Aus dunklen Zeiten
Zwar ist der Krieg vorüber, aber die Zeiten sind 1947 in Hamburg immer noch so hart wie in den letzten Monaten der Schlachten, der Bombardierungen und der Flucht. Das entbehrungsreiche Leben, der alltägliche Kampf um das fürs Überleben Allernötigste, die Sorgen der Familien, von denen viele in gespenstischen Ruinen hausen und in denen die Männer oft fehlen, ohne dass man weiß, ob sie jemals wieder gesund nach Hause zurückkehren werden – all das schildert die mit etlichen Preisen ausgezeichnete Autorin Mechtild Borrmann atmosphärisch dicht und ergreifend realitätsnah.
Zu allem Übel versetzt ein Serienmörder die Hamburger in Angst und Schrecken. Vier Menschen hat er schon erdrosselt, ausgeraubt und unbekleidet zurückgelassen. Die Polizei ermittelt fieberhaft, klebt fünfzigtausend Plakate in allen vier Besatzungszonen, setzt zehntausend Reichsmark als Belohnung für Hinweise aus, doch alles ohne Erfolg. Bis heute wurde der Täter nicht ausfindig gemacht, und nicht einmal die Identität seiner vier Opfer konnte geklärt werden.
Der authentische mysteriöse Fall hat die Autorin dazu inspiriert, ihn in ihren eigentlichen Plot aufzunehmen. Sie verwebt die Serie von Gewalttaten mit der Haupthandlung und schenkt den in der Realität namenlos gebliebenen Ermordeten am Ende eine fiktionale Geschichte. Aber weder das Verbrechen noch die Ermittlungsarbeit der Polizei stehen im Vordergrund des packenden Romans. Dessen drei Handlungsstränge tragen sich an drei Schauplätzen und auf zwei Zeitebenen zu (1945 in der Uckermark, 1947 in Hamburg, 1992 in Köln) und werden ständig alternierend erzählt.
Als in den letzten Kriegsmonaten die Rote Armee in der Uckermark vorrückt, bereitet sich Großgrundbesitzer Heinrich Anquist mit seiner Familie auf das Schlimmste vor. Alles was ihnen lieb und wert ist, haben sie im Wald vergraben. Ausgelaugte Flüchtlinge aus den östlichen Gebieten ziehen in Scharen herbei und werden einquartiert. Nach Ankunft der Russen werden die Anquists noch kurz geduldet, bis man ihr Eigentum beschlagnahmt und sie für eine Bodenreform enteignet. Anfeindungen, Repressalien und körperliche Gewalt, vor allem gegen Frauen, machen das Leben unerträglich – die Anquists fliehen nach Westen.
Derweil kämpft Agnes Dietz in der Trümmerlandschaft des zerstörten Hamburg ums nackte Überleben ihrer kleinen Familie. Sie haust mit Sohn Hanno (15) und Tochter Wiebke (6) in einem einzigen Zimmer in einem ausgebombten Gebäude. Seit Vater Gustav im Krieg ist, hat Hanno die Rolle des verantwortungsvollen Versorgers übernommen und ist ständig mit seiner Schwester unterwegs, um in ihrem wertvollsten Familienbesitz, einem Handkarren, Kohlen nach Hause zu holen. Doch im bitterkalten Januar 1947 müssen sie in den Schuttbergen nach anderem Brennmaterial suchen, denn die Briten bewachen die Kohleladungen der Züge inzwischen schärfer.
Auf seinen Streifzügen hat Hanno schon viele Tote gesehen. Doch die nackte Frauenleiche, die er eines Tages in einem dunklen Kellerraum entdeckt, »war anders. Anders tot«. Als er ganz verstört zurück ans Tageslicht stolpert, wartet seine frierende Schwester auf ihn – mit einem kleinen Jungen von drei oder vier Jahren, den sie »gefunden« hat. Trotz guter Kleidung und festem Schuhwerk ist er steif vor Kälte. Nach einigem Abwägen, was es wohl mit ihm auf sich haben könnte, nehmen die Geschwister das stumme Findelkind mit zu sich nach Hause.
