Rezension zu »Für kurze Zeit nur hier« von María Ospina Pizano

Für kurze Zeit nur hier

von


Was »erleben« Tiere in ihrem Alltag? Was mögen sie in ihrer Welt »empfinden«, wenn sie das könnten wie wir Menschen? Wie würden sie unsere Anwesenheit »erfahren«? Die kolumbianische Autorin María Ospina Pizano hat dies literarisch zu gestalten versucht, ohne ihre Protagonisten plump zu vermenschlichen. Ein ungewöhnliches Experiment mit reizvollem, wunderbarem Ergebnis.
Belletristik · Unionsverlag · · 208 S. · ISBN 9783293006225
Sprache: de · Herkunft: kl

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Zu Besuch in einer anderen Welt

Rezension vom 30.04.2025 · noch unbewertet · noch unkommentiert

María Ospina Pizano hat mit ihrem Debütroman etwas wahrlich Außer­gewöhn­liches geschaffen. Sie bringt uns nahe, was wir gerne wüssten, was wir uns viel­leicht schon oft gefragt haben, was wir nie erfah­ren werden und deshalb gern erträumen: das Innen­leben der Tiere. Sie wählt eine Handvoll un­schein­bare Exem­plare aus und erhebt jedes einzelne davon mit seinen Erleb­nissen in seiner Welt für die Dauer einer Episode zum Zentrum ihres Buches.

Die Ereignisse tragen sich in der kolumbia­nischen Haupt­stadt Bogotá zu, wo die Autorin 1977 geboren wurde, schweifen aus in andere Teile des Landes und berühren sogar New York und Süd­amerika. Überall verweilen die kleinen Lebewesen nur »für kurze Zeit«: »Solo un poco aquí« lautet der Original­titel. Peter Kultzen hat den Roman ins Deutsche übersetzt.

Zunächst lernen wir zwei Hunde kennen, die sich in dem Acht-Millionen-Moloch Bogotá auf sich selbst gestellt finden. »Kati« lebt eine Zeitlang mit einem Ob­dach­losen im Park, bis Unifor­mierte ihr Herrchen in einen Trans­porter bugsieren und Ord­nungs­kräfte mit Wasser­wer­fern und Tränengas alle ver­blie­benen Menschen und ihre Hinter­lassen­schaf­ten in den Grün­anlagen besei­tigt haben. Nun muss sie sich allein durch­schlagen.

Mona, ein »Wohnhaushund«, wurde in einem Auto her­chauf­fiert. Anders als sonst bindet ihr Frauchen sie heute an einem Gitter an und spricht zu ihr: »So, bleib schön sitzen, du wirst schon sehen, dich nimmt bestimmt wer mit.« Versteht Mona, dass diese Letzten Worte ihr nach dem Akt der Aus­setzung Trost bringen sollen für eine ungewisse Zukunft? Sie be­ob­achtet genau, was in ihrer Umge­bung geschieht, aber niemand beachtet sie. Bald jault sie vor Ver­zweif­lung, dann verkommt ihr Jaulen zum Wimmern. Nur eine Frau schenkt ihr einen Blick, bevor die Nacht anbricht und eisige Kälte bringt. Am Morgen knabbert die Hündin das Seil durch und kann im Park nach Essens­resten suchen. Die Frau vom Vorabend erkennt das abge­ma­gerte Tier wieder und hilft, so gut sie kann.

Bald treffen die beiden Hündinnen aufein­ander, landen schließ­lich im Tierheim und werden uns am Ende des Reigens der Tier­erzäh­lungen wieder begegnen.

