Rezension zu »Die acht Leben der Frau Mook« von Mirinae Lee

Die acht Leben der Frau Mook

von


Mirinae Lee erzählt die Geschichte einer Frau, die, um zu überleben, Identitäten zu wechseln lernt, als wären es Sprachen oder Orte. Episodenhaft und perspektivenreich verknüpft der Roman Gewaltgeschichte, Fürsorge und die Ambivalenz des Erinnerns – ein ungeschöntes, bewegendes Porträt des koreanischen 20. Jahrhunderts.
Belletristik · Unionsverlag · · 336 S. · ISBN 9783293006317
Sprache: de · Herkunft: gb

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Namen. Rollen. Überleben.

Rezension vom 20.10.2025 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Mirinae Lee ist in Südkorea geboren und aufge­wachsen, hat in den USA Englische Literatur studiert und lebt heute in Hongkong. Ihren Debüt­roman hat sie in engli­scher Sprache verfasst: »8 Lives of a Century-old Trickster« erschien 2023 in Groß­britan­nien, stand auf der Longlist des Women’s Prize for Fiction und erhielt den William Saroyan Inter­natio­nal Prize for Writing. Das Buch wurde in etliche Sprachen übersetzt, u.a. durch Karen Gerwig ins Deutsche.

Dieser bemerkenswerte Roman spannt einen Bogen über ein Jahr­hundert ko­rea­ni­scher Ge­schich­te. Im Jahr 1910 annek­tierte Japan das bis dahin eigen­stän­dige Reich und betrieb die rigo­rose Aus­löschung der ko­reani­schen Kultur und Sprache. Die Phase der de­struk­tiven Bevor­mun­dung, Unter­drü­ckung und Aus­beu­tung der Be­völ­ke­rung endete 1945 mit Japans Kapitu­lation. Danach über­trugen die Vereinten Nationen der Sowjet­union und den USA die Ver­wal­tung des Landes. Statt zur Schaffung eines ko­reani­schen Staates führte die ideo­logi­sche Rivalität der beiden Sieger­mächte zur Teilung des Landes entlang des 38. Breiten­grades. 1950 ent­brann­te zwischen Nord und Süd der Korea­krieg mit aus­ländi­scher Betei­ligung auf beiden Seiten. Trotz des 1953 ge­schlos­senen Waffen­still­stands blieb das Ver­hält­nis zwischen den beiden Landes­teilen bis heute ge­spannt.

Im Zentrum des Erzählens steht Mook Miran, eine schil­lernde Kunst­figur, deren Bio­grafie als Prisma für die Erfah­rungen vieler steht. Sie lebt im Pflege­heim »Golden Sunset« in Seoul. Dort inter­viewt die Ich-Erzäh­lerin des Prologs die Heim­be­woh­nerin­nen, um deren Bio­gra­fien zu doku­men­tie­ren und sie später als Nachruf zu ver­wenden. Auch Frau Mook beginnt, ihr ihre Lebens­ge­schich­te anzu­ver­trauen. Obwohl »über­morgen hundert« Jahre alt, erweist sie sich als un­ein­ge­schränk­te Herrin ihrer Sinne, ihres Geistes und ihrer Erleb­nisse und ver­schlüs­selt ihre Vita in acht Eti­ketten: »Sklavin. Flucht­künst­lerin. Mör­derin. Terro­ristin. Spio­nin. Ge­liebte. […] Mutter. […]. Hoch­stap­lerin.«

Die Autorin legt Frau Mooks »acht Leben« nicht chrono­logisch an. Die Kapitel sind mit Jahres­zahlen versehen (1961, 1938, 1950, 1942, 1955, 2005, 2006), jedoch wechseln auch ihre Orte, Themen, Per­spek­tiven und Identi­täten. In dieser Montage durchaus eigen­ständig wir­kender Erzäh­lungen mit ver­wirren­den Zeit­sprün­gen Orien­tierung zu gewinnen und zu behalten fordert Mühe, ist aber dank der Zeit­marken und der zentralen Cha­rak­tere möglich. Unser Eindruck, es könne sich um mehrere Bio­gra­fien handeln, die Frau Mook zu ihrer eigenen bündelt, gehört zum Programm: Identität erscheint als etwas, das erzählt, getarnt, getauscht werden kann. Bei­spiel­haft steht dafür der Zweifel eines Ehe­mannes (1955), der nach Jahren der Trennung die Heim­keh­rende be­trach­tet und un­sicher wird, ob sie dieselbe Frau ist, die er ge­hei­ratet hat. Ein Detail wie ihre ent­gegen aller Wahr­schein­lich­keit ver­min­derte Schuh­größe ver­dichtet den Verdacht, dass Iden­tität als Stra­tegie benutzt wird.

