Rezension zu »Trümmerkind« von Mechtild Borrmann

Trümmerkind

von


Belletristik · Droemer · · Gebunden · 304 S. · ISBN 9783426281376
Sprache: de · Herkunft: de

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Aus dunklen Zeiten

Rezension vom 12.02.2017 · 10 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Zwar ist der Krieg vorüber, aber die Zeiten sind 1947 in Hamburg immer noch so hart wie in den letzten Monaten der Schlachten, der Bom­bardie­rungen und der Flucht. Das ent­behrungs­reiche Leben, der alltäg­liche Kampf um das fürs Über­leben Aller­nötigste, die Sorgen der Familien, von denen viele in gespens­tischen Ruinen hausen und in denen die Männer oft fehlen, ohne dass man weiß, ob sie jemals wieder gesund nach Hause zurück­kehren werden – all das schildert die mit etlichen Preisen aus­gezeich­nete Autorin Mechtild Borrmann atmosphä­risch dicht und ergreifend realitäts­nah.

Zu allem Übel versetzt ein Serienmörder die Hamburger in Angst und Schrecken. Vier Menschen hat er schon erdrosselt, ausgeraubt und unbekleidet zurück­gelassen. Die Polizei ermittelt fieberhaft, klebt fünfzig­tausend Plakate in allen vier Be­satzungs­zonen, setzt zehn­tausend Reichs­mark als Belohnung für Hinweise aus, doch alles ohne Erfolg. Bis heute wurde der Täter nicht ausfindig gemacht, und nicht einmal die Identität seiner vier Opfer konnte geklärt werden.

Der authentische mysteriöse Fall hat die Autorin dazu inspiriert, ihn in ihren eigentlichen Plot aufzu­nehmen. Sie verwebt die Serie von Gewalt­taten mit der Haupt­handlung und schenkt den in der Realität namenlos geblie­benen Ermor­deten am Ende eine fiktionale Geschichte. Aber weder das Verbrechen noch die Er­mittlungs­arbeit der Polizei stehen im Vorder­grund des packenden Romans. Dessen drei Hand­lungs­stränge tragen sich an drei Schau­plätzen und auf zwei Zeit­ebenen zu (1945 in der Ucker­mark, 1947 in Hamburg, 1992 in Köln) und werden ständig alter­nierend erzählt.

Als in den letzten Kriegsmonaten die Rote Armee in der Ucker­mark vorrückt, bereitet sich Groß­grund­besitzer Heinrich Anquist mit seiner Familie auf das Schlimmste vor. Alles was ihnen lieb und wert ist, haben sie im Wald vergraben. Ausge­laugte Flücht­linge aus den östlichen Gebieten ziehen in Scharen herbei und werden ein­quartiert. Nach Ankunft der Russen werden die Anquists noch kurz geduldet, bis man ihr Eigentum beschlag­nahmt und sie für eine Boden­reform enteignet. Anfein­dungen, Repres­salien und körper­liche Gewalt, vor allem gegen Frauen, machen das Leben uner­träglich – die Anquists fliehen nach Westen.

Derweil kämpft Agnes Dietz in der Trümmer­land­schaft des zer­störten Hamburg ums nackte Über­leben ihrer kleinen Familie. Sie haust mit Sohn Hanno (15) und Tochter Wiebke (6) in einem einzigen Zimmer in einem ausge­bomb­ten Gebäude. Seit Vater Gustav im Krieg ist, hat Hanno die Rolle des verant­wortungs­vollen Versorgers über­nommen und ist ständig mit seiner Schwester unter­wegs, um in ihrem wert­vollsten Familien­besitz, einem Hand­karren, Kohlen nach Hause zu holen. Doch im bitter­kalten Januar 1947 müssen sie in den Schutt­bergen nach anderem Brenn­material suchen, denn die Briten bewachen die Kohle­ladungen der Züge inzwischen schärfer.

Auf seinen Streifzügen hat Hanno schon viele Tote gesehen. Doch die nackte Frauen­leiche, die er eines Tages in einem dunklen Keller­raum entdeckt, »war anders. Anders tot«. Als er ganz verstört zurück ans Tages­licht stolpert, wartet seine frierende Schwester auf ihn – mit einem kleinen Jungen von drei oder vier Jahren, den sie »gefunden« hat. Trotz guter Kleidung und festem Schuh­werk ist er steif vor Kälte. Nach einigem Abwägen, was es wohl mit ihm auf sich haben könnte, nehmen die Geschwister das stumme Findel­kind mit zu sich nach Hause.

