Wir dachten, das Leben kommt noch
von Elisabeth Sandmann
Die deutsche Autorin Elisabeth Sandmann erinnert an fast vergessene britische Heldinnen: die Frauen einer Einheit, die in Frankreich insgeheim gegen die deutsche Besatzungsmacht kämpfte und dabei ihr Leben riskierte. Eine Journalistin geht den wenigen Spuren dieser Frauen nach, die sich bis heute ihrem Schweigegebot verpflichtet fühlen.
Späte Würdigung
Die deutsche Autorin Elisabeth Sandmann hat nach ihrem Studium der Literaturwissenschaft und Erfahrungen im Verlagswesenim Jahr 2004 den Elisabeth Sandmann Verlag gegründet. Ihren Schwerpunkt legt sie auf »Schöne Bücher für kluge Frauen«. Die Arbeit als Verlegerin allein genügt ihr aber nicht. Sie möchte sich selbst als schreibende Literatin beweisen. So erschien 2015 in ihrem eigenen Verlag »Der gestohlene Klimt: Wie sich Maria Altmann die Goldene Adele zurückholte« und 2023 ihr Romandebüt »Porträt auf grüner Wandfarbe«, das zum Bestseller wurde.
In ihrem zweiten Roman »Wir dachten, das Leben kommt noch« erzählt die Autorin von britischen Frauen, die im zweiten Weltkrieg als Agentinnen ins von Deutschland besetzte Frankreich entsandt wurden. Nun möchte eine Stiftung ein Buch herausbringen, in dem den selbstlosen Frauen, die bei den Einsätzen ihr Leben riskierten, eine längst überfällige Würdigung erwiesen werden soll. Die fiktionale BBC-Moderatorin Gwendolyn Farleigh (»Gwen«) wird mit der historischen Recherche beauftragt und begibt sich 1998 nach Paris, um die Suche nach den wenigen noch lebenden Zeitzeuginnen zu intensivieren.
Gwendolyn Farleigh hat auch persönliche Verbindungen zu ihrem Auftragsthema. Ihre Großmutter, die Gräfin Ilsabé von Isolani, eine extravagante, glamouröse, weltgewandte Dame, lebte in den Kriegsjahren 1941 bis 1943 in Paris und betrieb in ihrer Wohnung ihren »Salon Isolani«. Dort sind auch feine Damen aus Deutschland gern zu Gast – Ehefrauen von Generälen, Elite-Beamten, Industriebaronen. Doch während im Salon »hochrangige Vertreter und Profiteure eines Verbrecherregimes« die Veranstaltungen entspannt genießen, bietet die Gräfin einer jungen Frau aus der Widerstandsbewegung (der Tochter der Concierge) einen Unterschlupf in einer Putzkammer des Hauses. Sollte das Versteck entdeckt werden, müssen beide mit Verhaftung, Folter und Tod rechnen. Trotz ihrer Wut auf die überheblichen Deutschen übernimmt die junge Lilou bei den Gesellschaften kleine Handreichungen, denn sie kann genug Deutsch, um Gesprächsfetzen zu verstehen. Informationen über geplante Aktionen der Besatzer gibt sie dann an ihren Bruder, einen aktiven Widerständler, weiter.
Zu ihrer Familie pflegte Gräfin Ilsabé wenig Kontakt. Ihrer Enkelin Gwen verriet sie kaum ein Wort über ihre gefährlichen Unternehmungen zu Kriegszeiten. Und auch Gwen entwickelt erst spät Interesse daran, die Großmutter mit dem schillernden Charakter nach ihrem bemerkenswerten Lebenswandel und den gefährlichen Jahren in Frankreich zu befragen. Doch die ist in ihrer Gesprächsbereitschaft wankelmütig. Erst mit der Idee, sie Kassetten besprechen zu lassen, entsteht ein Schatz an Material, der später von großem Nutzen für Gwens Projekt ist. Dann erst erkennt sie die Bedeutung einer längst vergessenen Aufforderung, die die Großmutter ihr kurz vor ihrem Tod ans Herz legte: »Fahr nach Paris und schau, ob Lilou noch lebt.«
Die Handlung dieses Buches spielt auf mehreren Zeitebenen, und die erzählten Inhalte sind von unterschiedlichem Gewicht. In der Jetztzeit wird unterhaltsam und detailreich Gwens Privatleben ausgebreitet. Die größten Rollen spielen darin ihr getrennt lebender Mann Balthasar, ihre quirlige Tochter Ruth, Tanten und gut befreundete Kolleginnen. Da erfahren wir beispielsweise, dass die diskussionsfreudige Ruth gern ein modernes Mobiltelefon hätte und dass die BBC seit ihrer Gründung ganz fortschrittlich auch Frauen einstellte.
Die Geschichte einer anderen Familie wird parallel dazu entfaltet. Claudine Conway ist Französin, ihr Mann Officer der Navy. Sie haben drei Kinder, Pat, Victor und Simone, von deren Jugend auf dem Lande in Devon wir zunächst in Rückblenden erfahren. Als am 3. September 1939 Großbritannien (und wenige Stunden später auch Frankreich) dem Deutschen Reich den Krieg erklärt, wendet sich das Schicksal aller. Victor wird Soldat und stirbt 1944 in der Normandie. Simone wird dem Women’s Royal Naval Service (»Wrens«) zugeteilt, einem Teil der Abwehr. Pat kümmert sich zusammen mit ihrer Mutter um evakuierte Kinder. So schwer die Zeiten sind, können sie doch keineswegs Rivalitäten, Animositäten, Eifersüchteleien und dergleichen verdrängen, etwa als Simone in fescher Uniform der Familie einen Besuch abstattet.
