
Die Rettung
von Charlotte McConaghy
Auf einem weltfernen Eiland im Südpolarmeer betreut Dominic Salt mit seinen drei Kindern die Reste einer Saatgutbank, die in Kürze aufgegeben werden muss. Ein ungeheurer, zerstörerischer Sturm spült eine Schiffbrüchige an. Die Salts pflegen sie gesund. Welche Geheimnisse verbirgt die Frau? Und welche schwelen unter der ruhigen Harmonie der Salts? Ebenso spannend wie die Charaktere und ihr Zusammenleben ist die grandiose Inselnatur: bedrohlich, lärmend, kraftvoll, vielfältig – und schön.
Eine Schicksalsgemeinschaft
Schon das fiktive Setting dieses Romans ist außergewöhnlich und faszinierend. Ort der Handlung ist Shearwater Island, eine einsame kleine Insel im Südpolarmeer. Das nächste Festland – die Antarktis – ist eintausendfünfhundert Kilometer entfernt; nach Norden hin liegt Tasmanien, noch etwas weiter weg. Das Eiland von einhundertzwanzig Quadratkilometern ist in Nord-Süd-Ausrichtung langgestreckt und zur Hälfte unerforscht. Seit Jahrtausenden toben die Elemente hier ungezähmt und bieten den heimischen Pflanzen und Tieren eine paradiesische Lebenswelt weitab vom Einfluss des Menschen. Wegen seiner überwältigend vielfältigen Population von Robben, Pinguinen, Seevögeln gehört es zum UNESCO-Weltnaturerbe.
Einzige menschliche Bewohner dieses Ortes sind Dominic Salt, seine Tochter Fen (17) und seine beiden Söhne Raff (18) und Orly (9). Claire, die Mutter der drei Kinder, fiel nach der Geburt des Jüngsten in schwere »postnatale Erschöpfung und Depression […]. Dann war sie fort«. Dominic beschließt, auf Shearwater Island einen Neustart als alleinerziehender Vater zu versuchen. Er wird als Verwalter sämtlicher Gebäude und Anlagen auf der Insel angestellt, und die Familie zieht in das massive alte Leuchtturmbauwerk ein. Internet, Handy-Netz und Fernsehen gibt es nicht, aber die zu versorgende Technik sowie Fauna und Flora rundum stimulieren die Wissbegierde der Kinder. Schulunterricht wird fest in den Tagesablauf integriert. Alle paar Wochen bringt ein Schiff Lebensmittel, Diesel für die Generatoren und was die Salts per Funk an Ersatzteilen anfordern.
Trotz ihrer Abgelegenheit diente die Insel jahrhundertelang als Einkommensquelle für Walfänger und Robbenjäger. Sie lebten »vom Blut der Geschöpfe«, die sie rücksichtslos abschlachteten und verarbeiteten, teilweise bis sie sie ausgerottet hatten. Für die sensiblen Salt-Kinder lastet die dunkle Vergangenheit spürbar auf ihrer Umgebung. Orly hört »die Stimmen«, »das Flüstern der hier getöteten Tiere«. Seiner Schwester Fen machen die Tiere und die »Geister der Toten« weniger Angst als die »Lebenden«, sie lebt lieber zwischen den Sturmvögeln als im Leuchtturm, schwimmt und taucht mit den fetten Robben und Pinguinen und schläft in einer kleinen Hütte nah der Brandung. Alle drei wissen die Laute zu deuten, die sie ständig umgeben: das ohrenbetäubende Kreischen, Brüllen, Keifen, Rülpsen, die Schmerzensschreie der Gebärenden.
