Wenn ein Anschein von Wahrheit ausreicht
Ein Jahrzehnt ist in der Entwicklung des Terrorismus eine lange Zeit. Zehn Jahre ist es her, dass Richard Flanagans Thriller »The Unknown Terrorist« in Australien erschien, und erst jetzt können wir ihn in Eva Bonnés Übersetzung auf Deutsch lesen. Hat der Plot schon Staub angesetzt? Er erzählt von einer Gesellschaft, die nach einem Terroranschlag in eine panische Gefühlslage eskaliert und um jeden Preis Gewissheiten und Sicherheit einfordert. So ein Szenario könnte im Frühjahr 2017 in Deutschland kaum aktueller sein. Der eigentliche Erzählkern spitzt die Problematik insofern zu, als der von diversen Interessen befeuerten Hysterie eine Unschuldige zum Opfer fällt.
Auch im abgelegenen Australien herrscht nach 9/11 und Amerikas Feldzug gegen die »Achse des Bösen« ein angespanntes Klima. Lange war das Land offen gewesen für Migranten aus vielen Kulturen. Seit den Siebzigerjahren stieg besonders die Zahl muslimischer Einwanderer aus Indonesien, Malaysia, dem Libanon, dem Sudan und den palästinensischen Gebieten stark an. Ein Nährboden für terroristisches Gedankengut?
Hier setzt Flanagans Fiktion ein. Als im Olympiastadion von Sydney ein Rucksack mit drei Bomben entdeckt und die Umgebung evakuiert wird, erobern grauenhafte Befürchtungen die Köpfe der Bevölkerung. Was, wenn die Sydney Opera, Wahrzeichen der Stadt und Treffpunkt für Touristen und Einheimische, zum Ziel eines Anschlags würde? Die Polizei findet nicht heraus, wer die Bomben platziert hat, und während eine Hitzewelle die Stadt schier zu erdrücken droht, beschleicht allgemeine Verunsicherung das sonst so unbeschwerte Leben dieser Stadt.
Da konzentriert sich der Fokus des Erzählers auf die Aktivitäten einer attraktiven jungen Frau, die alle nur »die Puppe« nennen. Als Stripperin an der Stange einer Lounge verdient Gina Davies gutes Geld, und ein reicher Rollstuhlfahrer verschafft ihr für private Beglückungen noch ein Zubrot. Gina ist eine vielseitig schillernde Verwandlungskünstlerin, mal kindlich-naiv, mal lasziv-verführerisch, mal rätselhaft verhüllt. Höhepunkt des Abends ist ihre Inszenierung als »Schwarze Witwe«, bei der ein Projektor arabische Schriftzeichen auf ihre nackte Haut wirft. Von ihrem Privatleben hat Gina noch nie etwas preisgegeben. Ihre ärmliche Herkunft und ihr Werdegang haben bei ihr keinerlei Illusionen wachsen lassen (»Realismus bedeutet, die Enttäuschung bereitwillig anzunehmen, um nicht enttäuscht zu sein.«). Sie träumt nicht von Glück, Liebe und Familie, sondern spart für eine Eigentumswohnung. Ihren wachsenden Reichtum genießt sie ganz sinnlich, indem sie ihren nackten Körper, auf dem Bett hingestreckt, genüsslich mit Hundert-Dollar-Scheinen bedeckt.
Am schrill-heißen Mardi Gras, dem Karnevalsdienstag, gerät Gina in einen Strudel von Ereignissen, der ihr Leben zunichte macht. Wie Hunderttausende andere Wesen, die sich zu dem »Naturspektakel« einer nächtlichen »Brunft« zusammenfinden, stürzt sie sich in den chaotischen Glutofen des feiernden, tanzenden Sydney. Auf der Suche nach Wilder, ihrer einzigen Freundin, gerät sie an deren Bekannten Tariq, lässt sich mitreißen, verbringt mit ihm eine zügellose, drogenbefeuerte Sexnacht (vom Autor in allen pornographischen Details ausgeschlachtet). Wie üblich hofft Gina gar nicht erst auf eine Beziehung und ist kein bisschen überrascht, als Tariq am nächsten Morgen verschwunden ist.
Sehr wohl wundert sie sich, als sie aus einem Café heraus zusehen muss, wie ein schwer bewaffnetes Spezialteam der Polizei das Haus umstellt, in dem sie mit Tariq die Nacht verbracht hat. Aus dem Radio schallen Kommentare, jeder im Cafe steuert ein anderes Gerücht bei – Geiselnehmer? Drogendealer? Bombenleger? –, und auch Gina kommentiert, »weil man das eben sagte«: »Diese Schweine gehören erschossen.«
Die Fernsehnachrichten bringen neue Erkenntnisse über die Bomben im Olympiastadion. Ein Foto zeigt, wie der mutmaßliche Terrorist in Begleitung einer weiblichen Person ein Wohnhaus betritt, und wieder wundert sich Gina: Das sind Tariq und sie selbst. Für die Öffentlichkeit aber bleibt »die Identität der Frau ... bislang ungeklärt«, und Gina wird zur »unbekannten Terroristin«.
