
Paradise Garden
von Elena Fischer
Billie, 14, und ihre Mutter leben in prekären Umständen, sind jedoch in der Lage, das Beste daraus zu machen. Nach dem Unfalltod der Mutter macht sich das Mädchen auf die Suche nach ihrem unbekannten Vater.
Das Leben schön träumen
»Meine Mutter starb diesen Sommer.« In dem schlichten Aussagesatz, mit dem die vierzehnjährige Ich-Erzählerin und Protagonistin ihre Geschichte beginnt, schwingt eine ganze Welt von Emotionen und Bedeutungen mit. Für Erzsébet (»Billie« genannt) markiert er den Zusammenbruch ihrer bisherigen Welt, in der sie durch ihre Mutter versorgt, beraten und beschirmt aufwuchs, und den Beginn eines neuen Lebensabschnitts, von dem sie noch nicht ahnt, was er ihr bringen werde. Mit dem Schmerz über den Verlust ihres wichtigsten Mitmenschen kann sie mal schlechter, mal besser umgehen, die Ungewissheit über die Zukunft aber entzieht sich ihrem Einfluss. Sie ist abhängig von Erwachsenen und deren Regeln.
Die Welt der Erwachsenen hat bisher nicht zu Billies Gunsten funktioniert. Es gab Umstände, die das Leben des Mädchens und seiner Mutter erschwerten, aber nicht unüberwindlich waren. Dazu gehörte permanente Geldknappheit. Die beiden wohnten in einer armselig eingerichteten Zwei-Zimmer-Wohnung. Die Möbel kamen vom Sperrmüll, die Mutter schlief auf einer Luftmatratze, sie sparten bei Wasser und Strom, sie verdünnten das Shampoo in der Flasche, und häufiger Plasma zu spenden als Vollblut war lukrativer. Dass Mutter Marika alleinerziehend und eine ungarische Roma war, erwies sich bei Bewerbungen als ebenso ungünstig wie die Adresse der Hochhaussiedlung, in der sie wohnte (»Vielen Dank für Ihr Interesse, der Nächste bitte«), aber mit zwei Jobs (morgens putzen, abends kellnern) hielt sie die beiden passabel über Wasser. Als einzigen Luxus hielten sie an dem alten weißen Nissan fest, dessen Beifahrertür nicht mehr richtig schloss, so dass Billie sie in Linkskurven festhalten musste »wie einen geliebten Menschen, der über einem Abgrund baumelt«. Manchmal blieb am Ende des Monats sogar etwas Geld übrig, dann ging es ins »Venezia«, wo Billie »Paradise Garden«, den größten Eisbecher auf der Karte, bestellen durfte und ihre Mutter ein üppiges Trinkgeld gab. So genossen sie einen kurzen Moment der Großzügigkeit, die sie sich eigentlich gar nicht leisten konnten.
Die schönsten Freuden waren allerdings gratis. Im Sommer stellten sie ihre zwei Liegestühle in den Laubengang entlang der Wohnungseingänge, ließen sich im Badeanzug die Sonne auf Arme und Beine scheinen und schlürften Fruchtsaft mit Eiswürfeln, fröhlich dekoriert mit pinkfarbenen Strohhalmen und Schirmchen. Von ihrem siebzehnten Stock aus war der Blick frei auf die Autobahn, wo manchmal Tausende von Urlaubsreisenden im Stau feststeckten. Dann freuten sich die beiden, dass sie »schon da waren«, aber jede behielt für sich, dass dies nur eine vorgetäuschte Freude war und sie viel lieber mit denen da unten im Stau tauschen würde. Ein musikalisches Ratespiel im Radio gab ihren Träumen Vorschub. Ein Urlaub am Meer sollte es werden, am Atlantik, in der Karibik oder in Florida, Mutters verrücktestem Sehnsuchtsort.
Als sie eines Tages tatsächlich ein paar Hundert Euro gewinnen, packen sie ihre Siebensachen ins Auto (»Wir haben gar keine Koffer. Oder?«), und das Abenteuer kann losgehen. Doch ein Anruf aus Ungarn beendet den »Sommer meines Lebens […], bevor er richtig begann«. Die erkrankte Großmutter, 60, kündigt ihren Besuch an. Für Billie ist sie eine Unbekannte, »von meinem Leben so weit entfernt wie die Erde vom Mond«. Marika hat ihr nur wenig von ihr erzählt: Sie habe sie oft geprügelt, bis sie schließlich aus ihrem Haus floh. So bietet die Ankunft der Großmutter keinerlei Anlass zur Freude, und die Beziehung wird nicht besser (»Oma macht alles schlecht, was uns wichtig war.«).
Bei einem unglückseligen Unfall im Haus stirbt Billies Mutter. Da ihr Vater nicht einmal zur Beerdigung erscheint, plädiert das Jugendamt dafür, Billie in einer Ersatzfamilie unterzubringen, es sei denn sie akzeptiert ihre Großmutter als Erziehungsberechtigte. Die hat nach ihrem Krankenhausaufenthalt forsch den Haushalt übernommen und bemüht sich durchaus, die Enkelin für sich einzunehmen, aber Billie kann ihre Abneigung nicht überwinden.