Vor etlichen Jahren haben die geologischen Besonderheiten der Insel die Aufmerksamkeit der Wissenschaft auf sich gezogen. Man baute im Permafrostboden einen unterirdischen Saatgutbunker, ein betoniertes Tunnelsystem, in dem Samenkörner der wichtigsten Nahrungsmittelpflanzen und deren Sortenvielfalt sicher eingelagert wurden: Kartoffeln, Weizen, Mais, Reis, Wurzelgemüse, Nüsse, Früchte. Im Fall einer weltweiten Katastrophe sollten sie an sicheren Orten wieder eingepflanzt und nachgezüchtet werden können. Wechselnde Forscherteams arbeiteten für das Programm, errichteten aufwändige Schutz- und Kühlapparaturen zur Erhaltung der Schätze, die einmal zur Rettung der Menschheit werden sollten, und wohnten in einfachen kleinen Wohncontainern. Als jedoch der Meeresspiegel langsam anstieg und der Permafrost auftaute, musste das Projekt aufgegeben werden. Die Wissenschaftler zogen ab, aber Dominic blieb, um die ständig anfallenden Reparaturen auszuführen und mit seinen Kindern den Abtransport der wichtigsten Samen vorzubereiten – ein Rennen gegen die Zeit, denn die Technik und die rissigen Betonbauten halten den heftigen Stürmen kaum Stand. In wenigen Wochen werden schließlich auch die Salts von einem Schiff abgeholt werden.
Hier setzt die Romanhandlung ein und entwickelt in kürzester Zeit einen Sog, dem man sich mit zunehmendem Lesetempo hingibt. Er entsteht aus der isolierten, lebensfeindlichen Situation, die keinen Ausweg und keine Hilfe von außen erhoffen lässt, wenn ein Notfall eintreten sollte, aus dem kleinen Kreis voneinander abhängiger Personen und daraus, dass sich nach und nach schwerwiegende Geheimnisse andeuten, die eine Suche nach der Wahrheit wie in einem Kriminalroman auslösen.
Bei einem außergewöhnlich heftigen Sturm entdeckt Fen, dass die tosende Brandung eine Schiffbrüchige an die Felsen spült. Trotz der Gefahr für sich selbst zieht sie sie auf sicheren Grund. Die Salts bringen die fast leblose, schwer verletzte und völlig unterkühlte Frau in ihren Leuchtturm und pflegen sie, bis sie nach Tagen endlich wieder zu sich kommt. Bis sie wieder bei Kräften ist, vergeht noch eine lange Zeit, während der vor allem Orly sich rührend um sie kümmert. Sie ist vierzig Jahre alt und heißt Rowan.
Der Orkan hat auf der Insel schwerste Schäden an der Technik angerichtet. Ersatzgeräte anzufordern ist angesichts der kurzen Zeit, bis die letzten Menschen abgeholt werden, sinnlos. Bis dahin müssen die Salts und ihr Gast mit den wenigen verbliebenen Lebensmitteln und ohne Gas, Elektrizität und Funkverbindung durchhalten.
Welche Gründe mögen Rowan ausgerechnet zu diesem unwirtlichen Stückchen Land geführt haben? Wie kam sie hierher? Diese und andere Fragen stellen sich den Salts und uns, und ziemlich lange sind wir auf unsere eigenen Mutmaßungen angewiesen. Umgekehrt bleibt Rowan nicht verborgen, dass in dieser anscheinend so einträchtigen Familie etwas im Argen liegt. Offensichtlich hüten sie Geheimnisse, welche sie vor Rowan bewahren wollen.
Warum hat sich Fen der Familiengemeinschaft entzogen, lebt lieber abseits im Bootshaus und immer unter den Tieren? Täglich trainiert sie im eiskalten Meer, bis sie inzwischen förmlich »zur Robbe« geworden ist. Wird sie sich je wieder auf dem Festland einleben können? Die Begegnung mit Rowan lässt sie bisher unbekannte Gefühle spüren: die eigene Weiblichkeit, das Bewusstsein, eine Frau zu werden.
Raff leidet besonders stark unter der Einsamkeit. In ihm brennt eine innere Wut, die er an einem Sandsack auslässt. Was belastet ihn, dass er sich so oft in sich selbst zurückzieht? Vergessen und Glücksmomente empfinden kann er, wenn er mit seinem wasserfesten Hydrophon in die Wellen taucht, um den Gesang eines Wals aufzunehmen.
Dominic ist nicht herzlos, aber ein strenger Vater mit klaren Regeln. Er geht aufmerksam mit seinen Kindern um, spricht aber seltener mit ihnen als mit seiner abwesenden Frau. Eine neue Partnerin zu finden – bisher nicht erstrebt und ohnehin eine unrealistische Option – scheint jetzt auf einmal möglich.
