
Desolation Hill
von Garry Disher
Constable Paul Hirschhausens Revier im unwirtlichen australischen Hinterland ist riesig und doch keine große Sache. Die wenigen Bewohner leben weiträumig verstreut und geben nicht oft Anlass zu polizeilichem Eingreifen – manche benötigen eher menschlichen Beistand. Die Corona-Schutzverordnungen regeln den Alltag und spalten die Bevölkerung. Als ein Mordfall auftaucht, übernehmen die Fachleute aus Adelaide.
Der gute Mensch von Tiverton
Der Protagonist Paul Hirschhausen, genannt »Hirsch«, vielen Lesern bereits aus drei Romanen bekannt, ist ein guter Mensch, aber leider haben das nicht alle, mit denen er im Leben zu tun hatte, verstanden. Ein beruflicher Tiefschlag erwischte ihn, als er degradiert und in die Einöde versetzt wurde. Jetzt fristet er sein Dasein in einer Ein-Mann-Dienststelle als eine Art mobiler Streifenpolizist. Alle Tage verlaufen gleich und doch jeder anders. In seinem klapprigen Toyota-Hilux-Pickup fährt er ein paar hundert Kilometer in die eine Richtung und am Tag darauf in die andere, sieht nach dem Rechten und hört sich an, was ihm die versprengt lebenden Menschen an Sorgen und Nöten anvertrauen bzw. entgegenschleudern, denn nicht immer ist er gern gesehen.
Tiverton, sein Dienstort, hat selbst und in weitem Umkreis absolut nichts zu bieten außer einem trostlosen Hügel, dessen unbedeutende Höhe immerhin einen Rundblick erlaubt. Bis zum Horizont erstreckt sich in alle Richtungen Eintönigkeit ohne Reize und ohne Lebenszeichen: eine ockerrote Steinwüste mit bedürfnislosem Buschwerk, Gestrüpp und ein paar vertrockneten Wildblumen. Was ins Auge fällt, sind allein die riesigen Umrisse eines mythischen Raubvogels, die ein Farmer in das Flachland gefurcht hat (nach Ansicht der erbosten Aborigines eine unverschämte kulturelle Aneignung). Moderne Zivilisation findet man auf gigantischen Farmen wie der der Familie Dryden, über 200.000 Hektar mit Landebahn, eigenem Flugzeug, einer Mannschaft von emsigen, robusten Mitarbeitern und umgeben von einem kilometerlangen Zaun.
In diesen Weiten also ereignen sich kriminelle Zwischenfälle aller Art, mit denen sich Hirsch zu befassen hat, und irgendwo ist immer etwas im Argen. Hier wurde ein wertvolles Zuchttier erschossen, dort Sprengstoff gestohlen, anderswo ein Supermarkt überfallen oder in einem indigenen Kulturzentrum eingebrochen. Nicht einmal in seinem eigenen Polizeirevier findet Hirsch Frieden. Seine neue Aushilfsangestellte und ihr Freund veröffentlichen rassistische Hetzvideos im Internet.
Für große Sachen reisen freilich die arroganten Fachkollegen höheren Ranges aus Adelaide an, zum Beispiel als am Straßenrand ein Koffer mit entsetzlichem Inhalt gefunden wird. Es ist die Leiche eines brutal getöteten Mannes, und für so etwas traut man Hirsch nicht genügend Kompetenz zu. Misstrauen begegnet dem Dorfpolizisten auch im Fall eines jungen belgischen Backpackers. Er hatte auf der Dryden-Farm seine Reisekasse auffüllen wollen, brannte dann angeblich mit einem jungen Mädchen durch und verschwand spurlos. Da flog sogar seine Mutter, eine Forensikerin, aus Brüssel ein, um selbst nach dem Rechten zu sehen.
Dishers Romane kommen ohne Action und Brutalität aus (obwohl durchaus Blut fließt). Vielmehr bestechen sie durch fein ziselierte Landschafts- und Personenbeschreibungen. Im Mittelpunkt steht der Protagonist, der angesichts seiner vielfältigen Probleme und wenigen Befugnisse oft mit sich hadert. Sein Bestreben ist, immer ein Guter zu sein und das Richtige zu tun, beruflich wie privat. Sein Lebensstil ist einfach und diszipliniert. Er trinkt nicht, nimmt keine Drogen, läuft jeden Morgen seine Runde, um seine angeknackste Psyche zu stabilisieren. Die Wochenenden verbringt er mit seiner Lebenspartnerin, einer Lehrerin, und ihrer Tochter. Leider findet er auch bei diesen beiden keine sorgenfreien Stunden: An ihrer Highschool greift Mobbing im Internet um sich.
