Rezension zu »Eden« von Jan Costin Wagner

Eden

von


Als ihre zwölfjährige Tochter bei einem Terroranschlag getötet wird, verlieren ihre Eltern den gemeinsamen Halt. Während sich die Mutter zurückzieht, sucht der Vater die Hintergründe des Ereignisses zu verstehen. Doch die Untat schlägt auch Wellen in der Gesellschaft.
Belletristik · Galiani · · 320 S. · ISBN 9783869712598
Sprache: de · Herkunft: de

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Wege der Trauer

Rezension vom 28.10.2025 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Die Ausgangslage des Plots von Jan Costin Wagners neuem Roman ist ein Zustand nicht allzu häufigen Glücks. Sofie Stenger, zwölf, ist der geliebte Mittel­punkt einer kleinen, ver­ständ­nis­vollen, un­be­schwer­ten und stabilen Familie: Mutter Kerstin, Vater Markus, viel ge­mein­samer Alltag, ver­läss­liche Nähe. Als Markus für seine Tochter Karten für das Konzert ihrer Lieb­lings­sänge­rin besorgt, scheint das ein Geschenk, das noch Jahre nach­leuch­ten wird. Sofie ist über­glück­lich.

Der Abend endet in einer Katastrophe. Ein Selbst­mord­atten­täter sprengt sich im Foyer in die Luft. Unter den vielen Toten ist auch Sofie.

Wagners Roman folgt nicht den Ermitt­lungen der Polizei, sondern in erster Linie der Trauer der Hinter­bliebe­nen und in zweiter Linie den Wellen, die die Tat im Land schlägt.

Markus und Kerstin reagieren gegen­sätzlich. Markus sucht Halt in Handlung. Er will verstehen, wie es zu der Tat kommen konnte; er liest, fragt nach, fährt hin. Er nimmt Kontakt zur Familie des Täters auf, spricht mit Eltern und Bruder, tastet sich an deren Alltag heran. Er sitzt in einer Talkshow und versucht, dem reflex­haften Zorn nicht zu folgen. Später mietet er – als hilfloser Versuch, der Leere etwas ent­gegen­zu­setzen – die frei­ge­gebene Wohnung des Atten­täters und richtet sie als künftige Stu­denten­wohnung für Sofie ein. Das ist ver­störend und, ja, schwer zu glauben. Aber als Bild für den Wunsch, das Unfass­bare in ein ver­trautes Gefüge zu zwingen, ist es stark.

Kerstin zieht sich zurück. Ihre Mutter Margot lebt mit Demenz im Pflege­heim. Markus will, dass sie glücklich bleiben darf in der Illusion, die Enkelin tanze noch. Kerstin erträgt diese Schonung kaum. Sie bricht den Alltag ab, sucht Ruhe, Abstand und Halt in einer Kurklinik, kommt zu Geburts­tagen und Feier­tagen zurück und geht wieder fort. Die Sätze des Trostes, die gern bemüht werden – »dass Sofie gewollt hätte, dass wir leben, dass wir glücklich sind« –, stützen sie nicht. Der Roman zeigt diesen Still­stand nüchtern und genau, ohne Kerstin als ab­sonder­lich oder depressiv abzu­stem­peln. Trauer ist keine gerade Linie.

Parallel legt Wagner dünne Fäden in die Umgebung. Tobias, Sofies Freund aus der Schule, hat sie stets um das warme Klima ihres Zuhauses beneidet – bei seiner Familie ist An­span­nung der Normal­zu­stand. Sein Vater hat sich in einer digitalen Echo­kammer ein­gerich­tet, scrollt durch Schlag­worte und vir­tuelle Erre­gung: Corona-»Auf­arbei­tung«, »Re­migra­tion«, die nächste Em­pörung. Ein TV-Gesicht mit deut­lich er­kenn­baren Zügen Alice Weidels gibt den Ton vor. Der Roman zeigt in diesen Szenen, wie einfach sich indivi­duel­les Leid an große Erzäh­lun­gen andocken lässt und als Material für die unter­schied­lichs­ten politi­schen Rich­tungen instru­men­tali­siert werden kann.

Den Täter selbst konturiert Wagner nur knapp. Ayoub Issah ist kein ge­bore­nes Monster, hat keine Ent­schuldi­gung. Er ist ein junger Mann mit dem Gefühl, nicht zu ge­nügen. Obwohl ein guter Boxer, wird er ohne Erklä­rung aus dem Verein geworfen. Immer stärker schlägt ihn die Idee in den Bann, sich durch eine letzte Tat fort­dauernde Bedeu­tung zu ver­schaf­fen. Sein Motiv bleibt frag­menta­risch. Das ist konsequent, denn die eigent­liche Be­wegung des Romans liegt in der Frage, was die Tat mit den ande­ren macht.

