Rezension zu »Paradise Garden« von Elena Fischer

Paradise Garden

von


Billie, 14, und ihre Mutter leben in prekären Umständen, sind jedoch in der Lage, das Beste daraus zu machen. Nach dem Unfalltod der Mutter macht sich das Mädchen auf die Suche nach ihrem unbekannten Vater.
Belletristik · Diogenes · · 352 S. · ISBN 9783257072501
Sprache: de · Herkunft: de

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Das Leben schön träumen

Rezension vom 13.02.2024 · 3 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

»Meine Mutter starb diesen Sommer.« In dem schlichten Aussage­satz, mit dem die vierzehn­jährige Ich-Erzäh­lerin und Protago­nistin ihre Geschichte beginnt, schwingt eine ganze Welt von Emotionen und Bedeu­tungen mit. Für Erzsébet (»Billie« genannt) markiert er den Zu­sammen­bruch ihrer bishe­rigen Welt, in der sie durch ihre Mutter versorgt, beraten und beschirmt aufwuchs, und den Beginn eines neuen Lebens­abschnitts, von dem sie noch nicht ahnt, was er ihr bringen werde. Mit dem Schmerz über den Verlust ihres wich­tigsten Mit­menschen kann sie mal schlech­ter, mal besser umgehen, die Unge­wiss­heit über die Zukunft aber entzieht sich ihrem Einfluss. Sie ist abhängig von Erwach­senen und deren Regeln.

Die Welt der Erwachsenen hat bisher nicht zu Billies Gunsten funk­tioniert. Es gab Umstände, die das Leben des Mädchens und seiner Mutter er­schwerten, aber nicht unüber­wind­lich waren. Dazu gehörte perma­nente Geld­knapp­heit. Die beiden wohnten in einer arm­selig einge­richte­ten Zwei-Zimmer-Wohnung. Die Möbel kamen vom Sperrmüll, die Mutter schlief auf einer Luft­matratze, sie sparten bei Wasser und Strom, sie ver­dünn­ten das Shampoo in der Flasche, und häufiger Plasma zu spenden als Vollblut war lukra­tiver. Dass Mutter Marika allein­erzie­hend und eine unga­rische Roma war, erwies sich bei Bewer­bungen als ebenso ungünstig wie die Adresse der Hoch­haus­sied­lung, in der sie wohnte (»Vielen Dank für Ihr Interesse, der Nächste bitte«), aber mit zwei Jobs (morgens putzen, abends kellnern) hielt sie die beiden passabel über Wasser. Als einzigen Luxus hielten sie an dem alten weißen Nissan fest, dessen Bei­fahrer­tür nicht mehr richtig schloss, so dass Billie sie in Links­kurven fest­halten musste »wie einen geliebten Menschen, der über einem Abgrund baumelt«. Manchmal blieb am Ende des Monats sogar etwas Geld übrig, dann ging es ins »Venezia«, wo Billie »Paradise Garden«, den größten Eisbecher auf der Karte, bestellen durfte und ihre Mutter ein üppiges Trinkgeld gab. So genossen sie einen kurzen Moment der Groß­zügig­keit, die sie sich eigent­lich gar nicht leisten konnten.

Die schönsten Freuden waren aller­dings gratis. Im Sommer stellten sie ihre zwei Liege­stühle in den Lauben­gang entlang der Woh­nungs­ein­gänge, ließen sich im Badeanzug die Sonne auf Arme und Beine scheinen und schlürf­ten Frucht­saft mit Eis­würfeln, fröhlich dekoriert mit pink­farbe­nen Stroh­halmen und Schirm­chen. Von ihrem sieb­zehnten Stock aus war der Blick frei auf die Autobahn, wo manchmal Tausende von Urlaubs­reisen­den im Stau fest­steck­ten. Dann freuten sich die beiden, dass sie »schon da waren«, aber jede behielt für sich, dass dies nur eine vorge­täuschte Freude war und sie viel lieber mit denen da unten im Stau tauschen würde. Ein musika­lisches Rate­spiel im Radio gab ihren Träumen Vorschub. Ein Urlaub am Meer sollte es werden, am Atlantik, in der Karibik oder in Florida, Mutters ver­rück­testem Sehn­suchts­ort.

