Rezension zu »Die Rettung« von Charlotte McConaghy

Die Rettung

von


Auf einem weltfernen Eiland im Südpolarmeer betreut Dominic Salt mit seinen drei Kindern die Reste einer Saatgutbank, die in Kürze aufgegeben werden muss. Ein ungeheurer, zerstörerischer Sturm spült eine Schiffbrüchige an. Die Salts pflegen sie gesund. Welche Geheimnisse verbirgt die Frau? Und welche schwelen unter der ruhigen Harmonie der Salts? Ebenso spannend wie die Charaktere und ihr Zusammenleben ist die grandiose Inselnatur: bedrohlich, lärmend, kraftvoll, vielfältig – und schön.
Belletristik · Fischer · · 364 S. · ISBN 9783103976830
Sprache: de · Herkunft: us

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Eine Schicksalsgemeinschaft

Rezension vom 18.08.2025 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Schon das fiktive Setting dieses Romans ist außer­gewöhn­lich und faszi­nierend. Ort der Handlung ist Shear­water Island, eine einsame kleine Insel im Süd­polar­meer. Das nächste Festland – die Ant­arktis – ist ein­tausend­fünf­hun­dert Kilo­meter entfernt; nach Norden hin liegt Tasmanien, noch etwas weiter weg. Das Eiland von ein­hundert­zwanzig Quadrat­kilo­metern ist in Nord-Süd-Aus­rich­tung lang­ge­streckt und zur Hälfte uner­forscht. Seit Jahr­tau­sen­den toben die Ele­mente hier unge­zähmt und bieten den heimi­schen Pflanzen und Tieren eine para­diesi­sche Lebens­welt weitab vom Einfluss des Menschen. Wegen seiner über­wälti­gend viel­fälti­gen Popu­lation von Robben, Pinguinen, See­vögeln gehört es zum UNESCO-Welt­natur­erbe.

Einzige menschliche Bewohner dieses Ortes sind Dominic Salt, seine Tochter Fen (17) und seine beiden Söhne Raff (18) und Orly (9). Claire, die Mutter der drei Kinder, fiel nach der Geburt des Jüngs­ten in schwere »post­natale Er­schöp­fung und De­pres­sion […]. Dann war sie fort«. Dominic be­schließt, auf Shear­water Island einen Neu­start als allein­erzie­hen­der Vater zu ver­suchen. Er wird als Ver­walter sämt­licher Ge­bäude und An­lagen auf der Insel ange­stellt, und die Familie zieht in das mas­sive alte Leucht­turm­bau­werk ein. Inter­net, Handy-Netz und Fern­sehen gibt es nicht, aber die zu ver­sor­gende Technik sowie Fauna und Flora rundum stimu­lieren die Wiss­be­gierde der Kinder. Schul­unter­richt wird fest in den Tages­ab­lauf inte­griert. Alle paar Wochen bringt ein Schiff Lebens­mittel, Diesel für die Gene­rato­ren und was die Salts per Funk an Ersatz­teilen anfor­dern.

Trotz ihrer Abgelegenheit diente die Insel jahr­hun­der­te­lang als Ein­kom­mens­quelle für Wal­fänger und Rob­ben­jäger. Sie lebten »vom Blut der Ge­schöp­fe«, die sie rück­sichts­los ab­schlach­teten und ver­arbei­teten, teil­weise bis sie sie aus­ge­rot­tet hatten. Für die sen­siblen Salt-Kinder lastet die dunkle Ver­gangen­heit spürbar auf ihrer Um­gebung. Orly hört »die Stim­men«, »das Flüs­tern der hier getö­teten Tiere«. Seiner Schwester Fen machen die Tiere und die »Geister der Toten« weniger Angst als die »Leben­den«, sie lebt lieber zwischen den Sturm­vögeln als im Leucht­turm, schwimmt und taucht mit den fetten Robben und Pingu­inen und schläft in einer kleinen Hütte nah der Brandung. Alle drei wissen die Laute zu deuten, die sie ständig um­geben: das ohren­betäu­bende Krei­schen, Brüllen, Keifen, Rülp­sen, die Schmer­zens­schreie der Gebär­enden.