Wer wird bei diesen Plot-Skizzen nicht sogleich an »Susi und Strolch« und ähnliche Produkte erinnert? Deren Tier-Prota­gonis­ten mit Kind­chen-Optik und landes­typi­schen Vor­namen schenken wir unsere Anteil­nahme vor allem deswegen, weil sie darge­stellt werden, als hätten sie Eigen­schaften wie wir Menschen (oder bessere). Sie rühren uns, weil sie sich nach einer Kette von Schick­sals­schlägen durch Tapfer­keit, Aus­dauer, Treue und der­glei­chen ein Happy End ›ver­dienen‹. Dem­gegen­über ver­gießen wir nor­maler­weise keine Träne des Mit­leids für Stuben­fliegen, Wühl­mäuse, Weber­knechte oder Mist­käfer, mögen sie noch so kühn, fleißig, klug oder kräftig wer­keln. Eine ›eklige‹ Gestalt genügt uns ja schon, dass wir sie zer­treten.

María Ospina Pizano hält sich fern von verloge­nen Klischees und Anthro­po­mor­phis­men. Sie findet eine eigen­stän­dige Sprache, die aus den Tieren selber kom­men und – wenn sie denn diese Gaben hätten – aus­drücken könnte, was sie wahr­nehmen und empfin­den. Immer wieder ver­hindert sie durch deut­liche Signale, dass wir uns naiv iden­tifi­zie­ren (Her­vor­hebun­gen von mir): »wahr­schein­lich ausge­hungert und durstig«, »womög­lich ganz ohne Wehmut«, »seine Glieder dürften ihm ziem­lich schwer vor­kommen«, »viel­leicht«, »auf seine Weise«.

Wie aber erleben die Tiere uns Menschen? Wie könnten sie auch nur ahnen, dass in den be­droh­lich lär­men­den flie­gen­den Kisten Menschen den Bestand an alten Bäumen karto­grafie­ren, um gespei­cherte CO2-Mengen zu er­mitteln? Da sie unser Universum noch viel weniger durch­schauen als wir das ihrige, greift die Autorin auch in dieser Blick­rich­tung als ›Über­setze­rin‹ ein, ebenso stark aber als Inter­pretin in ur­eigens­ter Sache. Denn die Funk­tionen, in denen Menschen in diesem Buch auftreten, sind scha­blonen­haft aus­ge­wählt und deut­lich ge­wichtet.

Wer es gut meint mit den Tieren, die streu­nenden Hunde strei­chelt und füttert, das sind die Bettler, Ob­dach­losen, Armen. Wohl in Folge der Per­spek­tive zahlen­mäßig deut­lich über­reprä­sentiert sind Wissen­schaftler, die Tiere und ihre Umge­bung studie­ren, und Helfer, die sich um sie küm­mern und alles sorg­fältig ver­walten. Auch Umwelt-Demon­stranten werden erwähnt. Die meisten ande­ren Menschen nehmen nicht einmal die Tiere in der Stadt wahr, sind gleich­gültig oder gehö­ren zu der namen­losen Masse, für die Tiere in unse­rer Welt ledig­lich Begleit­er­schei­nun­gen sind. Selbst wenn wir es mit unseren Haus­tieren gut meinen, ver­derben wir womög­lich ihren Charakter, wie Mona es wahr­nimmt: »Um die selbst­ge­fälli­gen Hunde, die hier spa­zieren­ge­führt werden, küm­mert sie sich nicht.«

Im Kapitel »Zwischen Bäumen vom Weg abkommen« werden wir auf die lange und gefähr­liche Reise eines Schar­lach­kar­di­nals mit­genom­men. Diese farben­präch­tige Sing­vogel­art beglei­tet oft die Schwärme anderer Zug­vögel zwischen Nord- und Süd­ame­rika, wo sie brüten bzw. über­wintern. In einer Sep­tember­nacht taucht unser Exem­plar am Himmel über Man­hattan auf, wo er wie Tau­sende anderer Vögel orien­tierungs­los und erschöpft die spie­geln­den Wolken­kratzer­fassa­den umkreist, »im Bann des Lichts […], das sie anzieht, das seinen elek­tri­schen Sieg zele­briert, seinen Willen aus Stahl und Glas auf sie los­lässt«. Wer in den klima­tisier­ten Büros sitzt, hört und sieht nichts davon. Doch im Wetter­radar ist die Zusam­men­ballung als großer grüner Fleck zu erken­nen, und viel­leicht wird ein Wissen­schaft­ler das Phänomen unzäh­liger tot vom Himmel fallen­der Vögel weiter­melden. Nur die kräfti­geren Tiere werden dem Chaos ent­kommen und weiter gen Süden zu ihrem Ziel ziehen.