Als sie eines Tages tatsächlich ein paar Hundert Euro gewinnen, packen sie ihre Sieben­sachen ins Auto (»Wir haben gar keine Koffer. Oder?«), und das Abenteuer kann losgehen. Doch ein Anruf aus Ungarn beendet den »Sommer meines Lebens […], bevor er richtig begann«. Die erkrankte Groß­mutter, 60, kündigt ihren Besuch an. Für Billie ist sie eine Unbe­kannte, »von meinem Leben so weit entfernt wie die Erde vom Mond«. Marika hat ihr nur wenig von ihr erzählt: Sie habe sie oft geprügelt, bis sie schließ­lich aus ihrem Haus floh. So bietet die Ankunft der Groß­mutter keinerlei Anlass zur Freude, und die Beziehung wird nicht besser (»Oma macht alles schlecht, was uns wichtig war.«).

Bei einem unglückseligen Unfall im Haus stirbt Billies Mutter. Da ihr Vater nicht einmal zur Beerdi­gung erscheint, plädiert das Jugendamt dafür, Billie in einer Ersatz­familie unter­zu­bringen, es sei denn sie akzep­tiert ihre Groß­mutter als Erzie­hungs­be­rech­tigte. Die hat nach ihrem Kranken­haus­aufent­halt forsch den Haushalt über­nommen und bemüht sich durchaus, die Enkelin für sich einzu­nehmen, aber Billie kann ihre Abneigung nicht über­winden.

Damit ist das Ende von Billies Kindheit besiegelt, die trotz prekärer Umstände doch eine glück­liche war, und der zweite Abschnitt ihres jungen Lebens beginnt. Sie setzt ihre Hoff­nungen auf den ihr ebenfalls unbe­kannten Vater. Einmal hat sie im Wäsche­schrank ein Foto gefunden, auf dem er seinen Arm um Marika mit Billie-Baby legt. Alles was sie der Mutter über ihn entlocken konnte, war, dass er ein »wider­liches Arschloch« gewesen sei. Doch für den un­wahr­schein­lichen Fall, dass er doch mal vor der Tür stehen könnte, hatte Billie bereits mit acht Jahren Ungarisch gelernt. Jetzt ist sie fest ent­schlos­sen, ihn aus­findig zu machen. Da Marika ihr auf den Park­plätzen der Super­märkte das Auto­fahren beige­bracht hat, macht sie sich im her­unter­gekom­menen Nissan auf den Weg. Am Ende ihres detek­tivi­schen Roadtrips, der sie mehr und mehr zu einer Erwach­senen werden lässt, wird sie einen alten, sehr schweig­samen, in sich gekehr­ten Mann finden. Was gibt es zu erzählen? »Das Geheimnis um meinen Vater passte auf zwei Seiten.«

Im ersten Teil bis zum Unfalltod der Mutter be­leuchtet die Autorin das soziale Umfeld ihrer Figuren. Sie wohnen in einem Areal, das allgemein »Wohnblock Schrott-Friedhof« genannt wird, denn sein Merkmal ist der Müll. Aus gutem Grund beachtet Billie Mutters Verbot, zu nah am Haus entlang zu spazieren – aus den oberen Stock­werken fliegen nicht selten Abfälle, Geschirr, sogar ausran­gierte Möbel­stücke in die Tiefe.

In den Wohnblocks sind Menschen mit den unter­schied­lichs­ten Problemen versam­melt, und man hilft sich unter­einan­der, so gut es geht. Heinz, der Nachbar, verprü­gelt seine Frau Uta, doch sie schafft es nicht, ihn zu verlassen. Ahmed wollte in Deutsch­land Chemie studieren, aber dazu kam es nie. Jetzt hat er auch noch seinen Job als Prospekt­verteiler verloren. Die schöne Luna, im Sonnen­studio ange­stellt, ist je nach Gefühls­lage mal 23, mal 32 Jahre alt und kann gleich­zeitig der fröh­lichste und der trau­rigste Mensch sein. Wenn sie keinen Schlaf findet, räumt sie mitten in der Nacht die Wohnung auf, kritzelt Blätter voll, ver­schwin­det für Tage und kehrt dann »wie ein verwun­detes Tier« in ihre Wohnung zurück.

