Mann bloß unattraktiv? Donald Tillman sieht gut aus, er ist 39, durchtrai­niert, intelligent und als Assistenzprofessor im Fach­ge­biet Genetik in gehobener Position mit überdurch­schnittlichem Ein­kom­men. Trotz all dem hat Don ein »Partnerin-Problem«. Schon Freund­schaf­ten zu schließen fällt ihm schwer. Was für ein persönlicher Mangel auch immer dahintersteckt: »hinsichtlich ro­mantischer Beziehungen« wirkt er sich besonders nachhaltig aus.

Zu Kollege Gene und seiner Frau Claudia, einer klinischen Psychologin, unterhielt Don eine lockere Be­zie­hung, die ihm vollkommen genügte. Sie führten »zahlreiche interessante Gespräche« im Institut, dann folgten Einladungen nach Hause zum Essen und »weitere Rituale der Annäherung«. Damit hatte Don jetzt insgesamt zwei Freunde. Deren Versuch, sein »Ehefrauenproblem« durch das eine oder andere date zu lö­sen, hat Don freilich schnell beendet: reine Zeitverschwendung, beruhte es doch »auf dem traditionellen Verabredungsparadigma«, dessen »Erfolgswahrscheinlichkeit in keinem Verhältnis zu Aufwand und nega­tiven Erfahrungen stand«.

Dons Alltag ist im Minutentakt durchorganisiert. Verzögerungen in Folge von Unpünktlichkeit oder Un­vor­her­seh­barem muss er durch weitere Optimierung aufholen. Rigide Ordnung beherrscht auch seine Woh­nung. Die Speisekammer ist nach einer Standardmenüfolge für jeden Tag der Woche eingeräumt. (Jeden Mittwoch kocht er »Hummer-Mango-Avocado-Salat mit Fliegenfischkaviar in Wasabi, kross ge­rös­te­tem Seegras und frittierter Lauchgarnierung«.) Sein gesamtes Leben ist zeit- und kosteneffizient opti­miert. Bilder an der Wand? Das kann man kostengünstiger haben, wenn man eine Galerie besucht.

Spätestens jetzt ist ein unvorbereiteter Leser befremdet über diesen außergewöhnlichen Menschen, der in mancher Hinsicht anders tickt als Normalsterbliche: Don ist Autist mit Asperger-Syndrom, und Graeme Simsion lässt seinen Protagonisten in freiweg seiner sperrigen Ich-Form erzählen.

Menschen wie er sind insbesondere in ihren sozialen Interaktionen beeinträchtigt. Sie empfinden weder ei­gene Gefühle noch können sie die der anderen wahrnehmen oder einschätzen. Damit leben sie gewisser­maßen hermetisch; sie genügen sich selber, leben in starren Rhythmen, und jegliche Veränderung bringt sie in innere Aufruhr. Schon Berührungen ihres Körpers sind ihnen unangenehm. Viele von ihnen sind über­durchschnittlich intelligent und naturwissenschaftlich begabt.

Don ist sich seiner neurologischen Besonderheit selbst nicht bewusst. Als er in Vertretung für Gene einen Vortrag über das Asperger-Syndrom halten soll und über die Symptome recherchiert, hält er sie für »Varia­tio­nen der menschlichen Hirnfunktionen«, deren Einstufung als »medizinisch auffällig« ihm nicht ein­leuch­tet: Sie wichen lediglich von gesellschaftlichen Normen ab, die ihrerseits nicht absolut, sondern »kul­tu­rell bedingt« seien (»die gängigsten menschlichen Konfigurationen«).

Auch seine eigenen sozialen Interaktionen analysiert er auf einer statistischen, quantifizierenden Basis. Er protokolliert sehr genau, wie andere sein Verhalten wahrnehmen, zergliedert ihre Sicht auf ihn und bemüht sich, erkannten Normen zu entsprechen (»Ich merkte mir einige zwischenmenschliche Verhaltenstechniken für den möglichen späteren Gebrauch.«). Dies gelingt jedoch nicht immer; es verbleiben für ihn uner­gründ­liche Spielräume (»Ich war nicht sicher, wie ich ein normales menschliches Wesen imitieren sollte.«). Am Schluss der Romanhandlung fasst er seine Erkenntnisse über sich, etwa einen »Mangel an Empathie«, als »Symptome des Autismus-Spektrums« nüchtern zusammen: »Ich war anders konfiguriert.«

Auf seine wissenschaftliche Weise geht er auch das »Partnerin-Problem« rational und zielorientiert an. Schon im Vorfeld muss herausgefiltert werden, wer nicht in sein Anforderungsraster passt; Ausschluss­kriterien sind etwa Unpünktlichkeit, Übergewicht, Rauchen, Alkoholkonsum. Er entwickelt einen Frage­bogen, der alle relevanten Daten erfasst, und am Ende würde er, als handle es sich um eine Winterreifen­test, die ideale Ehefrau finden.

