Rezension zu »Keine Kleinigkeit« von Camilla Barnes

Keine Kleinigkeit

von


Fünfzig Ehejahre haben „Mum und Dad" ge- und verformt. Sie sind an Körper und Geist noch einigermaßen fit, gebildet, exzentrisch und darin bisweilen amüsant, aber ihre vergifteten Kämpfe bringen Tochter Miranda zur Verzweiflung. Nach und nach muss sie ergründen, was für Ereignisse in der Vergangenheit bedeutsam waren – eine mühselige und schmerzvolle Arbeit, die Überraschungen birgt und Tragisches offenlegt.
Belletristik · Piper · · 256 S. · ISBN 9783492073165
Sprache: de · Herkunft: gb

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Kalaschnikow ja, Uzi nein

Rezension vom 23.04.2025 · noch unbewertet · noch unkommentiert

In jungen Jahren schon ist Miranda, inzwischen bald fünfzig Jahre alt, aus England nach Paris gezogen. Getrieben hat sie der Wunsch, dort Schau­spielerin zu werden, aber es war auch ein Versuch, ihren diffi­zilen Eltern zu ent­fliehen. Un­erwar­teter­weise verab­schie­dete sich zehn Jahre nach Mirandas Exodus ihr Vater, Philosophie­professor in Oxford, frus­triert in den Vor­ruhe­stand, und auch die Eltern ließen sich in Frank­reich nieder. Sie kauften ein herunter­ge­kom­me­nes altes »Manoir« in der Provinz und widmeten sich dem einfachen Landleben. Dad, mittler­weile Ende 70, kümmert sich um seine Katzen, Enten, Hühner und ein Lama-Pärchen. Mum, etwas jünger, hat den Haushalt im Griff und wacht penibel darüber, dass ihr eng­maschi­ges Regel­werk nicht miss­achtet wird.

Alle paar Wochen besucht Miranda mit ihrer Tochter Alice, knapp 20 und an­gehende Chemie-Stu­dentin in Paris, die (Groß-)Eltern auf dem Lande. Mit Wehmut beob­achtet Miranda, die Ich-Erzäh­lerin, wie die Eltern in einge­fahre­nen Ver­haltens­ritualen er­starren und ge­fangen sind, und sie ver­zwei­felt an ihrer eige­nen Hilf­losig­keit gegen­über dieser Ent­wick­lung. In manchen Situa­tionen ist die Zwie­tracht nicht auszu­halten, doch Miranda sieht sich zu diesen Besuchen ver­pflich­tet, »schon um mich zu verge­wissern, dass keiner den anderen umge­bracht hat«.

In letzter Zeit hat Mum ziemlich abgebaut. Sie kann sich auf ihre Erinne­rungen nicht mehr so verlassen wie einst. Damit entspannt umzu­gehen fällt ihr schwer, vor allem bei Aus­ein­ander­set­zun­gen mit ihrem Mann. Wenn sie sich einen Irrtum einge­stehen muss, empfin­det sie das als Nieder­lage und versucht, sie durch abrupten Thema­wechsel, plumpes Be­harren oder Lavieren wegzu­drücken. Auch ihre Schmerzen verdrängt sie lieber schwei­gend, als sich der Wahrheit zu stellen. Jammern und sich beklagen ist nicht ihre Art – lieber prä­sentiert sie sich still leidend in einem »Schau­marty­rium«.

Körperlich hat Dad nicht minder abgebaut, wenngleich er sich noch immer zutraut, Holz zu hacken und Brom­beer­sträu­cher auszugraben (»Gandalf in Gummi­stie­feln«). Doch wild­wu­chern­de Klet­ter­pflan­zen, Staub­mäuse, tote Insek­ten, vergam­melte Lebens­mittel, fleckige Kleidung, ver­nach­läs­sigte Hygiene und igno­rierte Krank­heits­signale belegen, dass Alltag und Anwesen die beiden über­fordern. Hoff­nungs­los verfahren sind die Probleme um Dads nach­las­sendes Hör­ver­mögen. Wenn er die Zurufe seiner Frau von irgend­woher nicht versteht, macht sie ihm wenig hilf­reiche Vorwürfe, denn sie ist fest davon über­zeugt, dass er alles hört und seine Schwer­hörig­keit nichts anderes ist als »ein Mangel an Bemühen«. Tat­säch­lich kann Dad seinen Defekt durch­aus taktisch ein­setzen. Wenn das kommu­nikative Terrain schwierig wird, bleibt das Hörgerät liegen.

