
Wie Risse in der Erde
von Clare Leslie Hall
Beth, 17, verliebt sich in den etwas älteren Gabriel aus bestem Hause, aber halten kann sie ihn nicht. Später heiratet sie einen Farmer und wird glücklich mit ihm. Als Gabriel aus der weiten Welt ins Dorf zurückkehrt, löst ihre erneute Begegnung eine tragische Entwicklung aus.
Spannender Kitsch
Am Anfang dieses Romans steht eine düstere Frage: »Der Farmer ist tot […]. War es ein Unfall oder war es Mord?« Vierzehn Seiten später lesen wir, dass 1969 im ehrwürdigen Londoner Gericht »Old Bailey« ein Prozess zu Ende geht, der diese Frage beantworten soll. Dann wechselt das Thema erst einmal für die Vorgeschichte, doch im weiteren Verlauf der Handlung werden immer wieder Ausschnitte aus dem Prozessgeschehen eingefügt, bis wir am Schluss die volle Wahrheit über das Vorgefallene erfahren.
Schauplatz ist zunächst der kleine Ort Hemston in der südwestenglischen Grafschaft Dorset, Mitte der Fünfzigerjahre. Hier wächst in einem Farmhaus Elizabeth Kennedy (»Beth«, die Ich-Erzählerin) auf. In unmittelbarer Nähe lebt die feine und reiche Familie Wolfe auf »Meadowlands«, ihrem großzügigen Anwesen. Jeden Sommer lädt man alle Dorfbewohner zu einem Fest. Es ist der gesellschaftliche Hotspot des Jahres, und jeder spitzt dort die Augen und Ohren, um nichts von dem zu verpassen, was in den Wochen danach die Gespräche beherrschen wird.
Als Beth siebzehn ist, lernt sie bei dieser Gelegenheit den Sohn des Hauses kennen. Gabriel ist ein Jahr älter, in edlen Tweed gewandet und »erschreckend schön«, wie Beth das formuliert. Jedenfalls ist es beim ersten Anblick des Jünglings um die Schülerin, ein »Mädchen vom Lande«, geschehen. Auch er ist von der hübschen jungen Frau angetan und lädt sie ein paar Tage später zu einem Picknick am hauseigenen See. Und jetzt halten Sie sich fest: Romantik stellt sich ein, beide begehren einander zu küssen, es kommt zu weiteren Tête-à-Têtes und schließlich zu heißem [Spoileralarm!].
Schlag auf Schlag folgen nun noch mehr Überraschungen, mit denen niemand rechnen konnte: Als der Sommer zu Ende geht, muss der junge Herr zum Studium (Oxford, what else?). Seine Karriere muss eingetütet werden: Bestsellerautor soll er werden (ein Ausbildungsberuf?). Nicht zuletzt weil Frau Mama eine unstandesgemäße Verbindung in der Familie niemals absegnen würde (über eine kurze Affäre zum Hörnerabstoßen kann man hinwegsehen), endet die Beziehung zwischen Gabriel und Beth, und jeder Kontakt zwischen ihnen bricht ab. Später heiratet Gabriel eine vorzeigbarere junge Frau, bekommt einen Sohn mit ihr, und man zieht in die USA.
Dreizehn Jahre später (1968) ist Gabriel Wolfe frisch geschieden und jetzt wieder in Meadowlands eingezogen – als Hausherr. Sein Vater ist gestorben, seine Mutter hat ein neues Leben in Australien begonnen, aber mit der Rückkehr des Stammhalters hat trotzdem niemand gerechnet. Gabriel hat seinen zehnjährigen Sohn Leo mitgebracht, ein sensibles Kind, das Sehnsucht nach seiner in Amerika verbliebenen Mutter hat.
Auch Beth hatte inzwischen eine neue Liebe gefunden und den Farmer Frank Johnson geheiratet. Gemeinsam mit Franks Bruder Jimmy bewirtschaften sie den Hof. Obwohl die beiden einander innigst lieben, hat sie ein tragischer Unfall kurz vor Gabriels Rückkehr emotional aus der Bahn geworfen. Frank wird sich ewig Vorwürfe machen, dass er seinen einzigen Sohn Bobby einen Augenblick lang unbeaufsichtigt ließ und so seinen Tod verschuldete.