Während seiner langen Fahrten über Land hat Hirsch die unterschiedlichsten Anforderungen zu erfüllen. Viele Menschen, die er aufsucht, sind einsam, krank, im gesellschaftlichen Abseits oder abgehängt. Bei ihnen kommt ihm zugute, dass Machotum ihm fremd, sein Wesen beherrscht, sein Umgangston einfühlsam ist. So kann er je nach Bedarf wie ein Sozialarbeiter, Psychiater, Krankenpfleger, Rechtsberater oder auch gestrenger Ordnungshüter auftreten. Kleine Vergehen versucht er mit Minimalstrafen aus der Welt zu schaffen.
Bei soviel Vorbildlichkeit ist nichts anderes zu erwarten, als dass Hirsch sich von Beginn der Pandemie an hinter sämtliche Schutzmaßnahmen der australischen Regierung stellt. Gewissenhaft setzt er seine Gesichtsmaske auf und achtet stets darauf, die vorgeschriebenen Abstände einzuhalten. Als die Drydens ein Schild mit der Aufschrift »Ungeimpfte sind hier willkommen« an ihren Zaun hängen, ist es vorbei mit gütigem Verstehenwollen und behutsamer Abwägung. Wer die Regeln nicht brav befolgt, wird pauschal zum Idioten erklärt – und Hirsch behält zu seinem Glück für sich, was er wirklich denkt: »Zu dumm zum Leben«.
Garry Dishers vierter Hirschhausen-Roman hat bei mir einen sehr durchwachsenen Eindruck hinterlassen. Als Krimi ist er nicht sonderlich spannend, weil eher eine Sammlung kleiner Episoden. Offensichtlich war dem Autor seine Gesellschaftsanalyse in der Corona-Zeit vorrangig. Verfasst im freudlosen Jahr 2022, steckt die Perspektive aber noch tief in der damaligen Panikatmosphäre. Damit bleibt der Roman zu sehr seiner Zeit verhaftet. Hirsch, so stellt sich dessen Position für den Autor dar, ist überzeugt, dass seine Regierung alles richtig macht und er ihre unpopulären Beschlüsse durchsetzen muss, egal was er oder andere Individuen davon halten. Dabei konfrontiert ihn der Autor gleich mit schwerem Geschütz: radikalen Verschwörungstheoretikern und einer paramilitärisch organisierten Neonazigruppe, die auch vor Mord nicht zurückschreckt.
Disher konnte natürlich nicht voraussehen, wie sich aus Pflänzchen pauschaler Vorverurteilung von Mitmenschen mit anderen Argumenten – in beiden Richtungen – weltweit ungebremst innergesellschaftliche Spaltung entwickeln würde.
Heute gelesen, bringt das Buch nicht nur keine neuen Erkenntnisse, sondern lässt schmerzlich jede Spur davon vermissen, was in den zwischenzeitlichen seriösen Bemühungen um Aufarbeitung weltweit an kritischen Erkenntnissen vorgebracht wurde. Und wirklich bewältigt sind die Vorgänge von damals ja bis heute nicht.
Als Zeitzeuge, wie schrecklich manche Menschen und Regierungen damals miteinander umgingen, möchte ich im Jahr 2025 nichts mehr davon lesen, jedenfalls nicht in dieser vordergründigen Distanzlosigkeit und schon gleich nicht in einem Buch, von dem man sich leichte Unterhaltung verspricht. Die meisten der vielen kleinen Ereignisse darin sind damit garniert, wie die Personen die Corona-Maßnahmen ausführen oder nicht, welche Haltung sie dazu vertreten und Ähnlichem. Das bremst gewaltig den Lesefluss, was für einen Krimi kontraproduktiv ist. Wenn man so will, ist an diesem Verfahren nur eins gut: Disher macht deutlich, wo er steht in der vielschichtigen Corona-Frage. Das aber interessiert mich herzlich wenig.
So ist »Day’s End« (so der Originaltitel) in erzählerischer Hinsicht so gut gelungen wie die Vorgängerbände, Disher hält die zahlreichen Erzählstränge souverän zusammen, und es gibt interessante Einblicke in Leben, Kultur, Landschaft und Natur Australiens, aber unterhaltsam ist das Buch nicht so recht. Der von mir sehr geschätzte Übersetzer Peter Torberg hat im Großen und Ganzen wieder gute Arbeit geleistet und einen eingängigen, präzisen Stil geschaffen. Allerdings unterlaufen ihm seltsamerweise eine ganze Reihe von Formulierungen, die manieriert, gestelzt oder einfach unstimmig wirken. Dennoch wird das Lesen mit der Zeit anstrengend, und der permanent mahnende Zeigefinger aus unguten alten Zeiten nervt jetzt einfach nur.