Rezension zu »Die Töchter des Bärenjägers« von Anneli Jordahl

Die Töchter des Bärenjägers

von


Sieben Schwestern werden von ihrem wilden Vater zu wilden Kriegerinnen geformt, schaffen es aber nicht, in der Wildnis Finnlands ein menschenwürdiges Leben zu führen.
Familienroman · Hoffmann und Campe · · 400 S. · ISBN 9783455016406
Sprache: de · Herkunft: se

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Rezension vom 30.12.2023 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Die schwedische Autorin Anneli Jordahl, geboren 1960, erzählt uns eine Geschichte, die – anders als wir lange vermuten – keines­wegs in einer fernen Ver­gangen­heit spielt. Zu unserem Eindruck verleitet nicht zuletzt der Schau­platz: ein abgele­gener, einsamer Bauernhof in Finnland, wo der kräftige Heikki Leskinen wie ein Patriarch mit seiner Frau Louhi und sieben Töchtern im Alter von zwölf bis zwanzig Jahren wohnt. Ihre Lebens­weise mutet zudem archaisch an: Der Vater ist Bären­fänger und oft für Wochen abwesend. Wenn er dann nach Hause zurück­kehrt, erfreut er Frau und Kinder mit aben­teuer­lichen Ge­schich­ten und genießt die Bewun­derung, die ihm dafür zufällt – wie auch die Frauen aus der Nachbar­schaft den unge­zügelten, wilden Mann verehren. Die Erziehung seiner Töchter (darunter zwei Zwillings­paare) besteht nicht etwa darin, ihnen Lesen und Schreiben beizu­bringen, sondern ihnen schlichte, praktische Regeln mit auf den Weg zu geben. So schärft er ihnen bei­spiels­weise ein, dass man alles meiden sollte, was mit staat­lichen Behörden zu tun haben könnte. In Folge dieser Auffas­sung sind síe nirgendwo gemeldet, haben keine Ausweise und kennen keine der Errun­gen­schaf­ten der Zivili­sation wie Elektri­zität, Motori­sierung, erst recht Computer und Handys. Ganz oben in seinem Regelwerk aber steht: »Scheißt auf die Männer.« Die Töchter sollen, wenn sie nicht ewig unter­drückt sein wollen, den Umgang mit Männern meiden und ein Leben als Kriege­rinnen führen.

Wohin es führt, sollten sie den väterlichen Rat missachten, können die Töchter seit jeher live verfolgen. Denn das Zu­sammen­leben der Familie ist ein emotio­naler Horror. Tag für Tag erlebt Louhi Demüti­gungen, nie erfährt sie Zeichen der Zuneigung als Ehefrau und Mutter, einzig in ihrer Funktion als Gebärende wird sie anerkannt. Selbst ihre Töchter hassen sie. Es ist ihnen schleier­haft, was die Eltern jemals anein­ander geschätzt, ge­schwei­ge denn geliebt haben mögen. (Erst viele Jahre später wird ihnen das Tagebuch, das die Mutter geführt hat. die Augen öffnen.) Während ihre Mutter ein Leben als niedere Dienst­magd fristet, lehnen die Mädchen jegliche »Weiber­arbeit« ab. Ohne Aufgaben und Pflichten genießen sie eine unge­zügelte Freiheit, toben, grölen, prügeln sich und schießen, wie vom Vater gern gesehen, Eich­hörn­chen, um deren Hirn zu essen (»fett und schmack­haft«).

Als eines Tages der Vater von einem Bären getötet wird und auch die Mutter stirbt, sind die Mädchen plötzlich ganz auf sich gestellt, und es erweist sich, dass sie auf ein eigen­ständi­ges Leben völlig unvor­be­reitet sind. Der Bauernhof ist marode, die Tiere sind aus Ver­nach­lässi­gung verwahr­lost und schier verhun­gert. Die Option, dies alles und ihr eigenes Dasein mit ihrer Hände Arbeit zu richten, ist den Schwes­tern bewusst, aber sie verwerfen sie schnell, denn es mangelt ihnen an Geld und Material, insbe­sondere aber an Lust zu arbeiten. Statt­dessen ziehen Johanna, die Zwillinge Tiina und Laura, die gott­gläubige Simone, die Zwillinge Tanja und Anne, schließ­lich Elga, die jüngste und scharf­sinnig­ste von allen, in die karge Jagdhütte ihres Vaters im Wald, wo es kein Wasser, keinen Spiegel, keine Uhr gibt.

In dieser Umgebung verwil­dern die Mädchen vollends. Planlos leben sie in den Tag hinein, führen ein hem­mungs­loses Lotter­leben, ver­nach­lässi­gen ihre Körper, bis sie aus allen Poren stinken, die Haare verfilzen, die zerfled­dernde Kleidung an ihnen her­unter­hängt. Sie füllen ihren Alltag mit derben Macht­kämpfen, rauchen und saufen bis zur Be­sin­nungs­losig­keit, kennen bei ihrer Wortwahl, der morali­schen Halt­losig­keit wie bei der Ausübung von Gewalt keine Grenzen. Nichts und niemand stimu­liert einen Lern­prozess hin zu einem zivi­lisier­teren Umgang mitein­ander.