Danach tauchen wir in eine Sphäre ein, die den meisten Menschen unver­traut und gleich­gültig, wenn nicht zuwider ist. Vergraben in der Erdkrume, erwacht eine Larve aus ihrem langen Schlaf und hat Hunger. Die schüt­zende Eihülle hat sie abge­streift. Wie durch ein leis­tungs­starkes Ver­größe­rungs­glas lässt uns die Autorin die Meta­morpho­se beob­achten, wie das Tier­chen seinen Kiefer lockert, um Laub ver­schlin­gen, und seine Flügel ent­faltet, um sich in die Lüfte erhe­ben zu können. Am Ende schließt sich das Käfer­weib­chen anderen Artge­nossen an, erforscht Gärten, probiert Blätter.

Aller Leben hängt an einem hauch­dünnen Faden, und ihr Weg ist mit Leichen der Gefährten ge­pflas­tert. Nehmen sie die Gefahren rund um sie herum wahr? Wissen sie, dass Vögel Ausschau nach »knackigen Insekten« halten? Dass riesige Men­schen­wesen sie zertreten, ohne es auch nur zu bemerken? Lernen sie irgend­wann ihre Lektion, wenn sie auf das ver­lockende Licht einer Glüh­birne herein­fallen, dagegen­prallen, zu Boden plump­sen und hilflos auf dem Rücken landen?

In einer Auffangstation in Bogotá hegen und pflegen Wissen­schaftler schützens­werte, seltene Tiere, die hier abgegeben wurden. Eine Frau bringt ein kleines Stachel­schwein­weib­chen vorbei. Seine Mutter wurde vom Hund der Frau zer­rissen, sie barg das Unge­borene und zog es mit Milch und Liebe auf. Jetzt aber muss das Tier auf die Rück­kehr in die freie Wild­bahn vorbe­reitet werden. Das können nur die Fach­leute, denen die Frau es schweren Herzens anver­traut.

»Für kurze Zeit nur hier« ist ein lesens­werter, unge­wöhn­licher Roman, der durch seine ein­fühl­same litera­rische Sprache und die unge­wöhn­lichen Per­spek­tiven besticht. Viele Passagen liest man wie Aben­teuer, aber das ist eine mensch­liche Verklä­rung von Über­lebens­kämpfen. María Ospina Pizano schildert den tieri­schen Kosmos als ein riesiges, enges Geflecht von Kreaturen, die neben-, über- und unter­einan­der her leben, einan­der hungrig, gleich­gültig oder neu­gierig betrach­ten, viel­leicht mit­einan­der spielen, bevor sie ein­ander dann mit­leid­los und gedan­kenlos fressen, zer­legen, igno­rieren, be­gatten. Anders als die Unter­haltungs­indus­trie es uns weis­machen will, folgen sie stur und gerad­linig ihren natür­lichen Instink­ten und Trieben und können eben nicht, wie wir, Ent­schei­dun­gen zwischen Hand­lungs­optio­nen ab­wägen und schon gleich nicht mora­lisch beur­teilen. Wenn die Autorin die Eigenart dieser anderen Welt einer­seits unver­sehrt präsen­tieren will, sie dazu anderer­seits in unsere Sprache über­setzen muss, so begibt sie sich auf eine Grat­wande­rung. Die hat sie mit Bravour gemeistert.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2025 aufge­nommen.


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