Rezension zu »Adèle« von Irene Ruttmann

Adèle

von


Belletristik · Zsolnay · · Gebunden · 160 S. · ISBN 9783552057388
Sprache: de · Herkunft: de

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.
Bei Amazon kaufen

Zarte Liebe in einem Inferno

Rezension vom 31.12.2015 · 5 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Max ist zwanzig Jahre alt und hungrig nach Bildung. Er liebt Bücher, ver­schlingt Reclam­heft­chen, lernt mit den Klassi­kern, Jean Paul und Fontane. Gern hätte er Medizin stu­diert, aber ihm fehlt die Vor­aus­set­zung: der hö­here Schul­ab­schluss. Sein Vater muss als Maurer­polier eine Familie mit elf hung­rigen Kinder­mäulern stopfen, da bleibt nichts üb­rig für die Zu­kunfts­in­ves­ti­tion Schule. Max kann stolz und glücklich sein, dass ihm eine Lehre als Dro­gist er­mög­licht wurde, das geht doch schon in die rich­tige Rich­tung.

Seit zwei Jahren tobt der Erste Weltkrieg in Eu­ropa. Der En­thu­sias­mus seiner Anfänge ist ver­flogen, jetzt hört man nur noch Unge­heuer­liches aus dem Westen. Max meldet sich freiwillig zum Sani­täts­dienst. Er hofft wohl, auf diesem Weg seinem Lebens­ziel doch noch näher zu kom­men. Nachdem er eine Zeit­lang als Pfleger in einer Nerven­heil­anstalt gear­beitet hat, kommt im Sommer 1916 der Einsatz­be­fehl für die West­front – für Max »eine Art der Befrei­ung«. Eine groteske Fehl­ein­schät­zung, wie sich schnell erweist.

In einem »Krieg mit den tech­nisch voll­kom­mens­ten Mitteln und den neues­ten wissen­schaft­lichen Er­run­gen­schaften« leben und ster­ben die Men­schen in einer Hölle. »Myriaden von Männern« wer­den in dem von Menschen ent­fachten »Glut­ofen« (Lloyd George) ver­feu­ert, sterben einen sinn­losen, qual­vollen Tod. Als Kran­ken­trä­ger holt Max scha­ren­weise le­bendig begra­bene, auf grau­en­volle Weise ver­stüm­melte Kame­ra­den aus den vermeint­lich sicheren Unter­stän­den und Schützen­gräben, klaubt mensch­li­che Über­reste auf, die »blutend im Draht­verhau« hängen. Unter­schieds­los gera­ten auch die Sa­ni­täter unter heftigen Grana­ten­beschuss – das rote Kreuz auf ihrer Uni­form schützt sie nicht. Alle kämpfen nicht nur gegen ihre mensch­li­chen Feinde, sondern auch gegen »Flöhe, Läuse, Kälte, Schlamm und Angst«.

Max schreibt all das Grauen des primi­tiven Über­lebens­kampfes in Heften nieder, Illustra­tionen dazu sam­melt er wegen des Pa­pier­mangels in seinem Kopf, so »wie Sieben­käs, der sich aus Ar­mut seine Bü­cher selbst schrieb«. In Mengen liegen aller­dings ab­surd froh­gemute Ansichts­karten für die Lieben in der Hei­mat be­reit. Rot­backige Kinder mit Pi­ckel­hauben, Bajonett und Holz­pferd­chen eskor­tieren dar­auf den ge­fan­genen Feind übers Gelände und ent­bieten »Herz­liche Oster­grüße«. Auf die leeren Rück­seiten skiz­ziert Max mit Blei­stift und Kreide die grau­same Realität, wie sie ihm täg­lich begegnet. Erst sein Ver­trau­ter, der Ber­liner Maler und Bohèmien Bruno, warnt ihn, dass ihn sein sub­ver­sives Tun in Schwie­rig­keiten brin­gen könne, zu­mal er ohnehin um­triebiger ist als nötig. Wehe, wenn er bei sei­nen heim­lichen Exkur­sionen er­wischt würde.

Die Autorin Irene Ruttmann, 1933 in Dresden geboren, hat als Kind oft beob­achtet, wie ihr Vater Max – in­zwi­schen Be­rufs­schul­lehrer – sich an seinem Schreib­tisch daran machte, seine Memoi­ren nie­der­zu­schrei­ben und die Ver­suche bald wie­der verwarf. Erst lange nach sei­nem Tod wagte sie, die »ab­ge­grif­fenen schwarzen No­tiz­bücher, von einem Gummi zu­sam­men­ge­hal­ten,« aus der Schublade her­vor­zu­ho­len und darin zu lesen. Zu Beginn ihres jetzt bei Zsolnay er­schie­ne­nen Romans berich­tet sie sanft, wie es dazu kam, zi­tiert Sätze, kurze Passagen aus den ersten Seiten der Tage­bücher, stellt Mut­ma­ßun­gen beim Durch­blättern an, nimmt sich selbst immer weiter zurück und lässt den Vater schließ­lich unge­stört aus seinen Notizen sprechen. Erst hundert Seiten später, als die Auf­zeich­nun­gen Ende Februar 1917 abbrechen, greift sie erneut kom­men­tie­rend, fort­füh­rend und ab­schlie­ßend ein.