Gemäß seinem Motto »Steckt Europa in Brand!« gründet Churchill 1940 eine Spezialeinheit im Kampf gegen die Nazis, für die erstmals auch Frauen herangezogen werden: die Special Operations Executive (SOE). Diese Elitetruppe soll die deutschen Besatzer vor Ort in Frankreich zermürben und ihnen durch Sabotage schaden. Die jungen Engländerinnen mussten perfektes Französisch beherrschen und absolut zuverlässig, kompetent und eigenständig handeln können. Besonders schwierig gestaltete sich ihr Einsatz, wo sich ein Großteil der einheimischen Bevölkerung mit den Deutschen arrangiert hatte. Wem konnten die Frauen dann trauen?
Nach Ausbildung, hartem körperlichem Training und einem Eid zur Geheimhaltung wird Pat eine der 39 Agentinnen, die undercover und mit neuer Identität im Schattenkrieg auf französischem Boden gegen Hitler kämpfen wird. Aus Pat Conway wird »Emma Fleury«, Funkerin für die nachrichtendienstliche Spezialeinheit.
Die Verpflichtung zur Geheimhaltung kriegswichtiger Aktivitäten prägt Pat – ebenso wie ihre Gefährtinnen – noch lange nach Kriegsende, als sie längst ein zurückgezogenes Leben in Devon führt, nun wieder Pat Conway und über siebzig Jahre alt. Der Brief einer Stiftung, der »um Mithilfe bei der Aufarbeitung der Einsätze und Erlebnisse der SOE-Veteraninnen« bittet, unterzeichnet von der Journalistin Gwendolyn Farleigh, bricht bei ihr verdrängte Erinnerungen und Schuldgefühle auf.
Elisabeth Sandmanns Roman ähnelt in seiner Struktur einem unregelmäßig geflochtenen Zopf ohne straffe Zusammenbindung. Der interessanteste und packendste zentrale Handlungsstrang wird zwar durch sein Thema – die hochgefährlichen SOE-Aktivitäten – zusammengehalten, doch die unterschiedlichsten Erzählgegenstände und -situationen fragmentieren ihn. Diverse Protagonistinnen/Erzählerinnen (Pat, Simone, die Gräfin, Gwen …) führen uns auf ihren Spuren in verschiedene Situationen und lösen einander, Cliffhanger hinterlassend, ab. Das ist kunstvoll arrangiert, bremst aber die Eingängigkeit und das Interesse an den eigentlichen Tätigkeiten der Agentinnen. So erzählt etwa Pat in mehreren Episoden von eindringlichen Gesprächen mit einer guten Freundin, die in Bletchley Park an der Entschlüsselung deutscher Codes mitgearbeitet hatte – und mittendrin muss sich Gwen mit Ruths Handywünschen auseinandersetzen …
Im Agentinnen-Strang brilliert die Autorin trotz solcher Brüche. Sie enthält sich jeglicher Spionagethriller-Romantik, erzählt sachlich, was die Frauen leisteten und welche Schwierigkeiten ihnen begegneten. Trotz intensiver Vorbereitung auf alle möglichen Gefahren konnten Folter und Lagerhaft jederzeit ihr Leben gefährden. Denunziation, um sich persönliche Vorteile zu verschaffen, kam selbst in den eigenen Reihen vor. Manch gewagte Aktion hätte durchaus noch intensiver geschildert werden können. Andererseits muss man der Autorin zugutehalten, dass sie uns mit expliziten Brutalitäten verschont.
Dagegen sinkt der ansonsten so lesenswerte Roman mit Gwens breitgetretener Familiengeschichte auf das Niveau besserer Unterhaltungsware.
Ob Lilou noch lebt, erfahren Gwen und wir erst viele Seiten später, wie die Handlung, die auch die Befreiung durch die Alliierten und Aktionen in der Nachkriegszeit umfasst, natürlich noch etliche Überraschungen bereithält. Weitere Fakten zu den SOE agents gibt uns die Autorin in einem Nachtrag »Was damals wirklich geschah«.
Elisabeth Sandmanns Roman »Wir dachten, das Leben kommt noch« ist absolut lesenswert. Die geschickte Erzählweise mit aufregender Handlung und Cliffhangern am Ende vieler Episoden erhöhen die Spannung, die sich bis zum Schluss unglaublich steigert. Dialoge, detailreiche Beschreibungen und ein paar Spritzer Humor (selbst in gefährlichsten Situationen) schaffen ein realitätsnahes, authentisches Bild der Menschen in Zeiten größter Bedrohung für Leib und Leben. Im letzten Absatz appelliert die Autorin, dass »Freiheit und Demokratie« das höchste Gut seien, für das man im Ernstfall kämpfen sollte. Deswegen seien die SOE-Agentinnen »zu einem unvergesslichen Vorbild geworden«.
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