Seine geistigen und verbalen Fähig­keiten hat Dad jedoch kein bisschen verloren. Schlag­fertig­keit, Präzision und rheto­rische Modu­lation seines Ausdrucks sind messer­scharf wie eh und je. Wenn er Mums begriff­liche Un­schärfen aus­ein­ander­nimmt, seinen intel­lek­tuel­len Paraden und logischen Spitz­findig­keiten freien Lauf lässt und der einzig­artige britische Humor zwischen An­spie­lungen und Zynis­mus zuschlägt, ver­schaf­fen die Schlag­ab­tausche uns Lesern großes Vergnügen, und auch Miranda findet Spaß darin und kann ihm durchaus Paroli bieten – bis sie sich wieder besinnt, was hinter den Worten abgeht. Die Gefechte werden nicht mit blanken Messern bis zum totalen Zu­sammen­bruch ausge­tragen wie einst bei »Wer hat Angst vor Virginia Woolf?«, doch das kom­muni­kative Gemetzel um Worte, Fakten, Sicht­weisen, Miss­ver­ständ­nisse, Ange­wohn­heiten und Eigen­schaften des Partners zer­mürbt beide. Der Ausgang ist immer der gleiche: Mum hat keiner­lei Zweifel an ihrem Sieg, und Dad, der mit seinen Mitteln der Ratio nie gegen sie an­kommt, resig­niert. Dass er den Macht­kampf längst aufge­geben hat und nichts mehr will als in Frieden gelassen zu werden, ärgert Miranda, und er, der früher oft wütend auf andere Menschen war, ist es jetzt auf sich selbst.

Mums Herrschaft über den Rest der Familie hat sie nur ihrer eigen­willigen Welt­inter­pre­ta­tion zu ver­danken, an der Fakten und Logik chancen­los abperlen. Ihre eige­nen Argu­menta­tions­ketten sind von logi­schen Kaprio­len, Willkür, Un­wahr­heiten und Ge­dächtnis­lücken be­schädigt. Wenn etwas schief­läuft, sagt sie »Ich hab’s ja gesagt.«, als wäre das ein Beweis für ihre Über­legen­heit, und Dad kontert »Davon bin ich über­zeugt. Aber was?«. Wenn sie ein Gerät nicht richtig bedienen kann, sagt sie, es sei »kaputt«, und was »kaputt« ist, hat Dad kaputt­gemacht.

Was einzig zählt, ist, dass sie recht hat und behält. Da kann Dad be­haup­ten, was er will: Sie »weiß« besser als er selbst, was ihm gefällt und schmeckt und was nicht. Sie gewinnt alle Spiele, da sie die Regeln eigen­willig auslegt. Selbst ge­sicher­te Tat­sachen (wie das Jahr der Mond­lan­dung) streitet sie ohne einen Anflug von Selbst­zweifel ab, sofern sie von ande­ren vorge­bracht werden. Die nehmen ihre schlich­ten Ab­sur­di­täten fassungs­los zur Kenntnis und wissen aus Erfah­rung, dass Da­gegen­halten sinn­los ist. Dad räumt sogar nie began­genes Fehl­ver­halten ein und »lässt sich von ihr herum­kom­man­die­ren, weil ihm Gegen­wehr zu mühsam ist«. Dass Mums Domi­nanz so un­ange­foch­ten ist, gibt ihrem selbst­ge­rech­ten Ego­zen­tris­mus Auftrieb, doch folgen­los bleibt all das nicht: Hinter Mums Rücken sprechen die ande­ren Strate­gien ab, um sie zu hals­starrig verwei­gerten Not­wen­dig­kei­ten wie einer Hüft­operation zu ver­leiten oder vor grau­samen Wahr­heiten zu schützen. Und manch einen Stoß­seufzer in tief­ster Ver­zweif­lung (»Ich könnte sie um­brin­gen!«) können wir nach­voll­ziehen.

»The Usual Desire to Kill« – so der Original­titel – war zunächst als Bühnen­stück konzi­piert. Dann hat die Autorin den Stoff aber zu einem Roman geformt und einen unter­halt­samen Text­sorten­mix ge­schaffen. Vom Drama-Entwurf hat er viele kurze Dialog­passa­gen und die Gliede­rung behalten (Prolog, Epilog, fünf Szenen), während die Prosa neben Erzähl- und Re­flexions­ab­schnitten auch Briefe und E-Mails bietet. Darin berichtet Miranda ihrer etwas älteren Schwester Charlotte (die allein in England lebt und nur einmal im Jahr zu Besuch kommt) offen­herzig, was sie mit den unver­besser­lichen Alten durch­macht.