Lea ist Billies beste Freundin, und durch sie bekommt sie mit, dass es auch anderes gibt: »Genug Geld zu haben, um ans Meer zu fliegen, und zwar erster Klasse; ein Drei-Gänge-Menü zu bestellen, ohne hungrig zu sein; oder shoppen zu gehen, ohne dass die alten Sachen kaputt waren.« Bei Leas Familie – der Vater ist Banker – mani­festiert sich die finan­zielle Sorgen­freiheit nicht nur im klimati­sierten Ein­familien­haus mit Pool, sonden auch darin, dass die Mutter rumäni­sche Straßen­hunde rettet, weil deren Schicksal sie rührt. Während solcher Überfluss Billie faszi­niert, verachtet ihn Marika und schiebt die Almosen von Leas Familie (die »Reste vom Abend­essen«) voller Wut direkt in den Müll. Die Freund­schaft der Mädchen driftet ausein­ander.

Elena Fischers vielschichtiges Roman­debüt – auf Anhieb für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert – stellt uns eine Mutter-Tochter-Beziehung vor, in der sich himmel­hohe Ups und tod­traurige Downs abwech­seln. Trotz eines melan­choli­schen Grundtons versprüht der Roman Zuver­sicht. Die Charak­tere sind stark, einfalls­reich und beharr­lich und haben damit gute Chancen, ihre Ziele über alle Hinder­nisse hinweg zu erreichen.

Natürlich berührt uns das Wesen der Protago­nistin ganz besonders. Als aufge­weckte Vier­zehn­jährige ist sie in vielen Dingen noch recht kindlich, unreif, unbedacht, klaut zum Beispiel im Kaufhaus. Ande­rer­seits ist sie ver­nünf­tig, realis­tisch, auf­richtig und fantasie­voll, oft auch in sich gekehrt. Beste­chend ist der sprach­liche Zauber, den die Autorin ihr in den Mund legt. Billies Aus­drucks­weise ist frisch, pfiffig, originell und sensibel, dazu frei von anrüh­ren­dem Kitsch, tempo­rären Moden und hohlem Zeitgeist. Sie hört gut zu und denkt mit, wenn andere sprechen (Groß­mutter hörte nicht auf zu erzählen, »als hätte sie einen Wörter­vorrat ange­spart, den sie jetzt endlich los­werden wollte, weil das Mindest­halt­bar­keits­datum über­schritten war«.), sie erkennt, dass ihre Mutter »immer genau die richtigen Worte« für sie hat, amüsiert sich aber auch, wenn Marika bei deutschen Rede­wen­dungen knapp daneben trifft (»Sie brach Dinge über den Fuß, fuhr den Karren an die Mauer und sagte: ›Dieser Idiot sollte sich erst einmal an die eigene Stirn fassen!‹«), und sie nutzt Sprache, um sich selbst zu helfen. Wenn schlechte Laune aufkommt, schreibt sie Ge­schich­ten in ihr Notizbuch. Ist das Ende schlecht, dann schreibt sie »einfach so lange weiter, bis alles gut wurde«.

Marika, ihre Mutter, träumte einst davon, Tänzerin zu werden, stellte sich aber der Realität, die den Traum nicht zuließ und sie zu einem eher pessi­misti­schen »Morgen-bin-ich-viel­leicht-schon-tot-Typ« machte. Vor harten Lebens­situa­tionen zu kneifen ist jedoch überhaupt nicht ihre Art. Vielmehr versucht sie, ihrer Tochter den oft dunkel­grauen Alltag mit Liebe, Humor und Fantasie zu ver­schönern und auch sie diese Kunst zu lehren.


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