Rezension zu »Die schützende Hand« von Wolfgang Schorlau

Die schützende Hand

von


Politkrimi · Kiepenheuer & Witsch · · Taschenbuch · 384 S. · ISBN 9783462046663
Sprache: de · Herkunft: de

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Wir Fremdbestimmten

Rezension vom 03.01.2016 · 4 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Am Puls der Zeit ermittelt Privatdetektiv Georg Dengler in seinem achten Fall, und wieder hautnah an un­se­rer bun­des­repu­bli­kani­schen Realität. Seit er aus seinem si­cheren Job beim BKA vergrault wurde, schlägt er sich als Pri­vat­ermitt­ler durch. Was an kleinen Auf­trä­gen (Typ Ehe­frauen­über­wachung) unre­gel­mäßig herein­tröpfelt, reicht kaum aus, ihn finan­ziell über Wasser zu hal­ten. Da kommt der Knüller, den ihm ein myste­riöser Telefon­anrufer gegen ein dickes Ho­norar anbietet, gerade recht. Die Frage­stel­lung lautet: »Wer erschoss Uwe Mundlos und Uwe Böhn­hard?«

Die beiden jun­gen Attentäter des NSU-Trios starben am 4. Novem­ber 2011, die offi­ziellen Ermitt­lungen er­gaben, dass es sich um Selbst­mord handelte, seit 6. Mai 2013 werden ihre Untaten vor dem Ober­landes­ge­richt München verhan­delt. Me­dien und Öffent­lichkeit verfol­gen den Prozess gegen die einzig verblie­bene Haupt­ange­klagte Beate Zschäpe auf­merk­sam. Was soll ein Privat­mann wie Dengler da noch ermit­teln, was kann er ausgra­ben, das die staat­lichen Or­gane nicht schon längst heraus­ge­fun­den hätten? Und wer kann ein Inter­esse daran haben, für viel Geld an Er­kennt­nisse zu gelangen, über die womöglich nicht ein­mal die Justiz verfügt?

Und was veran­lasst einen Autor von Kriminal­romanen, der of­fen­sichtlich äu­ßerst schwieri­gen offi­ziellen Erkenntnis­ge­winnung, um die sich Geheim­dienste, Polizei, Anwälte und Gericht (nicht aber die taktie­rende Schlüssel­figur Beate Zschäpe) bemü­hen, eine fiktio­nale Variante hinzu­zu­fügen? Fragen über Fragen.

Georg Dengler nimmt die Her­ausforderung an. Die Aufgabe ist gewaltig. Dem NSU-Trio wer­den die neun so­ge­nann­ten »Döner-Morde« zwischen 2000 und 2006 zuge­schrie­ben, au­ßer­dem die Er­mor­dung der Poli­zistin Michèle Kiese­wetter und die versuchte Tö­tung ihres Kol­legen sowie vier­zehn Über­fälle auf Post- und Spar­kassen­filia­len. In einem Film von 2011 bekennt sich das Trio zu dem Na­gel­bom­ben-At­ten­tat vom 9. Juni 2004. Mit einer ein­ge­schwo­renen Spiel­schar – einem »Laien-Er­mitt­ler­team« aus Lebens­ge­fähr­tin, trink­freudi­gen Kum­panen und hilfs­bereiter Ex-Ge­lieb­ten – stürzt er sich in die umfang­reiche Recherche, wühlt in Bergen von Akten, Proto­kollen parla­menta­ri­scher Unter­su­chungs­aus­schüs­se, Geheim­do­kumen­ten und Zeitungs­artikeln und schaut sich vor Ort um.

