Rezension zu »Abgesang« von Anna Hope

Abgesang

von


Belletristik · Kindler · · Gebunden · 416 S. · ISBN 9783463403229
Sprache: de · Herkunft: gb

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Die Hinterlassenschaften des Krieges

Rezension vom 02.04.2015 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

November 1920: Der Weltkrieg ist vorbei. Das Elend der Überlebenden geht wei­ter.

Großbritannien gehört zu den Siegermächten, hat aber mehr als 750.000 gefallene Soldaten zu beklagen. Viele Hinterbliebene wissen kaum, wo und wie sie trauern können, denn man hat ihnen nichts von ihren Liebsten zu­rück­ge­bracht, nicht einmal hinreichende Nachrichten.

Ein Heer von psychisch und physisch Versehrten hat das Land überflutet. Wenige Jahre zuvor waren sie als Helden in den Krieg gezogen, jetzt kehren viele von ihnen traumatisiert, arbeitsunfähig und auf Pflege angewiesen zurück. Sie können und wollen nicht aussprechen, was sie an Unvorstellbarem gesehen, was sie selber getan haben. So schleppen sie ihre leidvollen Erinnerungen mit sich herum, während ihre Ange­hörigen, die nichts von dem ahnen, was im Schlamm der Schlachtfelder geschah, ebenfalls allein bleiben, ratlos, hilflos und verständnislos.

Die Frauen, früher allein für den Haushalt zuständig, übernehmen jetzt zusätzliche Aufgaben als Kranken­schwestern; zusätzlich müssen sie Nebentätigkeiten finden, um den Lebensunterhalt der Familie zu si­chern. Liebesbeziehungen verfallen unter dem Druck des Alltags und der komplizierten psychischen Kon­stel­la­tion, aber viele Ehen werden formell aufrechterhalten, weil man sich seinen moralischen Ver­pflich­tun­gen nicht entziehen möchte und die Gesellschaft Scheidungen missbilligt.

Anna Hopes Debütroman »Wake« Anna Hope: »Wake« bei Amazon (den Judith Schwaab übersetzt hat) schildert nur fünf Tage im Leben dreier sehr verschiedener Frauen aus dem Großraum London. Ihre Situation steht für die vieler anderer in jener Zeit.

Ada und Jack sind schon ein Vierteljahrhundert verheiratet. Aber sie schweigen nur noch und gehen einan­der aus dem Weg. Ihre Ehe verlor ihren Inhalt, als ihr Sohn Michael in den Krieg zog. Als er sich 1916 frei­wil­lig melden wollte, konnte ihn sein Vater noch aus der Schlange der Bewerber zerren. Aber gegen den Ein­be­ru­fungs­be­fehl, der im März 1917 eintraf, war er machtlos. Jack hätte seinen Sohn gern vor den Be­hör­den versteckt, doch Michael und seine Mutter stimmten diesem Weg nicht zu. Man hoffte, der sich elend dahinziehende Krieg werde ohnehin bald zu Ende gehen. Ein halbes Jahr später wurde den Eltern die Ein-Satz-Nachricht zugestellt, »dass Ihr Sohn Michael am 11. September seinen Verwundungen erlegen ist«. Nie erhielten sie eine amtliche Mitteilung, nie genauere Angaben zu Ort und Umständen, nie seine »Hun­de­mar­ke«.
So spärlich kann Ada den Todes ihres Kindes nicht hinnehmen. Ohne ihr Frieden zu lassen, kreisen ihre Gedanken tagaus, tagein um Michael, der doch gewiss noch irgendwo leben muss. Ihr Haushalt, ihr Mann sind unwichtig geworden. Auf den Straßen sieht sie vermeintlich ihren Sohn, ruft seinen Namen – und muss dann doch einräumen, dass es ein Fremder ist, sie möglicherweise geträumt hat, einem Phantom nach­ge­lau­fen ist.
Ein mysteriöser Zwischenfall verstärkt noch Adas Unruhe. Eines Tages klopft ein junger Mann an ihre Tür. »Kriegsneurose. Einer von denen.« Man nennt sie ganz amtlich »Simulanten« und erkennt ihre Leiden nicht an. Sie müssen erst Beschwerde einlegen, damit sie ernsthaft überprüft, medizinisch untersucht, ihr Zittern und ihre Psychosen als Krankheit anerkannt werden. Bei der Arbeitsvermittlung chancenlos, gehen viele, um ein paar Pennies zu verdienen, mit Bauchladen von Haus zu Haus, bieten lustlos Tischdecken, Knöpfe und dergleichen Kram an, den niemand braucht. Auch Ada will eigentlich nichts kaufen, lässt den Fremden dann aber doch am Tisch Platz nehmen. Während sie ihr Geld herauskramt, hört sie, wie er »Michael?« hervorstößt; dann beginnt sein Körper zu zucken. Als er wieder zur Ruhe kommt, streitet der Mann vehement ab, einen Michael zu kennen, und stürzt aus dem Haus ...