Indes purzelt durch einen Zufall die denkbar inkompatibelste Person in Dons Alltag. Rosie ist einfach »ver­korkst«. Sie hat rot gefärbte Haare, kann nicht kochen, raucht, jobbt in einer Schwulenbar, lebt in einer an­de­ren »Zeitzone« (der der Verspätungen) und wirbelt sein aufgeräumtes Leben gründlich durcheinander. Aber sie zeigt Don auch, wie schön und weit die Welt sein kann. Als sie erstmals den »phantastischen Aus­blick« von Dons Appartement genießt, gerät sie ins Schwärmen; er selbst hatte den damals beim Kauf »ein­mal begutachtet«, das genügte.

»The Rosie Project« Graeme Simsion: »The Rosie Project« bei Amazon (übersetzt von Annette Hahn) ist die zarte Liebesgeschichte zweier maximal un­glei­cher Menschen. Der Handlungsverlauf ist einfach und vorhersehbar, unerwartete Span­nungs­ele­mente bleiben aus. Die Sprache ist schlicht, aber der Duktus kann sich stellenweise querstel­len, wenn der Autor seinem Ich-Erzähler freies Spiel lässt.

So passen alle Elemente der Gestaltung perfekt zum Wesen des Protagonisten. Was zunächst spröde, ab­sonderlich (oder – in Rosies Fall – chaotisch) anmutet, wird in zahlreichen kleinen Episoden verständ­licher, vertrauter, liebenswert. Der Autor blamiert seine Figur nicht, sondern porträtiert sie auch in peinli­chen Situa­tio­nen behutsam und einfühlsam: »Abendgarderobe« schrieb die Einladung zum Akademikerball vor, und so erscheint Assistenzprofessor Tillman in Frack und Zylinder. Als ihm die entstandene Ver­legenheit be­wusst wird, löst er sie ganz non-chalant auf, indem er mit großer Geste und Verbeugung den Hut lüpft; so ge­winnt er die Herzen aller Anwesenden.

Umgekehrt eröffnet die Erzählperspektive auch uns neue Einblicke in die Welt der ganz Normalen. Was Don beobachtet, vermutet und schlussfolgert, verfremdet unsere gewohnte Sicht auf uns selbst, wie wir sie als selbstverständlich hinnehmen. Dabei erfährt manches Phänomen, in Dons ungewöhnlichen Farben ver­mittelt, eine verdiente Ernüchterung. Dieser Eindruck entsteht zum Beispiel (ob intendiert oder nicht) bei der Figur Genes. Der führt mit seiner Frau Claudia eine offene Paarbeziehung. Kaschiert mit dem Mäntel­chen wissenschaftlicher Experimentalforschung (Fachbereich »Sexualität und Genetik«) schläft er mit jeder Menge Frauen verschiedener Nationalitäten.

»Das Rosie-Projekt« ist ein leiser Roman, der mit Empathie für Menschen, die »anders« sind, und auch zwischen den Zeilen gelesen werden will.


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Kommentare

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Zu »Das Rosie-Projekt« von Graeme Simsion wurden 3 Kommentare verfasst:

Beatrix Petrikowski schrieb am 09.10.2015:

Das Absurde daran ist ja, dass Don, selbst Asperger-Autist, erst lernen muss, Gefühle für andere, speziell für Rosie, zu empfinden, wobei er über das Thema einen Vortrag hält.

Kathrin Harder-Klammer schrieb am 15.08.2018:

Eines der schwächsten, vorhersehbarsten und plattesten Bücher, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Von vorne bis hinten linear konstruiert, mit langweiligen Protagonisten besetzt, einfach zum Gähnen. Nicht empfehlenswert.

Dr. Georg Petera schrieb am 01.10.2022:

Also die ersten 50 Seiten nur schnell quergelesen und die letzten 10 Seiten ebenfalls. Den Rosie-Teil - etwa ab Seite 295 ebenfalls nur kurz ein paar Seiten. Manche Kritik-Punkte (bzw. Rezension) kann ich teilen, zumal ich als selber als "kleiner" Autist und gleichzeitig Psychologie Studium mit Abschluss (was bei einem Asperger-Autisten nicht selbstverständlich ist) ja schon prädestiniert wäre, da einen vernünftigen Kommentar hinzulegen.
Ein paar Sachen scheinen mir schon sehr unlogisch - etwa die Freundschaft mit Daphne. Sie wird erst als hochintelligent geschildert, nur um dann in ultrakurzer Zeit zur hoch debilen Vergesslerin zu verfallen (Alzheimer). Warum hat Don so viel Zeit auf sie verschwendet (sie war dicklich und nicht attraktiv), wo er doch sonst so darauf besessen war, Zeit effizient zu nutzen.

Ja sprachlich war das Buch an einigen Stellen gut gemacht, es wurden Spannungsbögen erzeugt und wenn man an diese geriet, wollte man unbedingt weiterlesen.
Aber insgesamt kann ich nicht verstehen, warum dieses Buch so positive Rezensionen und hohe Leser: innen Zustimmung erhielt.
Das ganze ist halt schon ziemlich konstruiert und die über große Strecken funktionierende Sprach- Virtuosität kann da nicht darüber hinwegtäuschen.

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