Damit ist das Ende von Billies Kindheit besiegelt, die trotz prekärer Umstände doch eine glückliche war, und der zweite Abschnitt ihres jungen Lebens beginnt. Sie setzt ihre Hoffnungen auf den ihr ebenfalls unbekannten Vater. Einmal hat sie im Wäscheschrank ein Foto gefunden, auf dem er seinen Arm um Marika mit Billie-Baby legt. Alles was sie der Mutter über ihn entlocken konnte, war, dass er ein »widerliches Arschloch« gewesen sei. Doch für den unwahrscheinlichen Fall, dass er doch mal vor der Tür stehen könnte, hatte Billie bereits mit acht Jahren Ungarisch gelernt. Jetzt ist sie fest entschlossen, ihn ausfindig zu machen. Da Marika ihr auf den Parkplätzen der Supermärkte das Autofahren beigebracht hat, macht sie sich im heruntergekommenen Nissan auf den Weg. Am Ende ihres detektivischen Roadtrips, der sie mehr und mehr zu einer Erwachsenen werden lässt, wird sie einen alten, sehr schweigsamen, in sich gekehrten Mann finden. Was gibt es zu erzählen? »Das Geheimnis um meinen Vater passte auf zwei Seiten.«
Im ersten Teil bis zum Unfalltod der Mutter beleuchtet die Autorin das soziale Umfeld ihrer Figuren. Sie wohnen in einem Areal, das allgemein »Wohnblock Schrott-Friedhof« genannt wird, denn sein Merkmal ist der Müll. Aus gutem Grund beachtet Billie Mutters Verbot, zu nah am Haus entlang zu spazieren – aus den oberen Stockwerken fliegen nicht selten Abfälle, Geschirr, sogar ausrangierte Möbelstücke in die Tiefe.
In den Wohnblocks sind Menschen mit den unterschiedlichsten Problemen versammelt, und man hilft sich untereinander, so gut es geht. Heinz, der Nachbar, verprügelt seine Frau Uta, doch sie schafft es nicht, ihn zu verlassen. Ahmed wollte in Deutschland Chemie studieren, aber dazu kam es nie. Jetzt hat er auch noch seinen Job als Prospektverteiler verloren. Die schöne Luna, im Sonnenstudio angestellt, ist je nach Gefühlslage mal 23, mal 32 Jahre alt und kann gleichzeitig der fröhlichste und der traurigste Mensch sein. Wenn sie keinen Schlaf findet, räumt sie mitten in der Nacht die Wohnung auf, kritzelt Blätter voll, verschwindet für Tage und kehrt dann »wie ein verwundetes Tier« in ihre Wohnung zurück.
Lea ist Billies beste Freundin, und durch sie bekommt sie mit, dass es auch anderes gibt: »Genug Geld zu haben, um ans Meer zu fliegen, und zwar erster Klasse; ein Drei-Gänge-Menü zu bestellen, ohne hungrig zu sein; oder shoppen zu gehen, ohne dass die alten Sachen kaputt waren.« Bei Leas Familie – der Vater ist Banker – manifestiert sich die finanzielle Sorgenfreiheit nicht nur im klimatisierten Einfamilienhaus mit Pool, sonden auch darin, dass die Mutter rumänische Straßenhunde rettet, weil deren Schicksal sie rührt. Während solcher Überfluss Billie fasziniert, verachtet ihn Marika und schiebt die Almosen von Leas Familie (die »Reste vom Abendessen«) voller Wut direkt in den Müll. Die Freundschaft der Mädchen driftet auseinander.
Elena Fischers vielschichtiges Romandebüt – auf Anhieb für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert – stellt uns eine Mutter-Tochter-Beziehung vor, in der sich himmelhohe Ups und todtraurige Downs abwechseln. Trotz eines melancholischen Grundtons versprüht der Roman Zuversicht. Die Charaktere sind stark, einfallsreich und beharrlich und haben damit gute Chancen, ihre Ziele über alle Hindernisse hinweg zu erreichen.
Natürlich berührt uns das Wesen der Protagonistin ganz besonders. Als aufgeweckte Vierzehnjährige ist sie in vielen Dingen noch recht kindlich, unreif, unbedacht, klaut zum Beispiel im Kaufhaus. Andererseits ist sie vernünftig, realistisch, aufrichtig und fantasievoll, oft auch in sich gekehrt. Bestechend ist der sprachliche Zauber, den die Autorin ihr in den Mund legt. Billies Ausdrucksweise ist frisch, pfiffig, originell und sensibel, dazu frei von anrührendem Kitsch, temporären Moden und hohlem Zeitgeist. Sie hört gut zu und denkt mit, wenn andere sprechen (Großmutter hörte nicht auf zu erzählen, »als hätte sie einen Wörtervorrat angespart, den sie jetzt endlich loswerden wollte, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten war«.), sie erkennt, dass ihre Mutter »immer genau die richtigen Worte« für sie hat, amüsiert sich aber auch, wenn Marika bei deutschen Redewendungen knapp daneben trifft (»Sie brach Dinge über den Fuß, fuhr den Karren an die Mauer und sagte: ›Dieser Idiot sollte sich erst einmal an die eigene Stirn fassen!‹«), und sie nutzt Sprache, um sich selbst zu helfen. Wenn schlechte Laune aufkommt, schreibt sie Geschichten in ihr Notizbuch. Ist das Ende schlecht, dann schreibt sie »einfach so lange weiter, bis alles gut wurde«.
Marika, ihre Mutter, träumte einst davon, Tänzerin zu werden, stellte sich aber der Realität, die den Traum nicht zuließ und sie zu einem eher pessimistischen »Morgen-bin-ich-vielleicht-schon-tot-Typ« machte. Vor harten Lebenssituationen zu kneifen ist jedoch überhaupt nicht ihre Art. Vielmehr versucht sie, ihrer Tochter den oft dunkelgrauen Alltag mit Liebe, Humor und Fantasie zu verschönern und auch sie diese Kunst zu lehren.