Rezension zu »Tiefer Winter« von Samuel W. Gailey

Tiefer Winter

von


Eine ermordete Frau, neben ihrem brutal zugerichteten Körper kniet der verachtete Außenseiter der Kleinstadt. Für den starken Mann im Ort, den Deputy Sheriff Mike Sokowski, liegt der Fall klar, und zu viele seiner Mitbürger lassen sich durch seine Rigorosität mitreißen, um Rache zu üben. Samuel W. Gaileys Debütroman ist ein düsteres, beklemmendes Werk über die Kraft von Vorurteilen, über Verrohung und Gewalt und die Trägheit moralischer Gewissheiten.
Thriller · Polar · · 380 S. · ISBN 9783910918221
Sprache: de · Herkunft: us

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Ein Roman wie ein eiskalter Atemhauch im Nacken

Rezension vom 07.07.2025 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Kompakter geht’s kaum. Der Plot von »Deep Winter« umfasst nur eine einzige kalte Winter­nacht im Jahr 1984 und verrinnt überdies im Fluge, so mit­reißend spannend erzählt der amerika­nische Autor Samuel W. Gailey die Handlung seines Debüt­romans. In den USA schon 2014 erschie­nen, wurde das Buch erst jetzt für den Polar Verlag von Andrea Stumpf ins Deutsche übersetzt. Dabei ist es kein Kriminal­roman nach üblichem Schema. Um das Ver­brechen und den Täter wird kein Geheimnis gemacht. Statt­dessen folgen wir gebannt, wie das Klima einer Klein­stadt­gesell­schaft von Vor­urtei­len, Ver­rohung und dumpfer Gewalt­bereit­schaft vergiftet und Mitge­fühl durch Verach­tung und Hass verdrängt werden. Aufge­wühlt von einem Mord und aufge­stachelt zu einer Art Blut­rausch, haben die Menschen Hand­lungen und Ereig­nisse zu verant­worten, deren Bruta­lität und Skrupel­losig­keit sich bis zu einem kaum vorstell­baren Kul­mina­tions­punkt steigern. So markiert das Ver­brechen den Tief­punkt eines latenten, lange gären­den sozialen Zerfalls und gerät zum Aus­löser einer bei­spiel­losen Eska­lation.

Wyalusing (»Heimat des ehrenhaften Kriegers« in der Sprache des indi­genen Tehoti­tachsae-Volkes) ist eine trost­lose Klein­stadt im Nord­osten Penn­sylva­nias. Hier wurde der Autor geboren, und hier verortet er sein Anti-Idyll. Fast alle Einwohner sind hier geboren und groß geworden, es sind weiße, unge­bil­dete, kultur­lose Hinter­wäld­ler, hoch­gerüs­tet mit legalen Waffen, jeder kennt jeden mit all seinen Sorgen und Proble­men in einem Alltag, der durch Tristesse, Alkoho­lismus und inner­familiäre Gewalt ge­zeich­net ist. Die Erzähl­per­spek­tive wechselt von Kapitel zu Kapitel, nicht aber das Welt­bild, das sich in simp­len Kate­gorien ver­fes­tigt hat: Wer anders ist, ist gefähr­lich. Wer schwach ist, ist verdäch­tig. Und wer sich nicht wehren kann, ist schuldig.

Im Zentrum der Handlung steht Danny Bedford – ein tragischer Anti­held, ein »sanfter Riese« mit der emotio­nalen Naivi­tät eines Kindes und der körper­lichen Präsenz eines Mannes, den man lieber nicht falsch ein­schät­zen möchte. Der merk­wür­dige Einzel­gänger, der den Stimmen in seinem Kopf folgt, wird zur Pro­jektions­fläche für das mora­lische Ver­sagen seiner Umwelt. Als Kind brach er ins Eis ein, versank für einige Minuten darunter, überlebte das Trauma des Sauer­stoff­mangels, blieb aber geistig be­ein­träch­tigt. Beim Versuch, ihn zu retten, starben seine Eltern. Sein Onkel Brett nahm ihn bei sich auf, konnte ihm aber weder Liebe schenken noch Kritik­fähig­keit ver­mitteln. Dafür entluden sich seine Frus­tra­tio­nen über seine Fäuste, schon gleich unter Alkohol­einfluss.

Die meisten Menschen im Ort nehmen Danny nicht für voll. In der Schule wird er gemobbt. Allein die auf den Tag gleich­altrige Mindy Knoll, die in der Schule eine Bankreihe hinter ihm sitzt, ist gerad­linig und resolut genug, ihn vor seinen Mit­schülern zu beschüt­zen, unter denen sich Mike So­kow­ski und Carl Robin­son mit besonders gemeinen Aktionen hervor­tun.

Auch die Eheleute Bennett sind Danny wohlge­sonnen. Nach dem Tod des Onkels bieten sie dem inzwi­schen erwach­senen jungen Mann an, die Ein­zimmer­woh­nung über ihrem Wasch­salon zu beziehen. Statt Miete zu zahlen, macht er sich nützlich, wo er kann, kümmert sich um die Maschinen, putzt, schließt morgens den Salon auf und abends ab.