Was wird erzählt? Über die politi­schen Ent­wick­lungen gibt es kaum Infor­matio­nen. Im Mittel­punkt stehen Frauen­rollen, Kulturen, Erfah­rungen unter Fremd­herr­schaft, das Alltags­leben einfacher, fremd­be­stimm­ter Menschen, von denen Tau­sende durch Krieg, Unter­jochung und Hungers­nöte sterben.

Ein themati­scher Schwer­punkt des Romans liegt auf der Gewalt gegen Frauen im Krieg und in mili­täri­schen Systemen. Scho­nungs­los schildert Lee Zwangs­prosti­tution unter japani­scher Besat­zung ebenso wie ihre Nach­kriegs­varian­ten. Die Praxis, den Opfern neue Namen zu geben, markiert den ersten Zugriff auf ihre Iden­tität: »Mit ihren Ge­schich­ten defi­nierten sie alles neu. Erst änder­ten sie unsere Namen.« Die Ge­stal­tung der Szenen in den soge­nann­ten »Trost­häusern« ver­meidet Sensa­tio­nalis­mus, ohne das Grauen zu ver­decken. Lee fasst Unzu­mut­bares mit sprach­licher Nüch­tern­heit: »Wenn ich in die Be­wusst­losig­keit abglitt, über­gossen sie mich mit einem Eimer Eis­wasser, damit ich auf­wachte und meine Pflicht bis Sonnen­unter­gang fort­setzte.«

Auch die von Koreanern in Kooperation mit der US-Armee regu­lierten »Ver­gnü­gungs­vier­tel« werden nicht ausge­spart. Die Kapitel über das »Monkey House« legen offen, wie Kontrolle, Ent­mensch­lichung und öko­no­mische Aus­beutung weib­licher Körper unter­schied­liche Regimes über­dauern. Indem Lee beide Epochen neben­ein­ander stellt, rückt sie das Leid der Be­troffe­nen in den Vorder­grund und entzieht es natio­nalen Ent­las­tungs­narra­tiven.

Mooks Über­lebens­kunst besteht darin, Rollen anzu­nehmen – aus Zwang, aus Kalkül, aus Für­sorge. Sie bedient sich nicht nur kluger Metho­den der Tarnung als Spionin, sondern wagt auch den radi­kalen Schritt, sich zeit­weise als Junge zu geben, um Gewalt zu ent­kommen. Lee stellt dafür einen inter­essan­ten Zu­sammen­hang her: »Letzt­endlich ist ver­schie­dene Identi­täten anzu­nehmen wie ver­schie­dene Sprachen zu sprechen. Wenn man eine Fremd­sprache lernt, […] nimmt man auch ihre Stim­mun­gen und Eigen­arten auf und wie sich die Leute nor­maler­weise aus­drücken, wenn sie sprechen, ohne nach­zu­denken. […] Man kann sich in eine fremde Person ver­wandeln, einfach indem man die Sprache wechselt. […] Man kann sich in die Ge­schich­te einer anderen Person hinein­stehlen, ohne es über­haupt zu merken.« Iden­tität ist hier nicht statische Essenz, sondern wird zu ver­änder­barer Praxis.

