
Das Haus der Türen
von Tan Twan Eng
Penang, 1921: Hinter den gepflegten Fassaden einer britischen Kolonialvilla entfaltet sich ein stilles Drama aus gesellschaftlichen Ansprüchen, Erinnerungen, Enttäuschungen, Sehnsüchten, Schuldgefühlen, Ängsten und Zweifeln. Als der Schriftsteller William Somerset Maugham eintrifft, beginnt sich das vermeintlich stabile Gleichgewicht unter den Personen zu verschieben.
Bedrückende Geheimnisse und unerfüllte Leben hinter kolonialen Fassaden
Der Autor Tan Twan Eng, 1972 auf der Insel Penang vor der Westküste Malaysias geboren, ist hierzulande weitgehend unbekannt, wie auch seine subtropische Heimat. Die übt auf Europäer allerdings seit jeher die Faszination der Exotik aus. Ihre Geschichte weist eine Vielfalt wechselnder kultureller Einflüsse auf: Inder, Chinesen, Araber, Portugiesen, Niederländer und Briten. Die British East India Company übernahm das bedeutende Handelszentrum in der Straße von Malakka im Jahr 1786; 1867 wurde Penang zur Kronkolonie erhoben. Unter der »Pax Britannica« konnten die verschiedenen Ethnien – wie malaiische Muslime, chinesisch-stämmige Buddhisten, indische Sikhs – gewaltfrei zusammenleben. Großen Einfluss gewannen – neben der englischen Oberschicht – die klügsten der hier geborenen »Straits-Chinesen«, die an britischen Universitäten studiert hatten, in ihrer Heimat aber oft verachtet wurden, nicht zuletzt weil sie loyal hinter der britischen Krone oder in deren Diensten standen.
Die Romanhandlung basiert auf einem Mix aus historischer Realität und Fiktion, wie auch das Personal fiktive Charaktere und berühmte Persönlichkeiten zusammenbringt. Nukleus der Handlung um 1921 ist Cassowary House, der Wohnsitz der kultivierten Oberschicht-Familie Hamlyn. Robert Hamlyn ist ein britischer Anwalt, der zuvor in Hongkong tätig war, bis der Boxeraufstand die Weißen aus China vertrieb. Kurz nach seiner Ankunft in Penang lernte der Vierzigjährige eine junge Einheimische aus einfachen Verhältnissen kennen, die fast zwanzig Jahre jüngere Musiklehrerin Lesley. Zwei Monate später heiraten die beiden und bekommen später zwei Söhne, James und Edward.
Als Gemahlin eines angesehenen Juristen führt Lesley ein völlig anderes Leben als zuvor. Den Alltag in Haus und Garten meistern im Wesentlichen einheimische Arbeitskräfte, und ihnen obliegt es auch, Festlichkeiten auszurichten. Denn in ihrem Haus am Strand empfangen die Hamlyns Schauspieler, Parlamentsabgeordnete, Opernsänger, Adlige und Schriftsteller (unter anderen auch Hermann Hesse).
So glamourös, von Sorgen ungetrübt und frei von schwerer Arbeit Lesleys Dasein scheinen mag, so wenig erfüllt es sie. Insbesondere die Beziehung zu ihrem Mann hat über die Jahre an Intensität verloren. Nun plant Robert, der unter dem subtropischen Klima leidet, demnächst seine Bleibe nach Südafrika zu verlegen.
Doch zunächst hat der bekannte Schriftsteller William Somerset Maugham seinen Besuch angekündigt. Robert kennt ihn aus alten Zeiten, als sie sich in London eine Wohnung teilten. Jetzt ist »Willie« mit seinem Sekretär, dem Amerikaner Gerald Haxton, unterwegs in der Südsee und Fernost. Lesley sieht der Begegnung mit Ressentiments entgegen, denn man munkelt, zwischen dem Künstler und seinem gut zwanzig Jahre jüngeren Begleiter bestehe ein engeres als das Arbeitsverhältnis. Für die nach Abwechslung dürstende englische Oberschicht ist so etwas ein hochattraktiver Stoff: Alle wollen den gefeierten Mann sehen und hören.
Dabei hat der Autor ganz eigene Probleme. Er ist pleite und muss fürchten, dass sein verwöhnter Lover ihn verlassen wird, sobald er davon erfährt. Aus der Patsche helfen soll ein neuer Roman, der die Kasse rasch wieder füllen kann, doch fehlt es dem Verfasser noch an faszinierendem Material, und er leidet unter einer Schreibblockade.
Welch glückliche Fügung für alle Beteiligten, dass Gastgeberin Lesley binnen weniger Tage alle Vorurteile abbaut und so viel Vertrauen zu »Willie« gewinnt, dass sie ihm eine sehr persönliche, selbst vor Robert geheimgehaltene Geschichte offenbart. Der Autor saugt ihre weit ausschweifenden Enthüllungen förmlich auf.
