Rezension zu »Der stille Freund« von Ferdinand von Schirach

Der stille Freund

von


Ferdinand von Schirachs neuer Band fasziniert mit prägnanten Erzählungen, Skizzen und Essays: starke Figuren, harte Konflikte, pointierte Schlüsse. Ein distanziert beobachtendes Ich berichtet im präzisen Minimalstil – ohne Urteil, ohne Lebensregeln. Die Ambivalenzen bleiben offen; genau daraus bezieht das Buch seine Wirkung.
Belletristik · Luchterhand · · 176 S. · ISBN 9783630878126
Sprache: de · Herkunft: de

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Kleine Formen, große Fragen

Rezension vom 08.10.2025 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Vierzehn Texte, ein Band: Ferdinand von Schirach ver­sammelt in »Der stille Freund« kurze Erzäh­lungen, Minia­turen und knappe Be­trach­tungen. Die Ereig­nisse tragen sich in unter­schied­lichen Jahr­zehnten und an sehr ver­schie­denen Orten zu, und doch wirkt das Buch keines­wegs zer­split­tert. Der rote Faden ist der Blick eines Ich-Erzählers, der erzählt, ohne zu dozieren, der Fragen stellt, ohne sie zur Prüfung zu stellen. Er hört zu, proto­kolliert, ordnet sparsam – und überlässt dem Leser die letzte Deutung.

Auffällig ist das Personal. Viele Figuren stammen aus gebil­deten, souve­ränen, welt­läufi­gen Milieus; sie bewegen sich selbst­ver­ständ­lich zwischen Hotels, Museen, Villen, Konzert­sälen, Clubs und guten Restau­rants. Dieses Umfeld schafft einen kühlen, kon­trol­lier­ten Abstand, als schaue man aus einem hellen Salon auf die Zumu­tungen der Welt. Mitunter gerät das ins Zur­schau­stellen: ein Grund­rauschen von Namen und Orten, das nichts erklärt und doch immer ein erlesenes Hinter­grund­säuseln bereit­stellt. (Da Schirach durch­gängig aus der Ich-Per­spek­tive schreibt, stellt sich un­weiger­lich die Frage, wie viel Auto­bio­grafie im Erzähler steckt – und wie viel bewusst gesetzte Rolle. Letzt­lich ist sie irrele­vant.) Gleich­zeitig ist gerade dieses Setting der ideale Reso­nanz­raum für plötz­liche Risse – für das Moment, in dem eine Bio­grafie kippt.

Schirach erzählt in seiner bekannten Prägnanz: Sätze, die nicht schwingen wollen, sondern passgenau sitzen. Szenen, die mit zwei, drei Strichen ein Set vors Auge rufen, auf dem sofort gedreht werden könnte. Ein Rückraum aus juristi­scher Präzision und litera­rischer Ökonomie. Darum reichen ihm 100 bis 200 Seiten, um ganze Lebens­läufe anzu­reißen und ex­plosions­artig Konflikte unter­schied­lichs­ter Kate­gorien freizu­legen. Man liest schnell – und trotzdem verweilt man immer wieder.

Die Bandbreite der Stoffe ist groß: Schuld, Recht und Strafe; Gewalt in vielen Facetten; Verrat und Loya­lität; die leisen Zonen von Freund­schaft, Sehnsucht, Hoffnung. Neben Gegen­warts­szenen stehen histo­rische Minia­turen. Schirach zeichnet etwa ein knappes, zugleich emphati­sches Porträt des öster­reichi­schen Literaten, Jour­nalis­ten, Kultur­philo­sophen und Theater­mannes Egon Friedell (1878-1938); er betreibt foren­sische Annähe­rung an den Wiener Archi­tekten Adolf Loos (1870-1933), einen Weg­berei­ter der modernen Archi­tektur, und andere Künstler, deren sexuelle Bezie­hungen mit Minder­jährigen bekannt sind – und interes­siert sich nicht für den skandal­trächti­gen Aspekt ihres Handelns, sondern für die weit um­fassen­dere Frage, ob und wie das Werk eines Künstlers durch sein frag­würdi­ges oder ver­breche­risches Handeln belastet ist. Das alte Thema »Werk und Autor« bekommt hier einen konkreten Fall, der die bequemen Antworten brüchig macht. In einer anderen Ge­schich­te wird der Tennis­spieler Gott­fried von Cramm (1909-1976) mit einem Akt des Fair Play zu einer Figur, an der die Mög­lich­keit des Anstands ver­messen wird: kein Helden­kitsch, aber eine Erinne­rung daran, dass kon­sequen­tes Handeln gegen alle Be­drohung möglich ist.

