
Riccardino
von Andrea Camilleri
Montalbanos letzter Fall: Vor den Augen seiner engsten Freunde wird ein Mann niedergeschossen. Da er mit jeder von deren Ehefrauen intime Beziehungen pflegte, liegen genug Mordmotive auf der Hand. Aber das Netz ihrer Verbindungen ist aus strapazierfähigeren Fäden geknüpft, als es scheint. Zwei Kommissare und ein Autor machen sich auf die Suche nach dem Mörder.
Ein starker Abgang
Das ist keine Übertreibung: Kein anderes Buch wurde über Jahre mit so viel Spannung erwartet wie dieses – in Italien und bei den Fans des Commissario Montalbano in vielen anderen Ländern. Seit der Ankündigung 2005 ließen Verlag und Autor gelegentlich mit viel Geschick erstaunliche Details durchsickern, ohne entscheidende Geheimnisse zu lüften. Ja, dies werde der letzte Krimi mit Salvo Montalbano sein, aber er werde weder sterben noch in Pension gehen. Wird er Livia endlich heiraten, oder trennen sich die beiden endlich? Wer weiß … Dabei kann man schon seit Juni 2005 das erste Kapitel im Internet lesen – mit einer witzigen Passage, die Spekulationen zulässt, wohin der erzählerische Hase laufen könnte. Mehr aber nicht.
Andrea Camilleri schrieb diesen Krimi 2004 bis 2005, als gerade Band 9 erschienen war (»La luna di carta« | »Die dunkle Wahrheit des Mondes«) und er dank des durchschlagenden Erfolgs der Verfilmungen mit Luca Zingaretti ein Millionenpublikum erschlossen hatte. Seit Mai 1999 waren jährlich zwei, 2002 sogar vier neue Episoden ausgestrahlt worden, und für September 2005 waren zwei weitere Filme in der Produktion. Gleichzeitig arbeitete der damals achtzigjährige Vielschreiber an Band 10 (»La vampa d’agosto« | »Die schwarze Seele des Sommers«), verfasste Erzählungen und weitere Romane. Den fertig gestellten »Riccardino« aber hielt er zurück. Mit sicherem Gespür erkannte er, dass dessen einzigartiges Konzept das Potenzial bereithielt, die gesamte Reihe irgendwann einmal auf originelle Weise abzuschließen, seinem Autor aber bis dahin alle Gestaltungsfreiheiten zu lassen. So hinterlegte er das Manuskript bei seinem Lieblingsverlag Sellerio (Palermo) mit der Maßgabe, dass es erst nach seinem Tod veröffentlicht werden dürfe.
Elf Jahre später waren fünfzehn weitere Montalbano-Bände erschienen, und Camilleri (jetzt 91) erblindete. Dessen ungeachtet produzierte er unvermindert neue Bücher, nahm sich aber auch »Riccardino« noch einmal vor. Den Titel, ursprünglich nur ein Arbeitstitel, hatte er inzwischen liebgewonnen und behielt ihn bei, wiewohl er vom gewohnten Vier-Wort-Schema – ein Markenzeichen – abweicht (wie ja bereits »Il metodo Catalanotti« | »Ein tiefer Blick in die Seele«). Inhaltlich änderte er nichts, etliche Formulierungen glättete er, aber systematisch vereinheitlichte er die Sprache bzw. deren Schreibweise (sein »Vigatese«, eine von ihm über die Jahre entwickelte dialektale Variante des Sizilianischen), und er fügte gut zehn Prozent mehr Absätze ein (eine Konzession an abnehmende Konzentrationsspannen der modernen Leserschaft?). So konnte Sellerio den offiziellen Abschlussband seiner erfolgreichsten Reihe genau ein Jahr nach dem Tod des Autors auf den Markt bringen, sogar einschließlich einer zusätzlichen Hardcover-Sonderausgabe, die die beiden Versionen von 2005 und 2016 zum Vergleich enthält und trotz fünf Euro Mehrpreis überwältigenden Zuspruch findet. Der letzte »Montalbano« wird das jedoch kaum sein: Angeblich hat Camilleri noch etliche Werke bei Sellerio hinterlassen.
Worum geht es? Spoilern wäre bei diesem Buch besonders gemein, aber vieles kann erläutert werden, ohne den Lesegenuss des reichhaltigen, stimmigen Romans und seines würdigen Konzepts zu mindern.
Die Handlung ist auf weiten Strecken ein raffiniertes Kammerspiel um vier Männer, die seit Kindesbeinen so eng befreundet sind, dass sie als »die vier Musketiere« gelten. Drei von ihnen haben sogar die Schwestern ihrer Freunde geheiratet. Eines sehr frühen Novembermorgens wird einer, der Bankdirektor Riccardo Lopresti, genannt Riccardino, am Treffpunkt zu einem der häufigen Männerausflüge von einem heranpreschenden Motorradfahrer erschossen. Commissario Montalbano wird auf eine Weise in den Fall verwickelt, die im ersten Augenblick befremdet, bis man sich auf den Kunstgriff des ironischen Denkspiels, das sich selbst nicht zu ernst zu nehmen scheint, einlässt. Zunächst hievt kein politisches, kein soziales Anliegen das, was geschieht, auf eine höhere Ebene als die des Schachbretts der Ermittlungen. Sie werden allein von Montalbano und seinem tüchtigen Kärrner Fazio getragen, denn Mimì Augello ist in Familienurlaub. Doch später kommen weitere Kreise ins Spiel, wie der Bischof von Montelusa und ein Staatssekretär im Justizministerium. Mit Geistesschärfe, Freude am Spiel und betont transparent entschlüsselt Salvo Montalbano deren Interessen und deckt verborgene Hintergründe auf, kann aber nicht verhindern, dass ein weiterer Mord geschieht.