Obwohl es ihr unmöglich scheint, noch ein hungriges Maul durchzu­füttern, nimmt die Mutter den apathi­schen Jungen an. Das Wenige, das sie auf Lebens­mittel­karten erhält, stockt Agnes, eine couragierte, opti­mis­tische, zu­packende Frau, mit Steine­klopfen und Näh­arbeiten bei den Engländern auf. Sie gibt dem Jungen den Namen Joost, ist ihm eine gute, liebende Mutter und meldet ihn später bei den Behörden als ihr eigenes Kind an. Erst als Erwach­sener wird Joost von seiner anderen Identität erfahren. Der Zufall lässt ihn an den Ort seiner Kindheit zurück­kehren und mit Zeit­zeugen sprechen, bis sich das Geheimnis seiner Kind­heit langsam lüftet.

Die dritte Hauptfigur des Romans ist die vierzigjährige Lehrerin Anna Meer­baum, die 1992 in Köln lebt. Ihr Exmann Thomas, ein Anwalt, betreut seit der Wieder­vereini­gung Klienten, die Liegen­schaften im Osten hatten und nun auf Rückgabe oder Aus­gleichs­zahlun­gen für ihren verlorenen Besitz klagen. Auch Annas Mutter Clara stammt von dem Gut in der Ucker­mark. Würden ihre Ansprüche anerkannt, könnte ihre bescheidene Rente ein wenig aufge­bessert werden. Aber Clara will mit den Grauen ihrer Ver­gangen­heit nichts mehr zu tun haben, ver­weigert jede Auskunft darüber und tröstet sich mit Alko­holika. Zaghaft beginnt Anna auf eigene Faust zu forschen. Auf dem Gut der Anquists in der Ucker­mark spricht sie mit einem ehe­maligen Ange­stellten und findet alte Fotos. Mehr und mehr verdichtet sich bei ihr das Gefühl, dass ihre Mutter etwas vor ihr verheim­licht ...

Schließlich laufen alle Handlungsfäden zu einer bewegenden Geschichte dreier Frauen­schick­sale zusam­men. Inhaltlich spannend wie eine Detektiv­geschichte, dabei in bestän­digem, ruhigem Gleichmaß erzählt, lassen uns weder die über­wiegend düsteren persön­lichen Erleb­nisse noch das (sorg­fältig recher­chierte) Zeit­geschehen einer gar nicht so fernen Vergangen­heit unbe­teiligt. Vor allem jüngere Leser mag es über­raschen, wie die all­gegen­wärtige nackte Not keines­wegs nur Soli­darität, sondern auch mensch­liche Kälte, Gier und Miss­gunst hervorrufen. Das trifft auch Flücht­linge wie die Anquists, die vor den menschen­verach­tenden Zuständen im Osten geflohen sind. Hatten sie bereits dort einen hohen Preis dafür bezahlen müssen, dass sie auf der privi­legierten Seite der Gesell­schaft gestanden hatten, so wartet jetzt im Westen manch nimmer­satte Hyäne nur darauf, den ehemals reichen Herr­schaften für jede Hilfe­stellung die letzten, von weit herüber­gerette­ten Wert­gegen­stände abzu­knöpfen.

Einer anderen Form von Neid und Aus­grenzung ist die tüchtige, selbst­lose Agnes ausge­setzt: Als man wahr­nimmt, dass ihre Familie um einen stummen »Bankert« gewachsen ist, den sie über Jahre geheim gehalten haben muss, und dass sie von den Eng­ländern Geld mitbringt, meint man in der Gerüchte­küche, eins und eins zusammen­zählen und Agnes als »Engländer­hure« aus­sortie­ren zu können.

Während die Menschen mit ihren Lebensmittelkarten für Brot anstehen, das mit Sägemehl verlängert ist, lassen sie ihren Schuld­zuweisun­gen freien Lauf. »Die Engländer« haben das Land geplündert, Fabriken demontiert und außer Landes gebracht und lassen »das deutsche Volk verhun­gern und erfrieren«. Bis heute klingt die Klage nach und erlebt gar eine erschre­ckende Renais­sance: »Zustände sind das. So was hätte es unter Hitler nicht gegeben.«

Wie sich Unrechtsbewusstsein in einigen Köpfen bis ins Jahr 1993 verfestigt hat, führt uns die Autorin anlässlich einer polizei­lichen Verneh­mung vor. Da soll sich eine Person zu ihrer Nazi­vergangen­heit äußern und bringt nach fast einem halben Jahr­hundert viel­fältiger Auf­klärungs­bemühungen über die Zeit des National­sozialis­mus keine bessere Einsicht über die Lippen als die immer­gleiche Ent­lastungs­formel »So waren die Vor­schriften ... Sie (gemeint ist die ver­hörende Staats­anwältin) halten sich doch auch an Ihre Vorschriften.«

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2017 aufgenommen.


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