Wir ahnen es: Das Schicksal führt die ehemals so stürmisch Liebenden wieder zusammen, und sie müssen feststellen, dass das Feuer ihres Verlangens nie verloschen ist. Allerdings wohnen, ach!, zwei Seelen in Beths Brust, und die zweite ist ihre Liebe zu Farmer Frank. Um sich mit beiden zu arrangieren, bietet sich Beth als Tagesmutter für Leo an – eine geniale Konzept-Klatsche, die fünf Fliegen auf einen Streich glücklich macht: Leo hat wieder eine Art Mutter in der Nähe, kein klein Kind stört den Produzenten von Liebesroman-Bestsellern mehr bei der Arbeit, Vater Gabriel weiß den Buben in besten Händen, Beth hat einen Ersatz für Bobby, und die beiden immer noch und wieder Liebenden haben ein Alibi, um sich zu treffen, wann immer ihnen danach ist.
Nur einer ist in diesem Win-Win-Deal gelackmeiert: Farmer Frank ist nicht glücklich über Beths neue Aufgabe, ahnt wohl auch, was dahintersteckt, hält aber still, vielleicht weil ihn seine Schuld so quält. Und auch Beth ist immerhin bewusst, dass sie eine Grenze überschreitet, wenn sie ihren Ehemann glauben lässt, nur Leo ziehe sie nach Meadowlands.
Das Glück der beiden Hauptgewinner währt nur einen Sommer. Ungebremst geben sie sich insgeheim ihren Emotionen und ihrer Leidenschaft hin, fassen sogar ins Auge, eine feste Beziehung einzugehen. Doch bevor Beth ihre Wahl zwischen wieder aufgeflammter Jugendliebe und dem unfassbar herzensguten, selbstlosen Ehemann trifft, bringt eine Tragödie alles zum Einsturz.
Damit ist die eine Hälfte des Romanstoffs skizziert: die Liebesgeschichte zwischen Beth und Gabriel. Die massiv involvierte, innerlich zerrissene Ich-Erzählerin entfaltet den gesamten Problemkreis sehr umfangreich und differenziert, erörtert alle Fragen, die sich aus ihren Beziehungen ergeben, und prüft (wenn auch nicht ganz unvoreingenommen) ausführlich ihr Gewissen. Das bedeutet: Wir müssen viele Seiten voller Dramatik und theatralisch überbordender Seelenpein durchleiden, wobei Beth keine Gefühlsregung auslässt: zuviel des Guten! Zusammen mit all den Klischees im Plot – einfaches Mädel verfällt reich-schön-klugem Oberklassemann mit böser Mutter – und dem allzu breit gespreizten Charakter der Protagonistin – sowohl tüchtig-brave Bäuerin als auch heißblütiges Betthupferl als auch Verehrerin romantischer Poesie – hat mich dieser etwas triefende Part einigermaßen unterhalten, aber auch oft gelangweilt und geärgert.
Doch da ist ja noch die geschickt und überzeugend angelegte Krimihandlung: Wer hat den Farmer umgebracht und warum? (Die Unfall-Option ist nicht so ernst gemeint: Ein »präziser Schuss ins Herz« hat den Mann dahingestreckt, wie wir eine Zeile später lesen.) Aus der Liebesgeschichte schält sich nach und nach ein Kriminalfall heraus, dessen Spannungsbogen stetig aufwärts geht. Denn auch die Stück für Stück weitergeführte Gerichtsverhandlung lässt mit ihren Befragungen und Aussagen kaum ahnen, was in Wahrheit im Farmhaus geschehen ist. Wir müssen uns tatsächlich bis zum Schluss gedulden – und werden belohnt.
»Broken Country«, verfasst von der britischen Autorin Clare Leslie Hall, wurde zeitgleich in 31 Ländern veröffentlicht und von Ulrike Wasel und Klaus Timmermanns ins Deutsche übersetzt.