Wie in den besten Krimis der Reihe ist die Erzählung gewürzt mit einer Fülle literarischer Verweise, Zitate, Anspielungen. Die Liste der referierten Autoren reicht von Homer über Pirandello und Umberto Eco bis Camilleri. Für comic relief sorgen jede Menge originelle, witzige, teils derbe Formulierungen (»Nur weil Toti zu viel Tamtam gemacht und neben den Nachttopf gepinkelt hatte?«) und spritzige Dialoge. Derlei Kurzweil kulminiert wieder bei kauzigen Nebenfiguren mitten aus der sizilianischen Folklore, die in den Verfilmungen oft als komödiantische Highlights brillieren. Hier gibt die vollreife signorina Tina Macca (»ich bin eine ehrbare Frau«) dem capitano mio (Montalbano) wertvolle Hinweise über nächtliche Aktivitäten in ihrer Nachbarschaft. Ihren Lebensunterhalt verdient sie als »Handleserin und Wahrsagerin«. »Für wenig Geld« eröffnet sie jedem Kunden »Ihre Vergangenheit Ihre Gegenwart Ihre Zukunft Und alles was Sie wissen wollen«. Ihr Herz und ihr üppig ausgestatteter Körper aber gehört dem Nachbarn Filippo Nicotera, einem »braven Christenmenschen« und »Spengler von Beruf«.

In Camilleris Geburtsort Porto
Empedocle wurde 2009 eine
Statue aufgestellt, mit der der
Bildhauer Giuseppe Agnello die
Vorstellungen Andrea Camilleris
von seinem Protagonisten
nachempfunden haben soll.
Der Matchball dieses Romans kommt freilich gleich am Anfang ins Spiel. Als Salvo am Tatort erscheint, bejubeln die versammelten Schaulustigen seine Ankunft. Manche aber sind enttäuscht, dass es bloß der echte Kommissar ist und nicht der aus dem Fernsehen (»Und sofort erhob sich über seinem Kopf lebhaftes Geschnatter. ›Schaut mal! Schaut! Der Commissario ist gekommen!‹ ›Da ist Montalbano!‹ ›Wer? Der Montalbano aus dem Fernsehen?‹ ›Nein, der echte.‹«). Was sich hier als witzige Episode ausnimmt, wird sich als Grundthema durch den Roman ziehen und für den Protagonisten zur finalen Herausforderung: Salvos Rivalität mit seinem TV-Alter-Ego. Von diesem Doppelgänger, der ihm nicht einmal ähnlich sieht und zehn Jahre jünger ist, fühlt er sich auf unfaire Weise in den Hintergrund gedrängt. »Millionen und Abermillionen Zuschauer« lieben ihn, obwohl er doch alles vorgegeben bekommt und nichts selber leistet, während der wahre Montalbano seine Fälle mühselig selber lösen und große Verantwortung tragen muss.
Vollends deprimierend wird Salvos Lage, als sich auch noch der Autor einmischt und mit ihm darüber diskutiert, wie die Ermittlungen fortgeführt werden sollten. Montalbano beharrt auf seinem Recht, sein Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, und steht dabei unter dem Druck, sich vom Fernsehstar abzuheben. Das findet sein Schöpfer freilich »einfach nur billig« . Solch ein Zweikampf, das Ringen mit einem Doppelgänger, sei schließlich nichts Neues. Es »wurde in der Literatur immer und immer wieder behandelt, sogar Romane wurden darüber geschrieben, schöne Romane, Meisterwerke von Werfel, Jean Paul, Maupassant und Poe.« Weil »solche Kämpfe immer mit dem Sieg des Doppelgängers« enden, solle sich sein Romanheld in seine Rolle fügen. Und dann stapelt der Autor ganz tief: »Ich kann nicht groß mit Kultur auftrumpfen, man betrachtet mich als Autor von Genreliteratur, ja von Konsumware. Meine Bücher werden sogar im Supermarkt verkauft.« In Wirklichkeit jongliert Camilleri souverän, genial und unterhaltsam mit literarischen Kategorien – Erzählsituation, Fiktionalität, Perspektive, Handlungsführung, Plot, Autorschaft – wie der Artist auf dem Cover der italienischen Originalausgabe.
Das alles muss man selber gelesen und mit Salvo durchlitten haben. Die beiden kommunizieren noch oft per Telefon und Fax – ein intensives, intelligentes und amüsantes Gedankenspiel. Der Anspruch des Autors geht jedenfalls dahin, einen guten Roman zu schreiben, indem er »die Geschichte« schreibt, die die Figur »lebt«, und er möchte sie auf seine Weise schreiben: als Roman. Sein Protagonist hingegen möchte sein Leben leben, als »Leben«, und der selbstbewusste Dickkopf Montalbano gibt sich noch lange nicht geschlagen.
Man kann gut nachvollziehen, dass ein international berühmter Serienheld seinem Schöpfer zur Last werden kann. An ihm hängen große Erwartungen (›weiter so! bloß keine Experimente!‹), die Protagonist und Autor ersticken können. Wie aber ihn loswerden? Einen Salvo Montalbano ins Altersheim oder ins Leichenschauhaus schicken? Unpassend und unvorstellbar für seine Fans wie für Camilleri selbst. Den Autor zu überleben setzt eine literarische Figur dem Risiko aus, dass ein anderer ihren Weg in anderem Sinne fortschreibt – ebenfalls inakzeptabel. Was Camilleri sich in »Riccardino« ausgedacht hat, ist einzigartig. Wie er das Schicksal seines Helden (dessen Geburtstag er exakt 25 Jahre nach seinem eigenen festlegte und der 2005 also 55 Jahre alt war) in seine Hände nahm, ehe es zu spät war, ist ein väterlicher Akt des Beschützens.