»Eden« ist multiperspektivisch gebaut. Der Fokus liegt auf Markus und Kerstin, aber auch Neben­figuren bekom­men Stimmen, die mehr sind als bloßes Beiwerk zur Be­reiche­rung eines Bildes. Die Dialoge wirken un­an­ge­strengt; sie ver­meiden große Gesten und setzen auf kleine Zeichen – ein Zögern, ein Aus­wei­chen, ein Wieder­holen. Viele Szenen bleiben still: ein Warten im Café; ein Gang durch die Wohnung des Täters; ein letzter Satz der Groß­mutter, der eine tröst­liche, aber falsche Welt noch einmal fest­hält: »Sofie tanzt.«

In Wagners Werk steht der Roman an einer klaren Naht. Aus seinen bekann­ten Krimi­nal­roma­nen bringt er die Fähig­keit mit, Situa­tionen auf ihren Kern zu redu­zieren; zugleich entfernt er sich vom Genre und folgt seinem Inte­resse an den inne­ren Pro­zessen seiner Prota­gonis­ten. Auch diese Ent­wick­lung zeugt von Kon­se­quenz: psycho­logi­sches Erzählen statt krimi­na­listi­scher Logik. Immer wieder zeigt sich bei seinen Charak­teren, wie unter­schied­lich Menschen einen Bruch verar­beiten – aktiv, passiv, nach außen, nach innen, fliehend oder suchend. Dass diese Wege ein Paar nicht zu­sammen-, sondern aus­ein­ander­führen, macht »Eden« schmerz­haft deutlich.

Nicht alles überzeugt. Markus’ Entschluss, die Familie des Atten­täters aufzu­suchen, und seine späte­ren Ver­däch­tigun­gen gegen den Bruder berühren die Grenze der Plausi­bilität. Die Ein­bindung gesell­schaft­licher Reiz­themen – Corona, AfD, das gerade um­strit­tene Schlag­wort »Re­migra­tion« – wirkt strecken­weise zu ab­sichts­voll, als müsse die tages­aktuelle Note noch ›dazu‹ zur Be­wälti­gung privaten Leids. Wo der Roman jedoch bei seinen Kern­figuren bleibt, ist er stark. Dann fügen sich die Motive: die Ver­suchung der Instru­men­tali­sierung; die An­ständig­keit, die im Lärm müh­sam ihre Stimme sucht; der Wunsch, einer Persön­lich­keit gerecht zu werden, ohne die Tat zu rela­tivie­ren.

Stilistisch setzt Wagner auf Zurück­haltung. Die Sprache ist schlicht, die Sätze sind klar, das Tempo ist ruhig. Der Text erklärt nicht, er zeigt. Dadurch entstehen Räume, in denen Lese­rinnen und Leser ihre eigenen Deu­tungen prüfen können. Ein­fache Ant­worten ver­weigert der Roman nach­drück­lich; er notiert, was geschieht, wenn eine Familie vom Rand her erodiert. In dieser Weige­rung liegt seine Ehrlich­keit.

Auf einer zweiten Ebene spiegelt »Eden« bekannte Muster unse­rer Gegen­wart: die schnelle Besetzung von Ereig­nissen durch Politik und Medien, die Kon­kur­renz von Deu­tungen, der Sog der Talk­shows, Foren, Social-Media-Apps. Markus’ Auftritt im Studio gehört zu den stär­keren Passagen, weil er mecha­nische Em­pö­rungs­thea­tralik nicht bedient und damit beinahe sprach­los bleibt. Der Roman gibt dieser Sprach­losig­keit Raum – und findet in ihr dennoch einen Satz, der trägt: weiter fragen, weiter sprechen, nicht aufhören, den anderen als Menschen zu sehen.

Am Ende steht kein Trost, der das Ge­sche­hene klein macht. »Eden« zeigt, dass Ver­söh­nung – wenn sie über­haupt eine Option ist – nicht in die Ver­gangen­heit reicht. Der Roman setzt auf das, was Sofie zu Lebzeiten ver­kör­perte: soziale Lebens­kraft, Zuwen­dung, das Be­harren auf Gespräch. Das ist wenig und viel zugleich. Es rettet nie­manden; aber es verhin­dert, dass der Bruch das letzte Wort bekommt.

»Eden« ist damit kein Krimi über einen Anschlag, sondern ein Roman über Trauer­arbeit in einer polari­sierten Gesell­schaft. Er erzählt von Eltern, die ihre Sprache ver­lieren, und von einer Öffent­lich­keit, die zu laut ist, um ihnen zuzu­hören. Wo der Text sich auf das Kon­krete be­schränkt, über­zeugt er durch Ge­nauig­keit und Takt. Wo er das Zeit­ge­schehen an­heftet, bleibt er an weni­gen Stellen erklä­rend. Insge­samt aber ist »Eden« ein stilles, ernstes Buch, das den Leser nicht ent­lässt mit ›Lebens­regeln‹, sondern mit der schwereren Aufgabe, den Ambi­valen­zen stand­zu­halten – im Pri­vaten wie im Öffent­lichen.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Herbst 2025 aufge­nom­men.


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