So umkreisen die Jugendlichen und Erwachsenen einander mit wachsendem Misstrauen und gleichzeitig darauf bedacht, möglichst wenig von sich selbst preiszugeben.
Andererseits kommen verständliche Emotionen und Bedürfnisse auf, sich den anderen zu öffnen. Vater Dominic und auch die Kinder leiden schwer unter der Leerstelle, die Claire hinterlassen hat. Bei allen ist die Sehnsucht groß, sich der unvoreingenommenen Fremden anzuvertrauen.
Am unbefangensten nähert sich Orly der Frau an. Während des unermüdlichen Kampfes, sie ins Leben zurückzurufen, berichtet er ihr genauestens den Hergang ihrer Rettung, beschreibt ihr unglaublich detail- und kenntnisreich die Insel, deren Klima, Pflanzen und Tiere. Hinsichtlich seiner wissenschaftlichen Lernbegierde ist er seinem Alter weit voraus. Er kennt nicht nur alle Pflanzen und die Samen im Bunker, sondern auch alle Tiere der Insel. Besonders gern beobachtet er die Albatrosse, atemberaubend majestätische Tiere, denn sie »können stundenlang segeln, ohne ein einziges Mal mit den Flügeln zu schlagen«. Auf elementarere Weise als den anderen fehlt dem Jungen seine Mutter. So kuschelt er sich gern zu Rowan unter die wärmende Decke.
Dass die Spannung beim Lesen nicht nachlässt, dafür sorgt zu einem guten Teil Charlotte McConaghys Erzählstil. Die Geschichte ist in relativ kurze Kapitel gegliedert, die jeweils aus der Perspektive einer Figur erzählen. Wir Leser erfahren dadurch persönliche Probleme und Wahrnehmungen, die Sichtweise auf die anderen Figuren, Hintergedanken und Pläne, und damit sind wir den anderen Charakteren meist einen Schritt voraus. Da niemand den anderen sein Innenleben offenlegt, wird für uns fassbar, wie sehr das vermeintlich gute Miteinander und die verborgenen Differenzen auseinanderklaffen.
Das intensive Multipsychogramm ist eingebunden in eine höchst einprägsam beschriebene Landschaft. Wir werden geradezu überwältigt von starken Sinneseindrücken: Eisige Kälte dringt durch die Kleidung, ständiger Sturm erschwert Gehen und Stehen, das Meer tobt, die wilde Brandung versetzt ganze Felsen, abertausend Tiere schreien, kreischen, brüllen gegen Wind und Wellen an – eine beängstigende, betörende, rätselhafte Kakophonie wie aus einer anderen Welt. Mögen unsere Erwartungen und ersten Eindrücke von dieser schier unbewohnbaren Insel uns abschrecken, Empfindungen zwischen Horror, Mitgefühl, Schmerz und Trauer hervorrufen, so erkennen wir mit der Zeit, dass Shearwater Island ein Ort ist, »der einem nur feindselig vorkommt, bis man genauer hinschaut, Bis man seine Schönheit und Zartheit erkennt. Seinen verborgenen Reichtum«.
Charlotte McConaghy (1988 in Australien geboren) hat bereits zwei Romane veröffentlicht: »Zugvögel« (2020) und »Wo die Wölfe sind« (2022). »Wild Dark Shore« erschien im März 2025 in den USA und schon im Mai 2025 in Jan Schönherrs deutscher Übersetzung. In allen drei Büchern spürt man, dass ihr Natur und Umwelt sehr am Herzen liegen. Umso erfreulicher finde ich, dass sie darauf verzichtet, ihren gelungenen Plot mit einem Pamphlet zum Klimaaktivismus zu politisieren. Die globale Klimaerwärmung mit ihren Folgen ist einfach Teil der Realität, in der diese Geschichte spielt, aber kaum ihr Gegenstand.
(Obwohl fiktiv wie die Handlung des Romans, teilt Shearwater Island doch verblüffend viele Eigenschaften mit Macquarie Island. Und auch das Projekt eines Saatgutbunkers hat eine Vielzahl realer Vorbilder in aller Welt. Der größte – und dem fiktiven Bauwerk auf Shearwater Island sehr ähnlich – ist der Svalbard Global Seed Vault auf Spitzbergen.)
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Sommer 2025 aufgenommen.