Vor etlichen Jahren haben die geolo­gischen Besonder­heiten der Insel die Auf­merk­sam­keit der Wis­sen­schaft auf sich ge­zogen. Man baute im Perma­frost­boden einen unter­irdi­schen Saat­gut­bunker, ein beto­niertes Tunnel­system, in dem Samen­körner der wich­tigsten Nah­rungs­mittel­pflan­zen und deren Sorten­vielfalt sicher einge­lagert wurden: Kar­tof­feln, Weizen, Mais, Reis, Wurzel­ge­müse, Nüsse, Früchte. Im Fall einer welt­weiten Katas­trophe sollten sie an siche­ren Orten wieder einge­pflanzt und nach­ge­züch­tet werden können. Wech­selnde Forscher­teams arbei­teten für das Pro­gramm, er­rich­teten auf­wän­dige Schutz- und Kühl­appa­ratu­ren zur Erhal­tung der Schätze, die einmal zur Rettung der Mensch­heit werden sollten, und wohnten in ein­fachen kleinen Wohn­con­tainern. Als jedoch der Meeres­spiegel langsam anstieg und der Perma­frost auf­taute, musste das Projekt aufge­geben werden. Die Wissen­schaft­ler zogen ab, aber Dominic blieb, um die ständig an­fallen­den Repara­turen auszu­führen und mit seinen Kindern den Ab­trans­port der wich­tigsten Samen vorzu­berei­ten – ein Rennen gegen die Zeit, denn die Technik und die rissi­gen Beton­bauten halten den heftigen Stürmen kaum Stand. In wenigen Wochen werden schließ­lich auch die Salts von einem Schiff abge­holt werden.

Hier setzt die Roman­handlung ein und ent­wickelt in kür­zester Zeit einen Sog, dem man sich mit zu­nehmen­dem Lese­tempo hingibt. Er ent­steht aus der iso­lierten, lebens­feind­lichen Situa­tion, die keinen Ausweg und keine Hilfe von außen er­hoffen lässt, wenn ein Notfall ein­treten sollte, aus dem kleinen Kreis von­ein­ander abhän­giger Per­sonen und daraus, dass sich nach und nach schwer­wiegen­de Ge­heim­nisse an­deuten, die eine Suche nach der Wahr­heit wie in einem Kriminal­roman aus­lösen.

Bei einem außer­gewöhn­lich heftigen Sturm ent­deckt Fen, dass die tosende Brandung eine Schiff­brü­chige an die Felsen spült. Trotz der Gefahr für sich selbst zieht sie sie auf siche­ren Grund. Die Salts bringen die fast leb­lose, schwer ver­letzte und völlig unter­kühlte Frau in ihren Leucht­turm und pflegen sie, bis sie nach Tagen endlich wieder zu sich kommt. Bis sie wieder bei Kräften ist, vergeht noch eine lange Zeit, während der vor allem Orly sich rührend um sie kümmert. Sie ist vierzig Jahre alt und heißt Rowan.

Der Orkan hat auf der Insel schwerste Schäden an der Technik ange­rich­tet. Er­satz­geräte anzu­fordern ist ange­sichts der kurzen Zeit, bis die letzten Menschen abge­holt werden, sinnlos. Bis dahin müssen die Salts und ihr Gast mit den weni­gen ver­bliebe­nen Lebens­mitteln und ohne Gas, Elektri­zität und Funk­ver­bin­dung durch­halten.

Welche Gründe mögen Rowan ausge­rechnet zu diesem unwirt­lichen Stück­chen Land geführt haben? Wie kam sie hierher? Diese und andere Fragen stellen sich den Salts und uns, und ziem­lich lange sind wir auf unsere eigenen Mut­maßun­gen ange­wiesen. Umge­kehrt bleibt Rowan nicht verbor­gen, dass in dieser an­schei­nend so ein­träch­tigen Familie etwas im Argen liegt. Offen­sicht­lich hüten sie Geheim­nisse, welche sie vor Rowan bewah­ren wollen.

Warum hat sich Fen der Familien­ge­mein­schaft ent­zogen, lebt lieber abseits im Boots­haus und immer unter den Tieren? Täglich trainiert sie im eis­kalten Meer, bis sie in­zwi­schen förmlich »zur Robbe« ge­wor­den ist. Wird sie sich je wieder auf dem Fest­land ein­leben können? Die Begeg­nung mit Rowan lässt sie bisher unbe­kannte Gefühle spüren: die eigene Weib­lich­keit, das Be­wusst­sein, eine Frau zu werden.

Raff leidet besonders stark unter der Einsam­keit. In ihm brennt eine innere Wut, die er an einem Sand­sack aus­lässt. Was belas­tet ihn, dass er sich so oft in sich selbst zurück­zieht? Verges­sen und Glücks­momente emp­finden kann er, wenn er mit seinem wasser­festen Hydro­phon in die Wellen taucht, um den Gesang eines Wals aufzu­nehmen.

Dominic ist nicht herzlos, aber ein strenger Vater mit klaren Regeln. Er geht auf­merk­sam mit seinen Kindern um, spricht aber seltener mit ihnen als mit seiner abwe­senden Frau. Eine neue Partnerin zu finden – bisher nicht erstrebt und ohne­hin eine un­realis­tische Option – scheint jetzt auf einmal möglich.