Das Bemer­kenswerte an diesem schönen, schlichten, me­lan­cho­li­schen Buch, das einen blei­ben­den Ein­druck hinter­lässt, sind je­doch nicht die Kriegs­gräuel. Die proto­kolliert Max gänzlich un­emo­tio­nal, in knappem Satz­bau und einem Stil, der in sei­ner un­ge­küns­tel­ten Direkt­heit an Wolf­gang Bor­chert erinnert. Im Zentrum steht viel­mehr eine ge­heim­nis­volle Liebes­ge­schich­te, die sich inmitten der Grau­sam­keiten, des Leides und der Angst voll­zieht und bei de­ren Er­zäh­lung auch sein Stil gelöster, freier und eine Spur poe­tisch wird.

Als viele Solda­ten von Bauch­krämpfen ge­quält werden, macht sich Max auf die Suche nach einem Heil­mittel. Die Apo­theke des nahe­ge­le­ge­nen Dorfes ist ver­lassen und ver­ram­melt wie alle Häuser des men­schen­leeren Ortes. Aus sei­nen Studien in Natur­kunde­bü­chern weiß Max, dass Salbei hel­fen würde. Doch ehe er durch das offen stehende Tor eines üppi­gen Gartens ein­treten und nach Heil­pflanzen Aus­schau hal­ten kann, hält ihn ein junges Mäd­chen mit klarer Stimme und un­miss­ver­ständ­licher Geste von seinem Vor­ha­ben ab. Max ist geblendet von der weiß ge­kälkten Wand, vor der sie auf einer Bank in der Sonne sitzt. Nur das leuch­tende Rot ihrer Jacke – ganz an­ders als das Blutrot, das sei­nen Alltag färbt – sticht hervor. Irgendwie ver­stän­digt man sich, und am Ende der ersten un­be­hol­fenen Be­geg­nung trägt Max, »Merci« und »Au revoir« im Ohr, einen vom Feind ge­schenk­ten Strauß Salbei in seinen Unter­stand.

Schon am nächs­ten Tag muss Max Nachschub holen. Da krei­sen all seine Ge­dan­ken und Träume bereits um das Mädchen Adèle. Die bei­den be­herr­schen nicht die Spra­che des anderen, aber ihre Gesten, Be­rüh­run­gen, Zärt­lich­keiten bedürfen keiner Worte. Sie wis­sen nichts von­ein­ander, haben aber keine Zeit zu verlieren. Ohne sich ein­ander erklären zu müssen, ge­nießen sie ein­ander auf un­be­küm­mer­te Weise. »Bon« ist das Wort, das Max mit Adèle verbindet. Ob­wohl sie wissen, dass der Krieg nicht an ihrer Türe inne­hält, keine Rück­sicht auf ihre un­schul­dige Liebe nimmt, ver­ab­schie­den sie sich be­harr­lich mit einem »À de­main«, räumen allen­falls »ou après demain« ein.

Nach dem fünf­ten Treffen wird Max Rutt­mann im Februar 1917 zwei­tausend Kilo­meter nach Osten ver­setzt – »sinn­loses hin und her Trans­por­tiert­werden zum Zwecke des Sterbens«. Er wird Adèle nicht wieder­sehen. Doch ein schlichtes, dau­men­großes Por­zellan­väs­chen mit zartem Blu­men­dekor im Bücher­schrank der Familie ist ihm sein Leben lang kostbar.

Irene Ruttmanns Roman »Adèle« kommt ebenso un­schein­bar da­her. Mit seinem stillen Titel, dem un­voll­ständi­gen Frauen­porträt, nur ein­hun­dert­sechzig Seiten dünn und klei­nem Format muss man dieses Kleinod schon suchen. Es lohnt sich. Die Em­pathie zu den Pro­ta­gonis­ten ent­wickelt sich beim Lesen un­auf­dring­lich wie von selber.


War dieser Artikel hilfreich für Sie?

Ja Nein

Hinweis zum Datenschutz:
Um Verfälschungen durch Mehrfach-Klicks und automatische Webcrawler zu verhindern, wird Ihr Klick nicht sofort berücksichtigt, sondern erst nach Freischaltung. Zu diesem Zweck speichern wir Ihre IP und Ihr Votum unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Ja« oder »Nein« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.

»Adèle« von Irene Ruttmann
erhalten Sie im örtlichen Buchhandel oder bei Amazon


Kommentare

Zu »Adèle« von Irene Ruttmann wurde noch kein Kommentar verfasst.

Schreiben Sie hier den ersten Kommentar:
Ihre E-Mail wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Ihre Homepage wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Hinweis zum Datenschutz:
Um Missbrauch (Spam, Hetze etc.) zu verhindern, speichern wir Ihre IP und Ihre obigen Eingaben, sobald Sie sie absenden. Sie erhalten dann umgehend eine E-Mail mit einem Freischaltlink, mit dem Sie Ihren Kommentar veröffentlichen.
Die Speicherung Ihrer Daten geschieht unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Senden« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.


Go to Top