Obwohl es ihr unmöglich scheint, noch ein hungriges Maul durchzufüttern, nimmt die Mutter den apathischen Jungen an. Das Wenige, das sie auf Lebensmittelkarten erhält, stockt Agnes, eine couragierte, optimistische, zupackende Frau, mit Steineklopfen und Näharbeiten bei den Engländern auf. Sie gibt dem Jungen den Namen Joost, ist ihm eine gute, liebende Mutter und meldet ihn später bei den Behörden als ihr eigenes Kind an. Erst als Erwachsener wird Joost von seiner anderen Identität erfahren. Der Zufall lässt ihn an den Ort seiner Kindheit zurückkehren und mit Zeitzeugen sprechen, bis sich das Geheimnis seiner Kindheit langsam lüftet.
Die dritte Hauptfigur des Romans ist die vierzigjährige Lehrerin Anna Meerbaum, die 1992 in Köln lebt. Ihr Exmann Thomas, ein Anwalt, betreut seit der Wiedervereinigung Klienten, die Liegenschaften im Osten hatten und nun auf Rückgabe oder Ausgleichszahlungen für ihren verlorenen Besitz klagen. Auch Annas Mutter Clara stammt von dem Gut in der Uckermark. Würden ihre Ansprüche anerkannt, könnte ihre bescheidene Rente ein wenig aufgebessert werden. Aber Clara will mit den Grauen ihrer Vergangenheit nichts mehr zu tun haben, verweigert jede Auskunft darüber und tröstet sich mit Alkoholika. Zaghaft beginnt Anna auf eigene Faust zu forschen. Auf dem Gut der Anquists in der Uckermark spricht sie mit einem ehemaligen Angestellten und findet alte Fotos. Mehr und mehr verdichtet sich bei ihr das Gefühl, dass ihre Mutter etwas vor ihr verheimlicht ...
Schließlich laufen alle Handlungsfäden zu einer bewegenden Geschichte dreier Frauenschicksale zusammen. Inhaltlich spannend wie eine Detektivgeschichte, dabei in beständigem, ruhigem Gleichmaß erzählt, lassen uns weder die überwiegend düsteren persönlichen Erlebnisse noch das (sorgfältig recherchierte) Zeitgeschehen einer gar nicht so fernen Vergangenheit unbeteiligt. Vor allem jüngere Leser mag es überraschen, wie die allgegenwärtige nackte Not keineswegs nur Solidarität, sondern auch menschliche Kälte, Gier und Missgunst hervorrufen. Das trifft auch Flüchtlinge wie die Anquists, die vor den menschenverachtenden Zuständen im Osten geflohen sind. Hatten sie bereits dort einen hohen Preis dafür bezahlen müssen, dass sie auf der privilegierten Seite der Gesellschaft gestanden hatten, so wartet jetzt im Westen manch nimmersatte Hyäne nur darauf, den ehemals reichen Herrschaften für jede Hilfestellung die letzten, von weit herübergeretteten Wertgegenstände abzuknöpfen.
Einer anderen Form von Neid und Ausgrenzung ist die tüchtige, selbstlose Agnes ausgesetzt: Als man wahrnimmt, dass ihre Familie um einen stummen »Bankert« gewachsen ist, den sie über Jahre geheim gehalten haben muss, und dass sie von den Engländern Geld mitbringt, meint man in der Gerüchteküche, eins und eins zusammenzählen und Agnes als »Engländerhure« aussortieren zu können.
Während die Menschen mit ihren Lebensmittelkarten für Brot anstehen, das mit Sägemehl verlängert ist, lassen sie ihren Schuldzuweisungen freien Lauf. »Die Engländer« haben das Land geplündert, Fabriken demontiert und außer Landes gebracht und lassen »das deutsche Volk verhungern und erfrieren«. Bis heute klingt die Klage nach und erlebt gar eine erschreckende Renaissance: »Zustände sind das. So was hätte es unter Hitler nicht gegeben.«
Wie sich Unrechtsbewusstsein in einigen Köpfen bis ins Jahr 1993 verfestigt hat, führt uns die Autorin anlässlich einer polizeilichen Vernehmung vor. Da soll sich eine Person zu ihrer Nazivergangenheit äußern und bringt nach fast einem halben Jahrhundert vielfältiger Aufklärungsbemühungen über die Zeit des Nationalsozialismus keine bessere Einsicht über die Lippen als die immergleiche Entlastungsformel »So waren die Vorschriften ... Sie (gemeint ist die verhörende Staatsanwältin) halten sich doch auch an Ihre Vorschriften.«
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2017 aufgenommen.