Politische Aktualität tritt nur in einigen Texten in Erschei­nung – am deut­lichs­ten der 7. Oktober 2023 mit den sich an­schlie­ßenden Propa­ganda- und Ver­schwö­rungs­wellen. Schirach stellt hier eine ganze Serie von Ereig­nissen zu­sam­men, garniert sie mit eigenen Be­obach­tungen und sparsamen Kom­men­taren – und George Orwell als Referenz (»Wenn Sie sich ein Bild von der Zukunft machen wollen, so stellen Sie sich einen Stiefel vor, der ein mensch­liches Gesicht zer­trampelt – unauf­hör­lich.«). Ganz unge­wöhn­lich endet dieser Essay in einer ein­deuti­gen, drasti­schen Schluss­folge­rung: »Diese Stiefel sind heute die sozialen Medien.«

Die stärksten Erzählungen sind die, in denen ein klarer Konflikt auf engstem Raum steht. So beginnt ein Stück (»Fehler«) als psycho­logi­scher Fall und wechselt abrupt die Richtung, ohne den Plot-Twist auszu­kosten: Der Effekt entsteht nicht durch die Volte, sondern durch die Er­kennt­nis, wie dünn unsere Er­klärun­gen werden, sobald ein Detail nicht mehr passt. Eine weitere kurze Ge­schich­te erzählt eine Ko­inzi­denz, die nach tiefer Ordnung riecht: Ein Mann, der im Leben vieles falsch gemacht hat, kommt ausge­rech­net dann ums Leben, als er einmal richtig handelt. Der Text lockt uns zur morali­schen Deutung eines ver­dien­ten Schick­sals – und ver­weigert sie im letzten Moment. Der Erzähler berichtet lediglich einen be­merkens­werten Fall, ohne daraus eine Lehre ziehen zu wollen oder zu können: Das Leben lässt sich nicht syste­mati­sieren. Die titel­geben­de (und um­fang­reichste) Erzäh­lung geht auf einen alten Freund zurück. Sie zeigt einen Mann auf lebens­langer Sinnsuche: vom Glauben zur Philo­sophie, von dort zu den Natur­wissen­schaften – und schließ­lich zu einer einfachen, seltsamen Evidenz, die sich nicht mehr in Theorien fassen lässt: dem gelebten Augen­blick als einem Platz, zu dem man zurück­kehren kann, um Frieden zu finden.

Über diese Spannweite hinaus mischt der Band Formen. Neben Erzäh­lungen stehen knappe Feuille­tons, daneben reine Skizzen. Alle Texte sind für sich lesbar, das Buch muss nicht der Reihe nach konsu­miert werden. Das macht die Lektüre ab­wechs­lungs­reich und leicht por­tio­nier­bar. Man hält hier und da kürzer inne, anderswo länger; manche Stücke tragen als »Fälle« weiter, andere wirken wie vor­satz­zen­trierte Kon­strukte, die man zu­stim­mend regis­triert, um dann weiter­zu­ziehen. Dass nicht jede Miniatur denselben Nachhall hat, gehört zu diesem Format.

Stilistisch bleibt Schirach sich treu: kein Schmuck, keine Hektik, sondern Kürze, Genauig­keit, Zurück­haltung. Der Ton ist un­drama­tisch, bis­weilen tat­säch­lich medi­zinisch analy­tisch – selbst dort, wo es wehtut. Die Bilder sind klar, die Details gewählt: eine Hand­bewe­gung, ein Satz, der zu groß oder zu klein ist für die Situation. Mehr braucht es oft nicht, damit ein Lebens­lauf ins Stolpern gerät. Wer verfilmte Um­setzun­gen seiner Texte kennt, wundert sich darüber nicht: Sie scheinen bereits mit Kamera­achsen im Kopf ge­schrie­ben.

Hinter all dem steht ein Grund­motiv, das erst am Ende richtig sichtbar wird. Der Band bietet keine Regeln an, kein Geländer für die ganz großen Fragen. Statt­dessen spricht jede Ge­schich­te für sich – und erlaubt doch am Schluss die selben, schlich­ten Rück­fragen: Was ist das Leben? Warum glückt ein Leben, während ein anderes scheitert? Gibt es für Schuld und Gnade so etwas wie Waag­schalen – oder nur Augen­blicke, die wir kaum fassen können? Schirach liefert keine Antworten, die man an die Wand hängen könnte. Er zeigt uns Menschen in Ent­schei­dungs­momen­ten, und er zeigt, wie dünn die Begriffe werden, wenn wir uns strikt auf das Konkrete, Sichtbare be­schrän­ken.

Übrig bleibt ein Buch, das man in zwei Abenden lesen kann und das länger nach­arbei­tet, als seine Seiten­zahl vermuten lässt. »Der stille Freund« zeigt den Autor als kon­zen­trier­ten Erzähler, der mit knappen Mitteln ganze Lebens­räume öffnet; als Be­obach­ter, der dem Leben Texte ablauscht; als Suchenden, der sich nicht hinter Thesen versteckt. Die stärksten Stücke tragen den Band mühelos. Und auch dort, wo die Form ins Essayis­tische kippt oder das Milieu ein wenig zu sehr glitzert, bleibt genug Substanz: Fragen, die man nicht ab­schließt, und Figu­ren, die man nicht so schnell vergisst.


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