
Für kurze Zeit nur hier
von María Ospina Pizano
Was »erleben« Tiere in ihrem Alltag? Was mögen sie in ihrer Welt »empfinden«, wenn sie das könnten wie wir Menschen? Wie würden sie unsere Anwesenheit »erfahren«? Die kolumbianische Autorin María Ospina Pizano hat dies literarisch zu gestalten versucht, ohne ihre Protagonisten plump zu vermenschlichen. Ein ungewöhnliches Experiment mit reizvollem, wunderbarem Ergebnis.
Zu Besuch in einer anderen Welt
María Ospina Pizano hat mit ihrem Debütroman etwas wahrlich Außergewöhnliches geschaffen. Sie bringt uns nahe, was wir gerne wüssten, was wir uns vielleicht schon oft gefragt haben, was wir nie erfahren werden und deshalb gern erträumen: das Innenleben der Tiere. Sie wählt eine Handvoll unscheinbare Exemplare aus und erhebt jedes einzelne davon mit seinen Erlebnissen in seiner Welt für die Dauer einer Episode zum Zentrum ihres Buches.
Die Ereignisse tragen sich in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá zu, wo die Autorin 1977 geboren wurde, schweifen aus in andere Teile des Landes und berühren sogar New York und Südamerika. Überall verweilen die kleinen Lebewesen nur »für kurze Zeit«: »Solo un poco aquí« lautet der Originaltitel. Peter Kultzen hat den Roman ins Deutsche übersetzt.
Zunächst lernen wir zwei Hunde kennen, die sich in dem Acht-Millionen-Moloch Bogotá auf sich selbst gestellt finden. »Kati« lebt eine Zeitlang mit einem Obdachlosen im Park, bis Uniformierte ihr Herrchen in einen Transporter bugsieren und Ordnungskräfte mit Wasserwerfern und Tränengas alle verbliebenen Menschen und ihre Hinterlassenschaften in den Grünanlagen beseitigt haben. Nun muss sie sich allein durchschlagen.
Mona, ein »Wohnhaushund«, wurde in einem Auto herchauffiert. Anders als sonst bindet ihr Frauchen sie heute an einem Gitter an und spricht zu ihr: »So, bleib schön sitzen, du wirst schon sehen, dich nimmt bestimmt wer mit.« Versteht Mona, dass diese Letzten Worte ihr nach dem Akt der Aussetzung Trost bringen sollen für eine ungewisse Zukunft? Sie beobachtet genau, was in ihrer Umgebung geschieht, aber niemand beachtet sie. Bald jault sie vor Verzweiflung, dann verkommt ihr Jaulen zum Wimmern. Nur eine Frau schenkt ihr einen Blick, bevor die Nacht anbricht und eisige Kälte bringt. Am Morgen knabbert die Hündin das Seil durch und kann im Park nach Essensresten suchen. Die Frau vom Vorabend erkennt das abgemagerte Tier wieder und hilft, so gut sie kann.
Bald treffen die beiden Hündinnen aufeinander, landen schließlich im Tierheim und werden uns am Ende des Reigens der Tiererzählungen wieder begegnen.
Wer wird bei diesen Plot-Skizzen nicht sogleich an »Susi und Strolch« und ähnliche Produkte erinnert? Deren Tier-Protagonisten mit Kindchen-Optik und landestypischen Vornamen schenken wir unsere Anteilnahme vor allem deswegen, weil sie dargestellt werden, als hätten sie Eigenschaften wie wir Menschen (oder bessere). Sie rühren uns, weil sie sich nach einer Kette von Schicksalsschlägen durch Tapferkeit, Ausdauer, Treue und dergleichen ein Happy End ›verdienen‹. Demgegenüber vergießen wir normalerweise keine Träne des Mitleids für Stubenfliegen, Wühlmäuse, Weberknechte oder Mistkäfer, mögen sie noch so kühn, fleißig, klug oder kräftig werkeln. Eine ›eklige‹ Gestalt genügt uns ja schon, dass wir sie zertreten.
María Ospina Pizano hält sich fern von verlogenen Klischees und Anthropomorphismen. Sie findet eine eigenständige Sprache, die aus den Tieren selber kommen und – wenn sie denn diese Gaben hätten – ausdrücken könnte, was sie wahrnehmen und empfinden. Immer wieder verhindert sie durch deutliche Signale, dass wir uns naiv identifizieren (Hervorhebungen von mir): »wahrscheinlich ausgehungert und durstig«, »womöglich ganz ohne Wehmut«, »seine Glieder dürften ihm ziemlich schwer vorkommen«, »vielleicht«, »auf seine Weise«.
Wie aber erleben die Tiere uns Menschen? Wie könnten sie auch nur ahnen, dass in den bedrohlich lärmenden fliegenden Kisten Menschen den Bestand an alten Bäumen kartografieren, um gespeicherte CO2-Mengen zu ermitteln? Da sie unser Universum noch viel weniger durchschauen als wir das ihrige, greift die Autorin auch in dieser Blickrichtung als ›Übersetzerin‹ ein, ebenso stark aber als Interpretin in ureigenster Sache. Denn die Funktionen, in denen Menschen in diesem Buch auftreten, sind schablonenhaft ausgewählt und deutlich gewichtet.