Die andere Seite dieser Beweglichkeit ist Ver­ant­wor­tung. Sie zu erkennen und anzu­nehmen begleitet Mook schon in ihrem ersten Leben, ihrer Kind­heit in einem kleinen Dorf am Rande von Pjöng­jang um 1940. Ihre Eltern sind Opfer kom­mu­nis­ti­scher Zwangs­ideo­logie. Die gebil­deten Eltern von Mooks Mutter waren wegen kriti­scher politi­scher Aktivi­täten in­haf­tiert worden. Um ihre Tochter dem gesell­schafts­schäd­lichen bürger­lichen Einfluss zu entziehen, wurde Mooks Mutter, »eine voll­kom­mene Frau: intel­ligent, schön, vornehm und liebe­voll«, gezwun­gen, einen nord­korea­nischen Prole­tarier zu heiraten, den Sohn eines Bauern, einen »unge­bilde­ten Fischer« und »Trunken­bold«. Aus der Ehe geht das Mädchen Mook hervor.

Als das Kind den Drang verspürt, »Erde zu essen«, hält der Vater das für das »Werk eines bösen Geistes«, miss­handelt seine Tochter und ruft einen Exor­zisten zu Hilfe. Wehrlos muss die Mutter die ent­setz­lichen Grau­sam­keiten mit ansehen, die dieser ihrem Kind zufügt. Später erzürnt den Vater bis zur Weiß­glut, dass seine Frau zusam­men mit ihrer Tochter bei einem Priester Eng­lisch­unter­richt nimmt. Als er seine Frau dafür ver­prügelt und bedroht, muss das »Monster« ver­nich­tet werden, und Mook ver­giftet ihren Vater aus reiner »Selbst­ver­teidi­gung«. Im Rück­blick be­zeich­net sie sich sogar als »Serien­mörderin«, denn sie tötete auch drei Soldaten, um »Trost­frauen« zu befreien. Statt ihre Prota­gonis­tin zu ent­lasten, vertraut die Autorin darauf, Mooks mora­lische Bilanz offen zu lassen.

Sprachlich verbindet Lee Schlicht­heit mit an­schau­licher Kon­kreti­sie­rung. Die Gewalt­momente sind explizit, aber nicht effekt­hasche­risch. Daneben setzt der Roman ruhi­gere Szenen mit leisen, oft tröst­lichen Tönen, die Wärme ohne Kitsch ge­winnen: Anteil­nahme, Wahl­ver­wandt­schaft, die Mög­lich­keit, »Mutter« zu werden, indem man handelt. »Die Liebe wächst nach und nach […]. Indem ich mich verhielt wie eine liebende Mutter, wurde ich zur lieben­den Mutter.« Solche Passagen erden den Text und ver­hin­dern, dass die Epi­soden zu einer reinen Chronik des Leidens gerinnen. Selbst Täu­schung kommt nicht nur als Aggression vor, sondern auch als Schutz einer ge­mein­samen Fiktion. Wie das Liebes­spiel ist auch Täu­schung eine Hand­lung zweier Par­teien und bleibt unvoll­ständig ohne die Person, die ge­täuscht wird: »Wie sehr er sich sehnte zu glauben – wie bereit­willig, wie ver­zwei­felt. Er weiß, was er tun wird […]: Er wird warten.« Erneut bricht ein Wider­spruch auf – zwischen dem univer­sellen Wahr­heits­gebot und Frau Mooks Praxis –, ohne dass die Autorin wertet.

Die Rahmenerzählerin – die »Nachruf-Frau« – fungiert als Proto­kol­lan­tin, Spuren­samm­lerin und als zweite Instanz des Deutens. Wenn sie Mook am Ende die »un­er­schro­cken­ste Lügnerin« nennt, wertet sie damit weder das Gehörte ab noch will sie uns warnen, sondern diagnos­tiziert Mooks Ge­schich­ten als Werk­zeuge ihrer Selbst­be­haup­tung gegen die Zu­mutun­gen der eige­nen Bio­grafie.

Was aber macht dann Identität aus, wenn Namen, Rollen und Zuge­hörig­keiten wechseln? Wo verläuft die Grenze zwischen Über­lebens­taktik und Selbst­verlust? Solche Fragen stellen sich uns am Ende des Romans. Antworten ver­weigert die Autorin, setzt ihm aber einen ruhigen, über­zeugen­den Schluss, der Mooks Lebens­wege topo­grafisch bindet: »Sie war also nicht nur viele ver­schie­dene Per­sonen gewesen, sondern auch genauso viele ver­schie­dene Orte.«


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