So umkreisen die Jugend­lichen und Erwach­senen ein­ander mit wach­sendem Miss­trauen und gleich­zeitig darauf bedacht, möglichst wenig von sich selbst preis­zugeben.

Andererseits kommen verständ­liche Emotionen und Be­dürf­nisse auf, sich den anderen zu öffnen. Vater Dominic und auch die Kinder leiden schwer unter der Leer­stelle, die Claire hinter­lassen hat. Bei allen ist die Sehn­sucht groß, sich der unvor­einge­nom­me­nen Fremden anzu­ver­trauen.

Am unbefangensten nähert sich Orly der Frau an. Während des uner­müdli­chen Kampfes, sie ins Leben zurück­zu­rufen, berich­tet er ihr ge­naue­stens den Hergang ihrer Rettung, beschreibt ihr un­glaub­lich detail- und kenntnis­reich die Insel, deren Klima, Pflanzen und Tiere. Hin­sicht­lich seiner wissen­schaft­lichen Lern­begierde ist er seinem Alter weit voraus. Er kennt nicht nur alle Pflanzen und die Samen im Bunker, sondern auch alle Tiere der Insel. Be­son­ders gern be­obach­tet er die Alba­trosse, atem­berau­bend majes­täti­sche Tiere, denn sie »können stunden­lang segeln, ohne ein einzi­ges Mal mit den Flügeln zu schlagen«. Auf elemen­tarere Weise als den anderen fehlt dem Jungen seine Mutter. So kuschelt er sich gern zu Rowan unter die wär­mende Decke.

Dass die Spannung beim Lesen nicht nach­lässt, dafür sorgt zu einem guten Teil Char­lotte McConaghys Erzähl­stil. Die Ge­schichte ist in relativ kurze Kapitel ge­glie­dert, die jeweils aus der Per­spek­tive einer Figur er­zählen. Wir Leser erfahren dadurch persön­liche Probleme und Wahr­neh­mun­gen, die Sicht­weise auf die anderen Figuren, Hinter­ge­danken und Pläne, und damit sind wir den ande­ren Charak­teren meist einen Schritt voraus. Da niemand den anderen sein Innen­leben offen­legt, wird für uns fassbar, wie sehr das ver­meint­lich gute Mit­einan­der und die ver­borge­nen Dif­feren­zen aus­ein­ander­klaffen.

Das intensive Multipsychogramm ist einge­bunden in eine höchst einpräg­sam be­schrie­bene Land­schaft. Wir werden gerade­zu über­wältigt von starken Sinnes­ein­drücken: Eisige Kälte dringt durch die Klei­dung, stän­diger Sturm er­schwert Gehen und Stehen, das Meer tobt, die wilde Bran­dung ver­setzt ganze Felsen, aber­tausend Tiere schreien, krei­schen, brüllen gegen Wind und Wellen an – eine be­ängsti­gende, be­törende, rätsel­hafte Kako­phonie wie aus einer anderen Welt. Mögen unsere Erwar­tungen und ersten Ein­drücke von dieser schier unbe­wohn­baren Insel uns ab­schrecken, Emp­findungen zwischen Horror, Mitge­fühl, Schmerz und Trauer hervor­rufen, so erken­nen wir mit der Zeit, dass Shear­water Island ein Ort ist, »der einem nur feind­selig vor­kommt, bis man genauer hin­schaut, Bis man seine Schön­heit und Zart­heit erkennt. Seinen ver­borge­nen Reich­tum«.

Charlotte McConaghy (1988 in Australien geboren) hat bereits zwei Romane ver­öffent­licht: »Zugvögel« (2020) und »Wo die Wölfe sind« (2022). »Wild Dark Shore« erschien im März 2025 in den USA und schon im Mai 2025 in Jan Schön­herrs deut­scher Über­setzung. In allen drei Büchern spürt man, dass ihr Natur und Umwelt sehr am Herzen liegen. Umso er­freu­licher finde ich, dass sie darauf ver­zichtet, ihren gelun­genen Plot mit einem Pamphlet zum Klima­aktivis­mus zu politi­sieren. Die globale Klima­erwär­mung mit ihren Folgen ist einfach Teil der Realität, in der diese Ge­schichte spielt, aber kaum ihr Gegen­stand.

(Obwohl fiktiv wie die Handlung des Romans, teilt Shear­water Island doch ver­blüffend viele Eigen­schaf­ten mit Macquarie Island. Und auch das Projekt eines Saat­gut­bunkers hat eine Viel­zahl realer Vor­bilder in aller Welt. Der größte – und dem fikti­ven Bau­werk auf Shear­water Island sehr ähnlich – ist der Svalbard Global Seed Vault auf Spitz­bergen.)

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Sommer 2025 aufgenommen.


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