Wir Fremdbestimmten
Am Puls der Zeit ermittelt Privatdetektiv Georg Dengler in seinem achten Fall, und wieder hautnah an unserer bundesrepublikanischen Realität. Seit er aus seinem sicheren Job beim BKA vergrault wurde, schlägt er sich als Privatermittler durch. Was an kleinen Aufträgen (Typ Ehefrauenüberwachung) unregelmäßig hereintröpfelt, reicht kaum aus, ihn finanziell über Wasser zu halten. Da kommt der Knüller, den ihm ein mysteriöser Telefonanrufer gegen ein dickes Honorar anbietet, gerade recht. Die Fragestellung lautet: »Wer erschoss Uwe Mundlos und Uwe Böhnhard?«
Die beiden jungen Attentäter des NSU-Trios starben am 4. November 2011, die offiziellen Ermittlungen ergaben, dass es sich um Selbstmord handelte, seit 6. Mai 2013 werden ihre Untaten vor dem Oberlandesgericht München verhandelt. Medien und Öffentlichkeit verfolgen den Prozess gegen die einzig verbliebene Hauptangeklagte Beate Zschäpe aufmerksam. Was soll ein Privatmann wie Dengler da noch ermitteln, was kann er ausgraben, das die staatlichen Organe nicht schon längst herausgefunden hätten? Und wer kann ein Interesse daran haben, für viel Geld an Erkenntnisse zu gelangen, über die womöglich nicht einmal die Justiz verfügt?
Und was veranlasst einen Autor von Kriminalromanen, der offensichtlich äußerst schwierigen offiziellen Erkenntnisgewinnung, um die sich Geheimdienste, Polizei, Anwälte und Gericht (nicht aber die taktierende Schlüsselfigur Beate Zschäpe) bemühen, eine fiktionale Variante hinzuzufügen? Fragen über Fragen.
Georg Dengler nimmt die Herausforderung an. Die Aufgabe ist gewaltig. Dem NSU-Trio werden die neun sogenannten »Döner-Morde« zwischen 2000 und 2006 zugeschrieben, außerdem die Ermordung der Polizistin Michèle Kiesewetter und die versuchte Tötung ihres Kollegen sowie vierzehn Überfälle auf Post- und Sparkassenfilialen. In einem Film von 2011 bekennt sich das Trio zu dem Nagelbomben-Attentat vom 9. Juni 2004. Mit einer eingeschworenen Spielschar – einem »Laien-Ermittlerteam« aus Lebensgefährtin, trinkfreudigen Kumpanen und hilfsbereiter Ex-Geliebten – stürzt er sich in die umfangreiche Recherche, wühlt in Bergen von Akten, Protokollen parlamentarischer Untersuchungsausschüsse, Geheimdokumenten und Zeitungsartikeln und schaut sich vor Ort um.
Dengler rekapituliert die Vorgänge um den Tod der NSU-Attentäter im November 2011. Nach einem Banküberfall in Erfurt flüchten Mundlos und Böhnhard in ihren Camper, wähnen sich (so die offizielle Version) von Polizei umstellt, legen Feuer und erschießen sich selbst. Doch im Fahrzeug finden sich keinerlei Rückstände, wie sie nach Kopfschüssen an den Wänden kleben müssten. Das ausgebrannte und vom Löschwasser durchweichte Fahrzeug wird mitsamt den Leichen abgeschleppt und ungesichert in einer Halle abgestellt. Das polizeiliche Vorgehen verstößt derart gegen jede Ermittlungsroutine und elementarste Beweissicherungsrichtlinien, dass jedem Tatort- Zuschauer die Haare zu Berge stehen.
Die Ungereimtheiten erschüttern die Glaubwürdigkeit der offiziellen Hergangstheorie vom Selbstmord der Rechtsterroristen und öffnen Spekulationen Tür und Tor. War ein dritter Mann vor Ort, womöglich ein V-Mann des Verfassungsschutzes? Sollten Spuren zerstört werden, um ein Mordkomplott zu vertuschen?
Der Krimi lässt kein gutes Haar an der Suizid-Version – und fördert noch erschreckendere Erkenntnisse zutage, je tiefer Denglers Recherchen vordringen. Die Neonazis konnten in Thüringen schwerste Gewaltdelikte begehen, ohne je belangt zu werden. Der Freistaat habe »drei Millionen und weit mehr« Euro in den »Aufbau einer rechtsradikalen Schlägertruppe«, den »Thüringer Heimatschutz«, investiert. Jeder vierte in dieser Truppe habe als bezahlter Spitzel agiert, um Informationen an den Militärischen Abschirmdienst, das Bundesamt für Verfassungsschutz, das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz und andere Nachrichten- und Geheimdienste von Bund und Ländern zu liefern.
