Rezension zu »Der Gott des Waldes« von Liz Moore

Der Gott des Waldes

von


Eine Dreizehnjährige verschwindet spurlos aus einem Sommercamp in den Wäldern Neuenglands. Die Versuche, das Rätsel zu lösen und sie wiederzufinden, sind ebenso faszinierend wie das, was wir über ihre Familie, das Leben und die Menschen im Camp und die amerikanische Gesellschaft erfahren.
Belletristik · C.H. Beck · · 590 S. · ISBN 9783406829772
Sprache: de · Herkunft: us

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Die kleine Punkerin aus bestem Hause

Rezension vom 06.04.2025 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Die Adirondack Mountains im Nordosten des Bundes­staats New York sind ein nahezu kreis­förmiges Gebirge von über hundert Gipfeln. Das Massiv mit seinen Wäldern, unzäh­ligen Seen und Flüssen ist ein riesiges Natur­reser­vat. Ameri­kaner, die es sich leisten können, schicken ihre Kinder während der Ferien­zeit gern zu summer camps in solch zivili­sations­fernen Gegenden. Dort sind die Tage streng durch­struktu­riert, die Kinder und Jugend­lichen werden kernig erzogen, lernen Gemein­schafts­sinn in kleinen und großen Gruppen und viel über die Natur, bis hin zu Regeln, wie man darin überlebt. Auch im Camp Emerson, dem Schau­platz der Handlung von Liz Moores Roman »Der Gott des Waldes«, sind sie überall im Lager aufge­hängt, damit sie in Fleisch und Blut übergehen, und am Ende der Zeit steht, sozusagen als Bewäh­rungs­probe oder Ab­schluss­prü­fung, ein »Survival Trip«.

Wie man in den wilden Weiten Amerikas überlebt, kennen auch wir Europäer aus ein­schlä­gigen Büchern und Filmen. Eine Grund­regel dafür besagt, niemals in Panik zu geraten, also niemals Pan, dem griechi­schen »Gott des Waldes« zu verfallen. Im Klartext bedeutet das zum Beispiel: »Wenn du dich verläufst: setz dich hin und schrei!« Damit bekommt man einen klaren Kopf.

Camp Emerson gehört mitsamt den umlie­genden Wäldern und Lände­reien der Bankiers­familie Van Laar aus Albany, die im Sommer etwas abseits in einem riesigen Haus residiert. Wie der Olymp thront es auf einem Hügel und ist be­ein­dru­cken­der Rahmen für rau­schende Feste, zu denen reiche Bekannte und Ge­schäfts­partner in ihren Nobel­karossen anreisen. Am anderen Ende der Luxus-Messlatte rangiert das Jugend­lager, das die Familie vor etlichen Jahren mit Hilfe eines Wild­hüters angelegt hat und wo ihre Ange­stell­ten seither jeden Sommer gut besuchte Kurse veran­stalten.

Im Jahr 1975 ist es nichts Beson­deres, dass auch Barbara, das drei­zehn­jährige Töchter­chen der Eigen­tümer, den Sommer im Camp verbringt. Jedoch ist es eine Katas­trophe, dass sie eines Morgens nicht mehr aufzu­finden ist. Selbst­ver­ständ­lich werden sofort alle Hebel in Bewegung gesetzt, um sie aufzu­spüren, doch vergebens.

Bitterer Zufall oder zynische Absicht eines eiskalten Ver­brechers? Auf den Tag genau vierzehn Jahre zuvor, am 10. Juli 1961, ist Peter, der damals acht­jährige Erst­gebo­rene der Van Laars, ebenfalls aus dem Ferien­lager ver­schwun­den. Dass das Kind trotz groß ange­legter Such­aktion nie gefunden, die Umstände seines Ver­schwin­dens nie aufge­klärt wurden, hat die Eltern und Groß­eltern schwer belastet, bis sich ein dunkler Schatten des Schwei­gens über den Schick­sals­schlag aus­brei­tete. Und nun trifft sie, noch immer in tiefem Leid gefangen, das gleiche Ver­häng­nis ein zweites Mal mit ihrem Mädchen.

»Der Gott des Waldes« (»The God of the Woods«, übersetzt von Cornelius Hartz) ist von Anfang an ein packender Thriller, und der Plot ist raffi­niert genug, um die Spannung bis zum er­lösen­den Ende auf­recht­zu­er­halten. Auf fast 600 Seiten entfaltet Liz Moore eine komplexe Handlung mit einer Vielzahl von Personen, die wech­selnde Per­spek­tiven und ver­schie­dene Zeit­ebe­nen ein­bringen. Trotzdem werden wir von einem Sog erfasst, der uns, immer wieder aufge­frischt durch geschickt gesetzte Cliff­hanger und durch keine sprach­lichen Ansprüche gemindert, über die Zeilen hinweg­fliegen lässt.

Bemerkenswert ist, wie der Roman an Tiefgang gewinnt, je weiter die Handlung fort­schrei­tet, je genauer wir die Cha­rak­tere und ihre Be­zie­hun­gen kennen­lernen. Viel­leicht ist dies das zusätz­liche Etwas, das Barack Obama veran­lasst hat, diesen Roman in seine Lektüre­liste 2024 aufzu­neh­men.

So ist das Verhältnis zwischen Barbaras Eltern nur noch eine traurige Formsache. Peter Van Laar hatte die bezau­bernde Alice Ward 1950 auf einem Debü­tan­tinnen­ball kennen­gelernt und sogleich seiner Familie vorge­stellt. Nachdem die Sieb­zehn­jährige dort, so schien es ihr, als »Konsum­gut« taxiert worden war, fand zwei Monate später die Hochzeit statt, und neun Monate danach kam Peter IV, der Stamm­halter, auf die Welt. Klein, pummelig und mit Flaum auf dem Kopf nannten ihn alle »Bear«.