Ganz ungefiltert, als säßen wir selber dabei, lässt uns die Auto­rin vielen Wort­wech­seln aus dem Manoir lauschen. Oft drehen sie sich um – in unseren Augen belang­lose – Kleinig­keiten (wessen Teller, dessen Brokkoli?). Derlei auf­ge­bausch­tes Gezänk und seine mit Stiche­leien und Witz ge­spick­ten Aus­formu­lierun­gen lösen un­weiger­lich einen Lach­reiz aus, doch der weicht zuneh­mend Mitge­fühl und Mitleid ange­sichts verhär­teter Sturheit, Un­ver­söhn­lich­keit und Recht­habe­rei. Auf der Be­zie­hungs­ebene scheint die Kon­stella­tion der Partner irre­versi­bel und traurig: Wo kör­per­licher und geis­tiger Verfall zu viele Frustra­tionen einge­fahren hat, sind Erfolge, die das Selbst­bewusst­sein wieder auf­richten könn­ten, kaum noch heraus­zu­holen. In der Not bietet sich an, Fiesig­keiten und Mach­tmittel als Kom­pensa­tion auszu­spielen. Sogar Dads Tiere können ein Lied von den biestig-witzigen Ideen der beiden singen. Mum lässt den Lama-Mann kas­trieren, um Dads Zucht­ideen zu durch­kreuzen, und Dad öffnet ihm das Gemüse­garten­tor, damit er den ver­hass­ten Rosen­kohl ver­nichtet. All das ist dann »keine Kleinig­keit« mehr. (In diesem Zu­sammen­hang ist Dirk van Guns­terens Über­setzung zu loben: Er hat alle Nuancen erfasst.)

Lange Zeit bleibt die Personenkonstellation rätselhaft. Jeden­falls war Miranda wohl das »Lieb­lings­kind« und ihre Schwester (und Rivalin) Charlotte ein »Unfall«. Dann gibt es Tage­buch­ein­tragun­gen aus den frühen Sech­ziger­jahren an eine »Liebe Kitty«, wider­sprüch­liche Legen­den über Groß­väter und einen »H H« sowie zurecht­ge­schnit­tene Schwarz­weiß­fotos. Die Männer aus Mirandas und Char­lottes Ver­gan­gen­heit sind alle­samt im »Fami­lien­gefrier­schrank« weg­ge­sperrt, wie auch ein gewis­ser »James«, der Mum offen­sicht­lich bis heute viel be­deutet, und ein myste­riöser »Vorfall«. Bis all die kleinen und großen Geheim­nisse daraus befreit und eisern behaup­tete, jedoch konfus an­mu­tende Wahr­heiten aufge­dröselt sind, müssen wir uns gedulden.

Camilla Barnes hat die fiktionale Geschichte einer Ehe zwischen zwei starken Charak­teren auf raffi­nierte und facetten­reiche Weise gestaltet. Die Ent­wick­lung zieht sich kaum merklich über Jahr­zehnte hin, so dass weder die beiden Partner noch ihnen Nahe­stehende einzelne Stufen oder Anlässe identi­fizieren oder zuschrei­ben können. Es ist ihre Tochter, die erschrickt und leidet, als ihr der fortge­schrit­tene Verfall in seinem ganzen Ausmaß und in seiner Unver­änder­lich­keit deutlich wird. Die Kunst der Autorin (deren Onkel, Julian Barnes, ebenfalls Schrift­steller ist) erweist sich darin, wie sie die kompli­zierte Fami­lien­ge­schichte ein­gängig aufbe­reitet, wie sie dem noch immer erkenn­baren Poten­zial der Protago­nisten gerecht wird, wie sie die komi­schen Aspekte mit leichter Hand präsen­tiert, ohne die beiden ge­reiften Personen der Lächer­lich­keit preis­zu­geben, und wie sie gleich­zeitig die Tragik ihrer Ent­wick­lung und ihrer bitte­ren Gegen­wart vorführt, ohne in Pathos zu ver­fallen.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2025 aufgenommen.


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