Johanna, die älteste, erklärt sich zur Stammes­führerin, zum Häuptling, ordnet an, was sie für richtig hält, und unter­drückt jeden Wider­stand mit schweren körper­lichen Strafen. Zwar versuchen die Jüngeren und Schwä­cheren, sich der schmerz­haften Willkür zu entziehen, doch jede kämpft für sich allein. Ge­schwis­ter­liche Gefühle, Solida­rität und Verant­wortung kommen nicht auf. Als eine von ihnen im Wald ver­schwin­det und nicht mehr auftaucht, weint man ihr keine Träne nach.

Die entscheidende Bewährungsprobe steht mit dem eiskalten Winter bevor, auf den die kleine Gruppe mangels Vorkeh­rungen schutzlos zutreibt.

Während die Mädchen einmal auf dem Markt ihre Waren feil­boten, trat eine weitere Person in ihr Leben, aus deren Per­spek­tive es erzählt wird. Es ist die Heimat­forsche­rin Sunniva, die gleich im ersten Kapitel berichtet, wie sie drei fast gleich aus­sehende, völlig verwahr­loste Mädchen beob­achtet und foto­grafiert. Deren Erschei­nungs­bild und die Präsen­tation ihrer Produkte – Fuchs­schwänze, »Bären fleisch. Süß Walthim­beeren« – schrecken mögliche Kunden eher ab, aber auf Sunniva springt, als Feind­selig­keit und eine unmiss­ver­ständ­liche Drohge­bärde sie persön­lich treffen, eine elek­trisie­rende Energie über, und ihre Neugierde ist geweckt. Sie recher­chiert auf den Ämtern und hört zu, wenn die Dörfler über die unge­zähmte Horde und deren Familie plaudern. Sie reichert ihre Re­cherche­ergeb­nisse mit eigenen Gedanken und Theorien an und ent­wickelt schließ­lich die intensive Handlung mit Fantasie und Poesie, so dass Be­schrei­bun­gen entstehen, die unsere Vor­stellungs­kraft beflügeln und starke Bilder im Kopf entstehen lassen.

Anneli Jordahls »Björnjägarens döttrar« wurde 2022 in die Shortlist für Schwedens re­nommier­testen Litera­turpreis aufge­nommen und von Nina Hoyer ins Deutsche übersetzt. Für ihre Grundidee hat sich die Autorin von einem finni­schen Klassiker aus dem Jahr 1870 inspi­rieren lassen. Auch in Aleksis Kivis Roman »Die sieben Brüder« lebt eine neun­köp­fige Familie weitab der Zivili­sation auf einem Bauernhof. Als die Eltern sterben, sind die sieben Söhne zwischen achtzehn und fünfund­zwanzig Jahre alt und ergreifen ihre Chance auf grenzen­lose Selbst­bestim­mung. Sie verpach­ten den Bauernhof, ziehen in die Einöde und genießen dort ein unge­zügel­tes Dasein. Sie saufen, prügeln sich, philoso­phieren, üben sich in Schreiben und Lesen. Nach zehn Jahren anarchi­schen Frei­heits­genusses kehren sie zu ihrem heimat­lichen Hof zurück und gründen eigene Familien.

Abgesehen von der bisweilen unter die Haut gehenden Erzähl­weise konnte mich Anneli Jordahls Variante von Kivis Plot mit umge­kehr­ten Vor­zeichen nicht so richtig über­zeugen. Allzusehr hat die Autorin ihre Charak­tere reduziert und über einen einzigen Kamm geschoren: Kraft, Gewalt und Männ­lich­keit bewundern sie, während ihnen jegliche Weib­lich­keit genommen ist. Zarte Licht­blicke erhellen das Konstrukt nur un­wesent­lich. So hat sich eines der Mädchen selbst das Lesen beige­bracht, möchte ihre Fähig­keiten weiter­entwi­ckeln und auch ihre Schwes­tern moti­vieren, aber die sind für so etwas nicht zu interes­sieren. Was ist also Jordahls Konzept? Es gibt genug Fiktionen von Menschen, die in eine widrige Umgebung geworfen werden (»Robinson Crusoe«, »Lord of the Flies«) und sich dort bewähren oder scheitern, was Rück­schlüsse darauf zulässt, welches Weltbild der Autor vermit­telt. Die Schwes­tern Leskinen hingegen ent­wickeln sich nicht. Ihr Umzug in die Wildnis ist kein Programm der Abkehr von einer kritisch betrach­teten Zivili­sation, sondern einfach nur die gerad­linige Fort­setzung dessen, was sie von Geburt an ge­zwun­gener­maßen gelebt haben. Da sie weder reflek­tieren noch kon­sequent handeln, um sich in ihrer feind­lichen Umgebung zu behaupten, ist auch ihr Scheitern alter­nativlos. Ihnen fehlen einfach entschei­dende Züge der Mensch­lich­keit. Selbst nach ihrer (unge­wollten!) Rückkehr in die Zivili­sation finden nur wenige von ihnen Moti­vation, ihre Zukunft zu gestalten, und ihr Stamm ist zerfallen.

Mein Fazit: Dieses befremd­liche, mittel­alterlich anmutende Pseudo­märchen von wilden Mädchen in finni­schen Wäldern wirkt kon­struiert, unserer Jetzt­zeit entrückt und lässt jeden Tief­gang vermissen.


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