Damit hat Alice erfüllt, was die Familie von ihr erwartet hat: Die Liebes-»Inves­tition« hat sie mit einer »Gegen­leistung« amorti­siert und ist damit eigent­lich über­flüssig geworden. Ehemann Peter III be­trach­tet sie ohnehin als dümm­liches Wesen, das er erst noch aufwändig opti­mieren muss, bis sie bei seines­gleichen durch­gehen kann. Manches Mal, wenn er in den ersten Ehejahren seine Hand über ihren Kopf streichen ließ, bedachte er ihren »Mangel an gesundem Men­schen­ver­stand«, und ein Seufzer beglei­tete die liebe­volle Geste. Später machten ihn ihre Fehler wütend. Er brüllte sie an, mäkelte an ihr herum, dass sie bei­spiels­weise bei Partys »lang­weilig« herüber­komme, und empfahl ihr als Hilfs­mittel, um sich zu lockern, ein paar Drinks zu konsu­mieren. Ein Ratschlag mit fatalen Kon­sequen­zen.

So führt Alice ein einsames Leben ohne Aner­kennung, ohne Liebe, ohne Vertraute. Aber in Bear findet sie ihr großes Glück, zumal sie auch Peter durch die enga­gierte Art, wie er den Jungen erzieht, mehr zu schätzen lernt. Bears Ver­schwin­den entzieht ihr den Boden unter den Füßen.

Mit Barbara, ihrem zweiten Kind, erhofft sich Alice eine zweite Chance. Doch das Mädchen ist eigen­willig, wider­spenstig, schwer zu hand­haben. Sie wendet sich gegen alle Kon­ven­tio­nen, liebt Punk, kleidet sich ganz in Schwarz. Peter, immer auf sein gesell­schaft­liches Image und das der Familie bedacht, gerät über die Provo­katio­nen in Rage, und Alice kann sie weder vor dem herrsch­süchti­gen Vater schützen noch ihr die not­wen­dige Liebe schenken.

Nachdem nun auch ihr zweites Kind spurlos aus Camp Emerson ver­schwun­den ist, sind die Eltern ent­schlos­sen, alle Register zu ziehen, um den Fall aufzu­klären. Da mag Judyta Luptak, die zu­stän­dige lokale Poli­zistin, eine noch so heraus­ragen­de Karriere vor­weisen können, die Van Laars sind nicht geneigt, mit ihr zu­sammen­zu­arbei­ten. Vielmehr schalten sie ihren persön­lichen Anwalt ein, und bald reist der ge­schätzte Captain La­Ro­chelle aus Albany an, um die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Sein Augenmerk richtet sich auf den »Schlitzer«, einen kürzlich aus der Haft ent­flohe­nen Mörder. Und was hat es mit den Ge­schich­ten auf sich, die seit Jahren im Sommer­lager kur­sieren? In den Wäldern spuke ein weib­licher Geist (»Scary Mary«) herum …

Liz Moores spannendes Fami­lien­drama erstreckt sich über mehrere Zeit­ebenen zwischen 1950 und 1975 und lässt dabei kein gutes Haar an den Menschen aus der Ober­schicht. Schon die Urgroß­eltern Van Laar waren vermögend und sicherten Teile des Natur­parks exklusiv für sich. So nutzen nun seit vier Gene­ratio­nen ego­zent­rische, rück­sichts­lose, arro­gante und un­sym­pathi­sche Indivi­duen die Seg­nungen der Natur, um aus­schwei­fende Partys zu feiern, zu protzen und Macht und Einfluss zu festigen. Ihre Ange­stell­ten lassen sie deutlich spüren, wohin sie gehören und wozu sie nützlich sind. Nicht nur Besitz, sondern auch Recht und Freiheit sind in der Zwei­klassen­gesell­schaft im Ungleich­gewicht.

Am Beispiel von Alice führt die Autorin außerdem die Rolle der Frauen vor Augen. Ihr liebloser Mann betrach­tet sie respekt- und ver­ständ­nislos als pein­liche Versa­gerin und Fehlgriff; mit seiner Kalt­herzig­keit und seinen De­müti­gungen treibt er sie in die Ver­zweif­lung.

Auf der anderen Seite erkämpft sich die Poli­zistin Judyta Luptak ent­schlos­sen, aber mühsam ihre Aner­kennung. Die stärkste weibliche Person ist sicher Barbara, die Jüngste in der Van-Laar-Dynastie. Schon äußerlich wider­setzt sie sich als Punk allem, was die Fami­lien­tradi­tion fordert, und ist eine lebende Heraus­forde­rung gegen­über ihrem Vater. Im Camp Emerson nimmt sie sich (wenn auch im Verbor­genen) jedes Recht heraus – und würde das wohl auch tun, wenn sie nicht in so privi­legier­ter Position wäre.

Das beschriebene Gesellschafts­bild ist natürlich ein Stereotyp, und Liz Moore beliefert uns nur mit alt­be­kann­ten Klischees und Pau­schal­urtei­len. Da es sich aber um einen gut erzählten Unter­hal­tungs­roman handelt, der in erster Linie von den drama­tischen Erleb­nissen und be­wegen­den Erfah­rungen seiner Charak­tere lebt, lässt man sich gern mit­reißen und hängt den Wert der flachen sozial­politi­schen Aussage nicht zu hoch.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblings­bücher im Früh­jahr 2025 aufge­nommen.


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