Dengler rekapi­tuliert die Vor­gänge um den Tod der NSU-Atten­täter im Novem­ber 2011. Nach einem Bank­über­fall in Erfurt flüchten Mundlos und Böhn­hard in ihren Camper, wähnen sich (so die offi­zielle Version) von Polizei umstellt, legen Feuer und er­schie­ßen sich selbst. Doch im Fahr­zeug finden sich kei­ner­lei Rück­stände, wie sie nach Kopf­schüs­sen an den Wänden kleben müssten. Das ausge­brannte und vom Lösch­wasser durch­weichte Fahr­zeug wird mit­samt den Lei­chen abge­schleppt und un­ge­sichert in einer Halle ab­ge­stellt. Das po­lizei­liche Vor­gehen verstößt derart gegen jede Ermitt­lungs­routine und elemen­tarste Beweis­siche­rungs­richt­linien, dass jedem Tat­ort- Zu­schauer die Haare zu Berge stehen.

Die Ungereimt­heiten erschüt­tern die Glaub­würdig­keit der offi­ziel­len Her­gangs­theorie vom Selbst­mord der Rechts­terro­risten und öffnen Spe­kula­tio­nen Tür und Tor. War ein dritter Mann vor Ort, wo­mög­lich ein V-Mann des Ver­fas­sungs­schut­zes? Soll­ten Spuren zer­stört werden, um ein Mord­kom­plott zu vertu­schen?

Der Krimi lässt kein gutes Haar an der Suizid-Version – und fördert noch er­schre­cken­dere Er­kennt­nisse zutage, je tiefer Denglers Re­cher­chen vor­drin­gen. Die Neo­nazis konn­ten in Thü­rin­gen schwerste Ge­walt­delikte be­gehen, ohne je belangt zu wer­den. Der Frei­staat habe »drei Mil­lio­nen und weit mehr« Euro in den »Aufbau einer rechts­radi­kalen Schläger­truppe«, den »Thü­rin­ger Hei­mat­schutz«, in­ves­tiert. Jeder vierte in dieser Truppe habe als bezahl­ter Spitzel agiert, um Infor­matio­nen an den Mili­täri­schen Ab­schirm­dienst, das Bundes­amt für Ver­fas­sungs­schutz, das Thü­ringer Lan­des­amt für Ver­fas­sungs­schutz und andere Nach­rich­ten- und Ge­heim­dienste von Bund und Län­dern zu liefern.

Was wurde mit den gemeldeten Informationen gemacht? Wel­che Kon­sequen­zen wurden ge­zogen? Wessen Inten­tionen wur­den bedient, wer traf die Ent­schei­dun­gen? Denglers Team ist »einem Staats­ver­bre­chen auf der Spur«. »Die schüt­zende Hand des Staa­tes« be­schirmt Ver­bre­cher, ge­währt ihnen »eine Gene­ral­am­nes­tie«. Hat unser Staat gar Morde be­auf­tragt? Sind auch Angriffe auf Asyl­be­wer­ber-Unter­künfte »Teil einer poli­ti­schen Kam­pa­gne«?

Es ist »eine trübe Suppe«, in der Schorlau da rührt. Vieles hat man schon aus den Medien er­fah­ren. Gleich­zeitig fügt er ihr selbst scharfe Zu­ta­ten hinzu, indem er Georg Dengler zum Ver­schwö­rungs­theo­reti­ker auf­lau­fen lässt. Dass Ge­heim­dienste »gezielte Tötun­gen im Inland« in Auf­trag geben, ist für ihn zu 95 Prozent gesi­chert. Während sich das Karus­sell seiner Er­mitt­lun­gen immer schneller dreht, auf inter­natio­nales Par­kett ausweitet, eröff­nen sich his­to­rische und globale Zu­sam­men­hänge. Nach dem Zweiten Weltkrieg grün­deten Briten und Amerikaner die Geheim­organi­sation »Stay Be­hind«, die eine Invasion der Roten Armee verhin­dern sollte. Dazu leis­teten auch der Nato unter­stellte deutsche Ein­heiten wie der »Gehei­me Wi­der­stand« einen Beitrag (»töten, ohne Spuren zu hinter­lassen«). Aus »Stay Behind« wurde 1956 die Orga­ni­sa­tion Gehlen, später der Bun­des­nach­richten­dienst.