Ihren gefährlichsten Gegner findet sie in dem abgewrackten Journalisten Richard Cody. Er wusste sich schon aufs Abstellgleis geschoben, als ihm auf einmal die Bombenstory seines Lebens vor die Füße fällt. Denn die Frau auf dem Foto hat er sofort wiedererkannt: Es ist die Stripperin, die ihn, den tollen Reporter, bei seinem Besuch in der Strip-Lounge Tags zuvor gedemütigt hatte.
Ausgerechnet die sonst so realistische, pragmatische Gina – und hier büßt der ohnehin ziemlich künstlich konstruierte Plot einiges von seiner Stimmigkeit und Bodenhaftung ein – verpasst den Moment, sich der Polizei zu stellen und den ihr angehefteten Verdacht als Verkettung dummer Zufälle zu entkräften. Stattdessen flüchtet sie, versteckt sich und macht dabei Fehler über Fehler: Sie lässt bei ihrem reichen Privatkunden eine Baretta mitgehen, telefoniert mit einem geklauten Handy, holt sich einseitigen Rat bei der allzu gutgläubigen Wilder.
Je aussichtsloser ihre Lage wird, desto bereitwilliger fügt sich Gina in die ihr zugeschriebene Rolle eines gesellschaftlich verfemten »Teufels«. Wird die Unbekannte zunächst im Fernsehen als wichtige Zeugin gesucht, schwenkt die Stimmung dramatisch um, als ihre Identität bekannt wird. Jetzt steht sie unter konkretem Terrorverdacht. Die Treibjagd beginnt, das Netz zieht sich zu, »die Puppe« wird zum Abschuss freigegeben.
Die erzählte Zeit umfasst nur drei Tage, von Samstag bis zum Showdown am Dienstag. In diesem knappen Rahmen baut der Autor seinen distanziert und kühl formulierten Gesellschaftsthriller aus verschiedenen Perspektiven auf. Allerdings ist das Spektrum, das er darbietet, allzu simpel. Alle Hauptfiguren sind üble Charaktere, nur Gina und Wilder nicht. Das maximiert das Mitgefühl für ihre Opferrolle. Allein Gina macht, getrieben von den Ereignissen, eine gewisse Wandlung durch. War sie anfangs arg oberflächlich, materialistisch und nur auf ihre Außenwirkung fixiert, besinnt sie sich schließlich auf Wesentlicheres, und wir erfahren mehr darüber, was in ihrem Innersten vorgeht.
Welch gewaltige Verantwortung für den Zustand der Gesellschaft die Medien tragen – auch dies ein hochaktuelles Thema bei uns –, wird in Flanagans Roman erkennbar, aber nicht differenziert herausgearbeitet. Presse und Fernsehen überschlagen sich, um Neuigkeiten auf den Markt zu schütten, egal ob es sich um Tatsachen, Meinungen oder Gerüchte handelt (»Sydney macht sich auf Anschlag gefasst«), und die Bevölkerung reagiert entsprechend aufgeputscht und paranoid. Die Politik sieht sich im Zugzwang und wird die Antiterrorgesetze verschärfen, ungeachtet der diffizilen Problematik, welche Maßnahmen denn tatsächlich wirksamen Schutz bieten können.
Repräsentant der skrupellosen Mentalität im Medienbetrieb ist Richard Cody, der Ginas Namen der Öffentlichkeit preisgibt und sie damit als »bekannte Terroristin« brandmarkt. Dabei erscheint ihm die Verbindung einer nicht-muslimischen Stripperin mit islamistischen Terroraktivitäten zunächst selbst absurd. Doch dann interpretiert er die unwahrscheinliche Konstellation zur genialen, innovativen Tarnungsmasche um und vermarktet sie überzeugend. So klärt er seine Leser darüber auf, dass die Bezeichnung »Schwarze Witwe«, unter der Gina als Attraktion im Club firmiert, auch für »militante Islamistinnen, die in Russland Selbstmordattentate verüben«, steht.
Zweifel an der tödlichen Gefahr, die von einer »Puppe« ausgehen soll, hegt auch ein Polizist vom Drogendezernat. Doch die Skepsis des kleinen Lichts interessiert niemanden, wo doch das Räderwerk der Ermittlungen und der Medien auf Hochtouren läuft und alles nach einem erfolgreichen Finale giert. Auf die Frage »Aber was, wenn es gar nicht die Wahrheit ist?« entgegnet der Einsatzleiter der Terrorabwehr mit lockerem Zynismus: »Tja, dann ist es eben so.« Den Preis bezahlt Gina Davies.