Schon als junge Frau hatte Lesley politische und gesellschaftliche Themen aufgeschlossen verfolgt und heimlich Leseclubs inmitten von Chinesen besucht. Auf diese Weise geriet sie in den Bann eines charismatischen Kreises von Rebellen gegen die chinesische Kaiserdynastie. Mit einem von ihnen traf sie sich wiederholt im »Haus der Türen«. Ihre Beweggründe, sich auf diese Rendevous einzulassen, bleiben durchaus diffus, aber auch Robert spielt dabei eine Rolle.
Ein Thema, das Lesley zunehmend bewegt, ist die patriarchale Vorherrschaft der Männer und ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Bedürfnissen der Frauen. Regelmäßig reiste Lesley im Jahr 1910 zu den Sitzungen eines Prozesses in der Hauptstadt Kuala Lumpur, in dem ihre Freundin Ethel des Mordes an ihrem Vergewaltiger angeklagt war. Lesley war von Ethels Unschuld überzeugt und wollte ihr beistehen. Das Interesse der Öffentlichkeit mitsamt der Medien war groß, doch galt es weniger der Klärung des Tathergangs als der Rolle von Ethels Ehemann und dem drohenden Verlust seiner gehobenen sozialen Stellung in Penang.
Wie sehr mochte jetzt Somerset Maughams Ehefrau Syrie, allein in London zurückgelassen, unter der langen Abwesenheit ihres Gemahls leiden, während er seinen Ruhm und seine Beziehung opulent auslebte? Und schließlich hatte auch Lesley in ihrer Ehe oft genug unter Vernachlässigung zu leiden. Hat nicht auch sie ein Recht, sich zu nehmen, was ihr als Frau zusteht? Doch welche Wahlmöglichkeiten hat sie in ihrer Gesellschaft, in ihrer Position?
So verquicken sich sehr persönliche Geschichten eng mit den politischen Entwicklungen der Zeit. Vor allem Lesley Hamlyn gerät durch ihre Nähe zu den chinesischen Rebellen in Milieus, die mit ihrer gesellschaftlichen Position unvereinbar sind. Sie entwickelt sich, indem sie mutige, eigenständige Entscheidungen trifft, unkonventionelle Wege geht, ohne ihre Pflichten zu verraten, zu einem eindrucksvollen, ambivalenten Charakter. Durch ihre unerwartete Öffnung gegenüber dem illustren Gast und ihre sehr privaten Enthüllungen ihm gegenüber nimmt dieser bedeutende Schriftsteller eine weitere interessante Position im Roman ein. Lesley liest alle seine bisher veröffentlichten Bücher – oft »Geschichten … um Treulosigkeit und unglückliche Ehen«. Äußerlich durchaus selbstbewusst wirkend, erweist sich der Schriftsteller als komplexe Persönlichkeit in einer Lebenskrise.
Tan Twan Engs Roman »The House of Doors« (2023 erschienen) ist ein geradezu überwältigend reiches und bereicherndes Werk. In der Übersetzung von Michaela Grabinger lebt vor unserem inneren Auge eine fremde Welt aus Asiens Kolonialzeit in all ihren Facetten auf. Verwirrendes, pralles Leben herrscht in den Geschäftsstraßen mit den traditionellen »Shophouses« und am Hafen. Wir bewundern reich verzierte Tempel, prächtige Gebäude der Kolonialmacht, üppige Gärten, vornehme Residenzen, duftende Speisen, farbenprächtige Kleidung und sehen auch die erbärmlichen Elendsviertel. Im Hause Hamlyn nehmen wir an intellektuellen Konversationen über weltbedeutende Literatur teil, und nach und nach enthüllen sich uns Geschehnisse aus einer Vergangenheit voller politischer Umbrüche und voller Schmerz und Leid, die uns nicht mehr loslassen, bis alle Rätsel endlich aufgelöst sind. Dabei schreitet die Erzählung in ruhigem, leicht melancholischem, oft zart poetischem Ton und literarisch bestechendem Stil beständig voran.
Die Übersetzerin entschied sich dafür, in den Schilderungen des malaiischen Alltags für viele Gegenstände das Originalvokabular beizubehalten, was die Musikalität der Sprache nachvollziehen lässt, aber das Detailverständnis verhindert. Bei Begriffen wie »songkok«, »kampong«, »kiam-siap« oder »dhobi-wallah« hätte ich die Übersetzung bevorzugt oder wenigstens gern eine Fußnote oder ein Glossar zu Rate gezogen.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2025 aufgenommen.