Henrietta Burns (»Hettie«) zieht allabendlich mit ihrer Freundin Di ins Tanzpalais. Mit zehn weiteren jun­gen Frauen und einem Dutzend junger Männer sitzen sie dort in Käfigen, um für jeweils einen Tanz als Partner gemietet zu werden. Bei sechstausend Vergnügungssuchenden jeden Tag ist die Nachfrage groß. Hetties Mutter missbilligt diese würdelose Arbeit, aber Hetties Beitrag zum Haushaltsgeld (die Hälfte ihrer Tanz­mie­ten) erwartet sie pünktlich. Wie Hettie ihr Zuhause hasst! Mutter arbeitet als Putzkraft, und ihr Bruder Fred ist zu nichts mehr zu gebrauchen, seit er aus dem Krieg zurück ist. Nachts schreit er im Schlaf, über Tag lungert er herum, findet keine Arbeit.
Wie alle alleinstehenden Frauen ist Hettie auf der Suche nach einer guten Partie (unversehrt in jeder Hin­sicht), die sie aus ihrem Elend befreien würde. Ist Ed ihre große Chance? Er sieht gut aus und scheint wohl situiert, aber er ist auch ein wenig seltsam. Er verdächtigt sie, eine bombenlegende Anarchistin zu sein. Einmal nimmt er sie mit in seine Wohnung, um dort in aller Offenheit miteinander zu reden. Er betrinkt sich, schlägt sich heftig gegen den eigenen Kopf und gesteht dann verzweifelt: »Ich kann das alles nicht mehr machen, selbst wenn ich wollte ... All das Zeug ... da unten.«

Die dritte der porträtierten Frauen stammt aus der Oberschicht. Lady Evelyn, 30, lebt bei ihren Eltern in einem herrschaftlichen Anwesen auf dem Land, umsorgt von Hauspersonal. Während der Kriegsjahre ar­beitete sie in einer Munitionsfabrik, bis sie an der Maschine einen Finger verlor. Ihr Bruder Edward befeh­ligte derweil als Captain eine Regimentseinheit von 250 Mann und kam nahezu unversehrt zurück (nur ein Bein zappelt hin und wieder). Aber er ist nicht mehr der alte. So liebenswert sie ihn einst fand, so nahe sie einander standen, jetzt meiden sie einander. Evelyn erträgt seine Selbstgefälligkeit, seine sarkastische Menschenverachtung nicht (»Glaubst du wirklich, ich erinnere mich an jeden kleinen Soldaten, der den Verstand verloren hat?«). Fraser, mit dem Evelyn vor dem Krieg drei Jahre lang zusammen gewesen war, ist nicht zurückgekommen. Eine feindliche Granate traf ihn und ließ nichts von ihm übrig.
Jetzt geht Evelyn jeden Morgen ins Büro der Arbeitsvermittlung. Sie mag ihre Arbeit, obwohl sie oft von ent­täusch­ten Männern beleidigt wird. Schon bevor man die Tür aufschließt, harren Schlangen von Warten­den auf der Straße. Viele Bewerber muss sie abweisen, insbesondere die »Simulanten«. Einfache Soldaten sind die ›Glückspilze‹ im System, denn sie erhalten eine kleine finanzielle Unterstützung. Offiziere gehen leer aus. Man erwartet, dass ihre Familien oder einflussreiche Freunde über die Mittel verfügen, sie zu un­ter­stüt­zen, obwohl die Realität inzwischen ganz anders aussieht. So fristen unzählige invalide Soldaten ein un­wür­di­ges Dasein auf der Straße, ziehen mit Werbeschildern um den Hals durch die Städte, sind als Bett­ler aus der Gesellschaft ausgegrenzt.

Während die Autorin die drei verwobenen Handlungsstränge parallel fortentwickelt und nach und nach die aufwühlenden Umstände und Verquickungen enthüllt, durchzieht die offizielle Bemühung um die Heroisie­rung des Kriegsgeschehens den Roman als eigenständiges Thema. Regierung, Oberschicht, Königshaus und Militär planen eine Friedensparade durch London und die Einrichtung eines zentralen Gedenkortes für den »Unbekannten Soldaten« in der Westminster Abbey. Man gräbt in Frankreich eine anonyme Leiche aus und transportiert sie in einem edlen Sarg mit militärischen Ehren über den Kanal und per Dampflok nach London. Am 11. November, dem Feiertag, kommen Tausende zusammen, um der Toten zu gedenken.

Anna Hopes beeindruckender Antikriegsroman »Abgesang« zeichnet ein düsteres Bild der Zeit. Die gesell­schaftlichen Umbrüche, wie die Autorin sie aus Großbritannien schildert, hatten nach den grausamen Kriegs­jah­ren viele Länder weiter verwüstet. Die materiellen Zerstörungen würden schnell beseitigt sein. Aber die schmerzlichen Risse durch die Gesellschaft, durch Tausende von Familien und unzählige Men­schen­see­len konnte kein Mörtel kitten.


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