Was wurde mit den gemeldeten Informationen gemacht? Welche Konsequenzen wurden gezogen? Wessen Intentionen wurden bedient, wer traf die Entscheidungen? Denglers Team ist »einem Staatsverbrechen auf der Spur«. »Die schützende Hand des Staates« beschirmt Verbrecher, gewährt ihnen »eine Generalamnestie«. Hat unser Staat gar Morde beauftragt? Sind auch Angriffe auf Asylbewerber-Unterkünfte »Teil einer politischen Kampagne«?
Es ist »eine trübe Suppe«, in der Schorlau da rührt. Vieles hat man schon aus den Medien erfahren. Gleichzeitig fügt er ihr selbst scharfe Zutaten hinzu, indem er Georg Dengler zum Verschwörungstheoretiker auflaufen lässt. Dass Geheimdienste »gezielte Tötungen im Inland« in Auftrag geben, ist für ihn zu 95 Prozent gesichert. Während sich das Karussell seiner Ermittlungen immer schneller dreht, auf internationales Parkett ausweitet, eröffnen sich historische und globale Zusammenhänge. Nach dem Zweiten Weltkrieg gründeten Briten und Amerikaner die Geheimorganisation »Stay Behind«, die eine Invasion der Roten Armee verhindern sollte. Dazu leisteten auch der Nato unterstellte deutsche Einheiten wie der »Geheime Widerstand« einen Beitrag (»töten, ohne Spuren zu hinterlassen«). Aus »Stay Behind« wurde 1956 die Organisation Gehlen, später der Bundesnachrichtendienst.
Am Ende des Kriminalromans hat Denglers düstere Weltsicht ziemlich konkrete Formen angenommen. Die Strippenzieher sitzen nach wie vor in den USA. Deren Geheimdienste bauen »ihre uneingeschränkte Überwachung« systematisch aus. Mit diesem Wissen lenkt die »amerikanische Deutschlandpolitik« all unser Tun. Ob Außen- oder Finanzministerium, Kanzleramt oder ein Herr Edathy MdB – alles tanzt nach einer Pfeife.
Ein tolles Gedankenspiel, oder meint der Autor das etwa ernst? Aber ja. Wolfgang Schorlau will uns nicht bloß belletristisch unterhalten, sondern politisch aufklären. Was er als »literarische Ermittlung in einem realen Kriminalfall« tiefstapelt, ist als eye-opener angelegt. Die »Suche nach der Wahrheit« um den Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhard führt am Ende zu der deprimierenden Erkenntnis, »wie wenig souverän und wie sehr fremdbestimmt das Land ist, in dem ich lebe«. Über seinen Protagonisten transportiert Schorlau seine persönliche politische Sicht. Denglers Recherchen sind seine eigenen. Um seine Argumentation zu stützen, erzählt Schorlau nicht einfach einen Krimi, sondern verfasst eine Arbeit nach wissenschaftlichen Spielregeln. Seitenweise zitiert er aus Originaldokumenten, Unmengen an Fußnoten verweisen auf den Anhang, wo Quellen und Schwarz-Weiß-Fotos zusammengestellt sind.
Trotz der Belege sind Dengler-Schorlaus Theorien nicht automatisch dasselbe wie »die Wahrheit«. Vielleicht wäre ein Sachbuch das geeignetere Transportmedium für Schorlaus Botschaft gewesen. Denn ein Krimi bleibt ein Krimi: Fiktion. Da nehmen die Leser hochfliegende Theorien eher sportlich statt ernst, erwarten keine seriösen Analysen, sondern Spannung und gute Unterhaltung. In beidem bleibt das Buch leider hinter den Erwartungen zurück. Wer den ›kritischen Apparat‹ aus Belegen und Verweisen mitverfolgen möchte, wird vom Hin- und Herblättern aus dem Handlungsfluss gerissen; Denglers Gespräche, Recherchen und Erklärungen prickeln nicht immer vor Dramatik.
Anregende Krimifantasie oder absurde Verschwörungstheorie, wie man sie im Internet zuhauf findet? Aufklärung oder Angstmache? In welche Richtung und wie weit man den Erkenntnissen des Autors und seines Privatermittlers folgen mag, darf jeder Leser trotz unserer politischen Fremdbestimmung glücklicherweise selbst entscheiden. Mich persönlich stört an seiner Theorie, dass im geheimen Gewirr anonymer Mächte, egal woher sie wirken, das Individuum wie eine willenlose Marionette erscheint. Die Verantwortung des Bürgers für das Gemeinwesen, des Täters für sein Tun scheint außer Kraft gesetzt. Rechtsextremisten und Rassisten können nichts dafür, wenn sie fremdbestimmt sind.