Am Ende des Kriminalromans hat Denglers düs­tere Welt­sicht ziemlich konkrete For­men an­ge­nom­men. Die Strip­pen­zieher sitzen nach wie vor in den USA. Deren Geheim­dienste bauen »ihre un­ein­ge­schränk­te Über­wachung« syste­ma­tisch aus. Mit diesem Wissen lenkt die »ame­rika­ni­sche Deutsch­land­po­litik« all un­ser Tun. Ob Außen- oder Finanz­mi­nis­teri­um, Kanz­ler­amt oder ein Herr Edathy MdB – alles tanzt nach einer Pfeife.

Ein tolles Ge­dankenspiel, oder meint der Autor das etwa ernst? Aber ja. Wolf­gang Schorlau will uns nicht bloß bel­letris­tisch unter­halten, sondern poli­tisch auf­klären. Was er als »lite­rari­sche Er­mitt­lung in einem realen Krimi­nal­fall« tiefstapelt, ist als eye-opener ange­legt. Die »Suche nach der Wahr­heit« um den Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhn­hard führt am Ende zu der de­pri­mie­ren­den Er­kennt­nis, »wie wenig sou­verän und wie sehr fremd­be­stimmt das Land ist, in dem ich lebe«. Über seinen Prota­go­nis­ten trans­por­tiert Schorlau seine persön­liche po­liti­sche Sicht. Denglers Re­cher­chen sind seine eigenen. Um seine Argu­men­tation zu stützen, erzählt Schorlau nicht einfach einen Krimi, sondern verfasst eine Ar­beit nach wis­sen­schaft­lichen Spiel­regeln. Seiten­weise zi­tiert er aus Ori­gi­nal­doku­men­ten, Un­mengen an Fuß­noten ver­wei­sen auf den Anhang, wo Quellen und Schwarz-Weiß-Fotos zu­sam­men­ge­stellt sind.

Trotz der Belege sind Dengler-Schorlaus Theo­rien nicht auto­matisch das­selbe wie »die Wahr­heit«. Viel­leicht wäre ein Sach­buch das ge­eig­nete­re Trans­port­medium für Schor­laus Bot­schaft gewesen. Denn ein Krimi bleibt ein Krimi: Fiktion. Da nehmen die Le­ser hoch­flie­gende Theorien eher sport­lich statt ernst, er­war­ten keine se­riösen Analy­sen, son­dern Span­nung und gute Unter­hal­tung. In beidem bleibt das Buch lei­der hinter den Er­war­tun­gen zu­rück. Wer den ›kriti­schen Ap­parat‹ aus Bele­gen und Ver­wei­sen mit­ver­fol­gen möchte, wird vom Hin- und Her­blät­tern aus dem Hand­lungs­fluss gerissen; Denglers Ge­spräche, Re­cher­chen und Er­klä­run­gen prickeln nicht immer vor Drama­tik.

Anregende Krimifantasie oder absurde Verschwörungs­theorie, wie man sie im In­ternet zuhauf findet? Auf­klä­rung oder Angst­mache? In wel­che Rich­tung und wie weit man den Er­kennt­nis­sen des Autors und sei­nes Privat­er­mitt­lers folgen mag, darf jeder Leser trotz unserer poli­ti­schen Fremd­be­stim­mung glück­li­cher­weise selbst ent­schei­den. Mich persön­lich stört an seiner Theorie, dass im geheimen Ge­wirr anonymer Mächte, egal woher sie wir­ken, das Indi­vi­duum wie eine willen­lose Ma­rio­nette er­scheint. Die Ver­ant­wor­tung des Bürgers für das Ge­mein­we­sen, des Täters für sein Tun scheint außer Kraft ge­setzt. Rechts­extre­mis­ten und Ras­sis­ten können nichts dafür, wenn sie fremd­be­stimmt sind.


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