Wer es gut meint mit den Tieren, die streunenden Hunde streichelt und füttert, das sind die Bettler, Obdachlosen, Armen. Wohl in Folge der Perspektive zahlenmäßig deutlich überrepräsentiert sind Wissenschaftler, die Tiere und ihre Umgebung studieren, und Helfer, die sich um sie kümmern und alles sorgfältig verwalten. Auch Umwelt-Demonstranten werden erwähnt. Die meisten anderen Menschen nehmen nicht einmal die Tiere in der Stadt wahr, sind gleichgültig oder gehören zu der namenlosen Masse, für die Tiere in unserer Welt lediglich Begleiterscheinungen sind. Selbst wenn wir es mit unseren Haustieren gut meinen, verderben wir womöglich ihren Charakter, wie Mona es wahrnimmt: »Um die selbstgefälligen Hunde, die hier spazierengeführt werden, kümmert sie sich nicht.«
Im Kapitel »Zwischen Bäumen vom Weg abkommen« werden wir auf die lange und gefährliche Reise eines Scharlachkardinals mitgenommen. Diese farbenprächtige Singvogelart begleitet oft die Schwärme anderer Zugvögel zwischen Nord- und Südamerika, wo sie brüten bzw. überwintern. In einer Septembernacht taucht unser Exemplar am Himmel über Manhattan auf, wo er wie Tausende anderer Vögel orientierungslos und erschöpft die spiegelnden Wolkenkratzerfassaden umkreist, »im Bann des Lichts […], das sie anzieht, das seinen elektrischen Sieg zelebriert, seinen Willen aus Stahl und Glas auf sie loslässt«. Wer in den klimatisierten Büros sitzt, hört und sieht nichts davon. Doch im Wetterradar ist die Zusammenballung als großer grüner Fleck zu erkennen, und vielleicht wird ein Wissenschaftler das Phänomen unzähliger tot vom Himmel fallender Vögel weitermelden. Nur die kräftigeren Tiere werden dem Chaos entkommen und weiter gen Süden zu ihrem Ziel ziehen.
Danach tauchen wir in eine Sphäre ein, die den meisten Menschen unvertraut und gleichgültig, wenn nicht zuwider ist. Vergraben in der Erdkrume, erwacht eine Larve aus ihrem langen Schlaf und hat Hunger. Die schützende Eihülle hat sie abgestreift. Wie durch ein leistungsstarkes Vergrößerungsglas lässt uns die Autorin die Metamorphose beobachten, wie das Tierchen seinen Kiefer lockert, um Laub verschlingen, und seine Flügel entfaltet, um sich in die Lüfte erheben zu können. Am Ende schließt sich das Käferweibchen anderen Artgenossen an, erforscht Gärten, probiert Blätter.
Aller Leben hängt an einem hauchdünnen Faden, und ihr Weg ist mit Leichen der Gefährten gepflastert. Nehmen sie die Gefahren rund um sie herum wahr? Wissen sie, dass Vögel Ausschau nach »knackigen Insekten« halten? Dass riesige Menschenwesen sie zertreten, ohne es auch nur zu bemerken? Lernen sie irgendwann ihre Lektion, wenn sie auf das verlockende Licht einer Glühbirne hereinfallen, dagegenprallen, zu Boden plumpsen und hilflos auf dem Rücken landen?
In einer Auffangstation in Bogotá hegen und pflegen Wissenschaftler schützenswerte, seltene Tiere, die hier abgegeben wurden. Eine Frau bringt ein kleines Stachelschweinweibchen vorbei. Seine Mutter wurde vom Hund der Frau zerrissen, sie barg das Ungeborene und zog es mit Milch und Liebe auf. Jetzt aber muss das Tier auf die Rückkehr in die freie Wildbahn vorbereitet werden. Das können nur die Fachleute, denen die Frau es schweren Herzens anvertraut.
»Für kurze Zeit nur hier« ist ein lesenswerter, ungewöhnlicher Roman, der durch seine einfühlsame literarische Sprache und die ungewöhnlichen Perspektiven besticht. Viele Passagen liest man wie Abenteuer, aber das ist eine menschliche Verklärung von Überlebenskämpfen. María Ospina Pizano schildert den tierischen Kosmos als ein riesiges, enges Geflecht von Kreaturen, die neben-, über- und untereinander her leben, einander hungrig, gleichgültig oder neugierig betrachten, vielleicht miteinander spielen, bevor sie einander dann mitleidlos und gedankenlos fressen, zerlegen, ignorieren, begatten. Anders als die Unterhaltungsindustrie es uns weismachen will, folgen sie stur und geradlinig ihren natürlichen Instinkten und Trieben und können eben nicht, wie wir, Entscheidungen zwischen Handlungsoptionen abwägen und schon gleich nicht moralisch beurteilen. Wenn die Autorin die Eigenart dieser anderen Welt einerseits unversehrt präsentieren will, sie dazu andererseits in unsere Sprache übersetzen muss, so begibt sie sich auf eine Gratwanderung. Die hat sie mit Bravour gemeistert.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2025 aufgenommen.