Weihnachtsmärchen aus Bayern
von Alfons Schweiggert
48 originelle Weihnachtsgeschichten, märchentypisch erzählt, reich an Motiven, klar in der Moral, freundlich im Menschenbild – ein Hausbuch zum Vorlesen und Für-sich-Genießen. Wer für ein paar Stunden aussteigen will, findet hier eine leise, warmherzige, vergnügte, weise Gegenwelt.
Die Einsamkeit des Schneemanns
Wussten Sie eigentlich, warum es im November so viel und so schmuddelig regnet? Das kommt daher, dass die himmlischen Weihnachtsvorbereitungen schon in vollem Gange sind: Die Englein müssen all die Lichter am Firmament abschrubben, selbst die Sonnenscheibe waschen, damit sie wieder funkeln wie neu. – In genau diese freundliche Logik taucht Alfons Schweiggerts Sammlung ein.
Auf 151 Seiten mit 48 Geschichten zwischen einer und zwölf Seiten lang wird viel erzählt – und nie das Ewiggleiche. Die Plots sind durchweg originell, zumeist noch nie gelesen. Sie tragen sich heute und »früher« zu, bis hin zu Christi Geburt, und manche blenden gar bis in die Urzeit zurück. Viele Texte nehmen überlieferte Stoffe auf, drehen eine Schraube weiter, kombinieren Motive überraschend und mit Witz. Neben weihnachtlichem Stammpersonal begegnen uns der alte Frost und sein Sohn, ein Osterhase, dem zu Weihnachten langweilig ist, die Niko-Laus, ein »Weihnachtskugelleger« und ein »Christbaumgurkenweihnachtslied«.
Wie wird erzählt? Im märchentypischen Ton, wie er aus dem volkstümlichen Erzählen vertraut ist, in sehr gepflegtem Hochdeutsch und nur gelegentlich mit dialektalen Anspielungen. Alle Szenen sind liebevoll und sorgfältig bis in die Details ausgestaltet, und immer wieder blitzen schöne poetische Formulierungen auf. Man spürt den Spaß an Bildern, am Klang, an kleinen Refrains – ohne dass je geschwätzig würde, was schlicht sein soll.
Wovon wird erzählt? Von Motiven, wie sie Volks- und Kunstmärchen seit jeher tragen: gute Kinder und böse Geister, verwöhnte Prinzessinnen und hartherzige Könige, verliebte Knechte und zaubernde Feen, arme Eltern und hilfreiche Engel, die belebte Natur, heiße Wünsche und wunderliche Einfälle; auch der arme Poet in der Dachkammer fehlt nicht. Religiöse Motive klingen häufig an, und oft zeigen die Geschichten, was richtiges Verhalten ist und bewirkt. Andere sind einfach nur lustig.
Die Grundlinie ist ein einfaches Moralgerüst, deutlich erkennbar, aber ohne Holzhammer vermittelt: Fleiß, Treue, Freundschaft, Ehrlichkeit, Nächstenliebe werden gerühmt und belohnt, Faulheit, Betrug, Raffgier und Drückebergerei werden getadelt und bestraft. Was kann daran falsch sein? Das vorgestellte Menschenbild ist idealistisch: Alle hören einander zu, denken unvoreingenommen mit, sind neugierig und wissbegierig, staunen und nehmen ernst, was ihnen an merkwürdigen Begebenheiten berichtet wird. Wer diese Spielregeln nicht beherrscht, ist hier nicht »verloren«, sondern darf eben noch lernen, sich als Mitmensch zu verhalten.
Was tun mit diesem Buch? Fast alle Geschichten verlocken dazu, sie einem aufgeschlossenen Kind vorzulesen, das sich seinen Sinn für das Wundersame bewahren durfte. Wer Erholung braucht von täglichen Nachrichten, Angstkampagnen, hohlem Materialismus und den unsäglichen Dummheiten unserer Zeitgenossen, kann hier abtauchen, Trost und Alternativen finden. Dieses Buch entführt in eine andere Welt – in ewig alte Motivik, Stimmungen und kleine Weisheiten, selbst wenn manche Erzählung Details unseres Alltags aufgreift. Kritische Leser mögen diese Art naiver Schönheit und warmherziger Ernsthaftigkeit als Kitsch abtun. Zugleich ist genau das der Punkt: Naturgesetze sind aufgehoben, und die heutige Welt mit ihrer großspurigen Politik, die an den eigenen Ansprüchen scheitert, bleibt weit entfernt. Für ein paar Stunden vermisst man nichts: keinen Glühweinduft, kein Lichterkettengeflimmer, keine aufgeblasenen Weihnachtsmänner – und schon gar kein ach so smartes Telefon.
Dass die Sammlung so gut trägt, liegt an ihrer Mischung aus Erfindungslust und Vertrautheit. Schweiggert variiert archetypische Muster, ohne sie zu verraten, und gönnt seinen Stoffen immer wieder kleine Ironien am Rand. Die Titel allein machen neugierig: »Die streitenden Adventskerzen«, »Die Geschichte von der rutschigen Straße«, »Die drei Weihnachtsschätze«, »Der Christmensch«, »Was das traurige Schaf angerichtet hat«, »Der Kobold in der Christbaumkerze« – und viele mehr. Man kann die Geschichten einzeln pflücken oder im Advent täglich zwei nehmen: Die Länge lädt zum Vorlesen ein, die Pointe lässt einen lächeln, und die stilleren Stücke bleiben als warme Erinnerung.
Natürlich ist das alles nicht die Welt, wie sie ist. Aber es ist eine, die etwas mit unserer zu tun hat – nicht als Kommentar, sondern als Angebot: innezuhalten, das Staunen zu üben, den einfachen Anstand ernst zu nehmen. In dieser Hinsicht wirkt das Buch ganz gegenwärtig. Es plädiert nicht, es zeigt. Und wenn am Ende die Schneeflocken auf einen einsamen Schneemann fallen, dann spürt man das kleine Ziehen, das solche Geschichten behalten: eine heitere Melancholie, die nicht weh tut, sondern wärmt.
Bücher und Musik für Advent und Weihnacht
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