
Schattengrünes Tal
von Kristina Hauff
Das Schwarzwald-Hotel »Zum alten Forsthaus« hat seine Attraktivität längst verloren. Die Strukturen des Anwesens wie auch der Besitzerfamilie sind nach vier Generationen allzu strapaziert, die Ressourcen erschöpft. Was in aller Welt motiviert also eine fremde Dame, ausgerechnet hier logieren zu wollen?
Glanz von gestern
Die Schriftstellerin Kristina Hauff wurde am Niederrhein geboren. Während ihre ersten beiden Romane im Norden spielen (»Unter Wasser Nacht« im Wendland; »In blaukalter Tiefe« in Schweden), wählt sie für ihr neues Werk ein Setting im tiefen Süden Deutschlands, wo sich ja auch Dramen abspielen können.
Der Schwarzwald ist nach wie vor eine beliebte Urlaubsregion, wenngleich auch seine Hotellerie und Gastronomie von den Corona-Maßnahmen nachhaltig gebeutelt wurden. Doch darum geht es hier nicht – der Niedergang des Traditionshotels »Zum alten Forsthaus« in Herzogsbronn ist hausgemacht. (Das Dorf ist fiktiv wie die Herberge, aber wohl irgendwo im Christophstal bei Freudenstadt zu vermuten, denn dort hat die Autorin für ihren Roman recherchiert.)
Generationen von Familien haben hier ihren Urlaub verbracht, seit Carl, der Patriarch, das Hotel von seinen Eltern übernahm. Der machtbewusste Sturkopf, inzwischen Anfang 90, führte das Unternehmen mit seiner Frau Rose und zuverlässigen Mitarbeitern durch die Jahrzehnte. Aber mittlerweile ist Rose dement und wird in einem Seniorenheim behütet, und auch Carl spürt das Alter. Außerdem kann er die Augen nicht davor verschließen, dass der Zahn der Zeit seit Längerem an seinem Haus nagt. Modernisierungen sind immer wieder verschoben worden, während die Konkurrenz nicht schlief, und so bevorzugen die Touristen längst ein anderes Quartier mit schickem Neubau im schönen Tal.
Wenn es nach Carl geht, soll sein Sohn Felix den Betrieb übernehmen, aber der geht inzwischen anderen Interessen nach und hat keine Lust mehr, abzuwarten, bis er endlich ans Ruder darf. Tochter Lisa arbeitet im Tourismusbüro und ist rundum bestens informiert. Seit ein paar Jahren führt sie die Bücher des Hotels und steht bei jedem Hilferuf des Vaters bereit, ganz wie es dieser für selbstverständlich hält. Doch ihre Renovierungsvorschläge lehnt er vehement ab.
Lisas Ehemann Simon missfällt es seit Langem, wie seine Frau alles für ihren Vater und sein Unternehmen tut, ohne dass ihr Engagement und ihre Kompetenz gewürdigt werden. Seine Beziehung zu ihr ist schon lange abgekühlt. Er fühlt sich vernachlässigt, und die Unzufriedenheit quält ihn. Nur bei seiner Arbeit im Forst ist er bei sich selbst, nur dort findet er Glück und öffentliche Anerkennung.
Nach der dauerhaften Erkrankung seiner Frau Rose wäre Carl ohne die tatkräftige Solidarität seiner Tochter wohl ganz auf sich allein gestellt gewesen, hätte er nicht noch eine weitere Stütze an seiner Seite. Eineinhalb Jahrzehnte zuvor hatte sich Margret als Servicekraft bei ihm vorgestellt und ihm seither treue Dienste geleistet. Nun ist sie 65 Jahre alt und mehr als die gute Seele des Hotels geworden. Ob sie wohl insgeheim Hoffnungen hegt, auch privat unentbehrlich für Carl zu werden? Lisa würde das gar nicht gutheißen.
In das, was sich nach außen hin als Postkartenidylle präsentiert (in deren Unterholz es allerdings schon ziemlich knistert), bricht nun eine geheimnisvolle Fremde namens Daniela Arnold ein – seit jeher ein gutes Rezept, mit dem Schriftsteller ihre Leser bei der Stange halten. Allemal kommt Rätselstimmung auf, und bestenfalls wird es richtig spannend, wenn ernste Gefahr droht. Woher kommt die Zugereiste? Auf wen oder was hat sie es abgesehen? Wird sie zum Friedensengel, zum Katalysator, zum lachenden Dritten, zum Brandbeschleuniger?
Doch keine Angst, so schlimm wird es hier nicht. Daniela löst mit geschicktem Taktieren vorerst nur ein bisschen Verwirrung aus. Dass die Heizung im »alten Forsthaus« marode ist, hält sie ebenso wenig wie andere Missstände des Hauses davon ab, eben hier als einziger Gast ein Zimmer beziehen zu wollen, und das für längere Zeit. Die braucht sie, um sich im Hotel, im Familiengefüge und in der Dorfgemeinschaft zu etablieren und seelenruhig ihre Fährten auszulegen. Bald verfallen ihrer Ausstrahlung so unterschiedliche Charaktere wie Senior Carl, Lisas beste Freundin Johanna und der Kantor des Kirchenchores. Bis Lisa merkt, wie die Dame ihre Opfer umgarnt, ist auch Simon um ihren Finger gewickelt.
Verlag, manche Kritiker und viele Käufer rühmen das Buch als »psychologischen Spannungsroman« und »Psychodrama« mit »Gänsehaut«-Effekt. So weit möchte ich mich nicht aus dem Fenster lehnen, denn derartige Qualitäten kann ich dem Werk nicht abgewinnen. Der Roman wirft Fragen auf, was es mit der Fremden wohl auf sich hat und wie die Handlung wohl weitergehen mag, mehr nicht.
Daniela inszeniert ein breit angelegtes Ränkespiel, dessen grundsätzliche Absichten man durchaus ahnen, nach gewissen Aktionen auch erschließen kann. Sie stiftet viel Unruhe im Dorf, zündelt mit Eifersucht und Liebesglut, aber weder bei dieser Heldin noch bei ihren Mit- bzw. Gegenspielern (m/w) noch bei der literarischen Aufbereitung des schlichten Plots kann ich außergewöhnliche Raffinesse oder schriftstellerische Ambition entdecken. Stil und Handlung schrammen nicht selten an Trivialitäten entlang. Jedes Kapitel wird aus der Perspektive einer der Handlungsfiguren erzählt, wodurch uns zwar unterschiedliche Vermutungen und Einsichten bekannt werden, andererseits aber auch Redundanzen unvermeidlich sind, wenn Vorfälle, Streitfragen, Empfindungen im Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis wiederholt werden.
»Schattengrünes Tal« fließt ruhig dahin, regt uns nicht sonderlich auf und behelligt uns auch nicht mit innovativen Überraschungen oder Experimenten. Die Autorin beherrscht ihr Metier, wir nehmen ihr ihre ambivalenten Charaktere mitsamt ihrer Gefühlswelt, ihren familiären Spannungen und ungelösten Konflikten ab: leicht konsumierbare Unterhaltungsware nach bekannten Mustern.
Aber gibt es nicht herbstliche Wetter- und Gefühlslagen, in denen man sich in genau solcherlei Geschichten zu vertiefen wünscht und einfach mal in Ruhe gelassen werden will mit all den Schreckensnachrichten, Warnungen und Belehrungen, mit denen uns unsere Medien täglich überfluten?