Der harte Kern der Ereignisse nimmt am vierzig­sten Geburts­tag von Danny und Mindy seinen Lauf. Den ganzen Tag schnitzt Danny an einem kleinen hölzernen Rot­kehl­chen, das er nach getaner Arbeit seiner immer freund­lichen, einfühl­samen Jugend­freundin als Geschenk vorbei­bringen will. Am frühen Abend stapft er durch den tief­ver­schnei­ten Wald zu dem Trailer, in dem sie wohnt. Dort findet er ihren unbe­klei­deten, brutal zuge­rich­teten, blut­über­ström­ten, leblosen Körper – und verliert jegliche Fassung. Er fällt nieder, redet auf sie ein, tröstet sie, macht ihr Mut, hofft, dass sein Ge­burts­tags­ge­schenk ihr gefällt. Und so ver­zwei­felt finden ihn Mike So­kow­ski, mittler­weile zum Deputy avan­ciert, und sein ständiger Begleiter Carl Robin­son vor.

Von Anbeginn ist jedem Leser klar, wie die Dinge stehen. Selbst Danny konnte Mindys Mörder sehen, wie er den Trailer verließ. Doch er ist wehrlos gegen die Kräfte, die gegen ihn wirken. Denn in der gegebenen augen­schein­lichen Kon­stella­tion soll der Mord an Mindy ausge­rechnet diesem harm­losen Mit­menschen angehängt werden. Um dieses faden­schei­nige, abstruse Lügen­konstrukt in die Welt zu setzen und in den Köpfen zu festigen, bedarf es ge­schick­ter Über­zeugungs­taktik, und die gelingt dem Gesetzes­hüter mit Bravour. Schließ­lich bricht eine Horde manipu­lierter Fanatiker auf zur Jagd, und die eskaliert zu einer kaum mehr zu beherr­schen­den Spirale blut­rünsti­ger Rachsucht.

Mike Sokowski ist ein widerwärtiges Ekel­paket, chole­risch, unkon­trolliert, aggressiv, ständig gewalt­bereit, obszön. Frauen gegenüber kennt er keinerlei Respekt und keine Hemmungen. Er nimmt sie sich, wie es ihm beliebt, und behandelt sie wie Dreck. In Carl Robinson (»nicht mehr Verstand als eine Schmeiß­fliege«) hat er einen willigen Gefolgs­mann, ein schatten­haftes Anhäng­sel, das ihm bedin­gungs­los gehorcht. Obwohl Mike ihn je nach Laune und Alkohol­spiegel demütigt, lässt Carl nicht nach, ergeben nach Aner­ken­nung zu suchen. Nicht nur für die beiden ist es äußerst befrie­digend, dass es im Kaff jemanden gibt, der als Fußab­treter und Sünden­bock für die eigenen Miss­erfolge im Leben herhalten kann.

In vielerlei Hinsicht steht Samuel W. Gaileys Roman in geläu­figen Tradi­tionen der ameri­kani­schen Literatur. Wie die soziale Lage in abge­hängten Regionen des Konti­nents wie dem Rust Belt oder den öden Weiten des mittleren Westens ist, wie Einzelne und ganze Gemein­schaften daran ver­zwei­feln und verrohen können, haben viele Schrift­steller beschrieben (und dabei auch manches Klischee verfestigt).

»Tiefer Winter« geht noch einen Schritt weiter. Es ist keine einfache Lektüre – und will es auch nicht sein. Der Roman ist durch­zogen von sprach­licher Härte, von drastischen Szenen körper­licher wie seeli­scher Zer­störung, von einem morali­schen Vakuum, das sich in Teilen des amerika­nischen Hinter­lands mit erschüt­ternder Konse­quenz mani­festiert. Gailey schildert keine Gesell­schaft am Rande des Abgrunds – er zeigt eine, die längst hinein­gefallen ist, ohne noch ein Gespür dafür zu haben.

Was diesen Roman allerdings über das Genre des Noir hinaushebt, ist seine Fähig­keit zur Empathie. Trotz aller Bruta­lität gibt es in »Tiefer Winter« auch noch zarte, flüch­tige Augen­blicke der Mensch­lich­keit. Sie scheinen auf wie das fahle Licht eines ent­fernten Sterns im Schnee­gestöber und können nieman­den retten, aber das Grauen erträg­licher machen. Zusätz­liche Tiefe verleiht dem Text, dass der Autor auto­biogra­fische Erfah­rungen verar­beitet. Er schreibt nicht von außen über eine Welt, die er kon­struiert, aber nicht kennt, sondern spricht aus ihr heraus, als einer, der selbst verwun­det wurde. Ver­gleiche mit Steinbeck oder McCarthy mögen hoch gegriffen sein, doch Gaileys Gespür für soziale Mecha­nismen, seine präzise Beobach­tungs­gabe und seine lako­nische Sprache recht­ferti­gen den Ruf, den er in der ameri­kanischen Lite­ratur­szene genießt. Trotz der durchweg bitteren Handlung entlässt uns der Autor über­raschen­der­weise nicht mit einer Apoka­lypse, sondern mit einem geradezu harmo­nischen Schluss­bild des Schau­platzes, das Hoff­nung auf eine bessere Zukunft lässt. Bedarf es etwa erst eines Blut­bades, um manche Menschen zur Besin­nung zu bringen?


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