Schlange stehen am Zahltag
Bis zu ihrer Einschulung ist Liz ein glückliches Kind. Ohne Vergleichsmöglichkeiten lebt sie mit Mutter (halbblind und mit Anspruch auf Sozialhilfe) und der ein Jahr älteren Schwester Lisa in ihrer kleinen Welt wie in einer Blase. Schon als Mom mit ihr schwanger war, besuchten sie und Lisa den Vater im Gefängnis. Mom und er hatten Rezepte gefälscht und unzählige Apotheken der Stadt abgezockt. Mom hatte man angesichts ihres Zustands auf Bewährung freigesprochen, aber Vater verbüßt seine Haftstrafe. Als er entlassen wird, ist Liz etwa drei Jahre alt, und sie schaut den Eltern zu, wie sie auf dem Küchentisch mit Utensilien hantieren, um sich einen Schuss zu setzen.
Liz hat gelernt, die Aufmerksamkeit der Eltern zu gewinnen. Dazu gehört auch ihr Platz auf der Fensterbank, von wo aus sie den Postboten mit dem ersehnten Berechtigungsschein frühzeitig kommen sieht. Außerdem gibt sie sich jungenhaft, denn Vater hasst alles Mädchengetue. Im Sozialamt steht sie gern Hand in Hand mit Mutter in der Zahltag-Schlange. Wie oft hatte Mom sich in letzter Zeit abends verdrückt, doch hier kann sie ihr nicht weglaufen.
Kaum ist das Geld im Haus, wird der Kühlschrank aufgefüllt, und schon ist alles wieder perdu. So gehen Lisa, Liz und Mom zum Gratismittagessen, der einzigen richtigen Mahlzeit des Tages. Es ist ausschließich für Kinder bestimmt, doch heimlich schieben sie Mom manchen Bissen zu.
Bei den gemeinsamen Streifzügen über die Müllhalden ernten Vater und Liz oft abfällige Zurufe. Doch frühzeitig bringt er ihr bei: "Scher dich nicht um anderer Leut's Meinungen." Sie ziehen Spielzeug, Kleidung, eine silberne Schmuckschatulle und ein tadelloses Keyboard aus dem Dreck.
Heute also kommt Liz in die Schule. Durch Mutters Frisierkünste verunstaltet wird sie wohl zum Gespött aller werden. Aber Mom ist weg ...
Liz, das noch unschuldige Kind, beschreibt seine underdog-Familie. Wie können Eltern, die an der Nadel und an der Flasche hängen, Kinder großziehen? Eigentlich hat Liz keine Chance auf eine erfreuliche Zukunft. Mit dreizehn wird sie – wie einstmals ihre Mutter – von zuhause abhauen, auf der Straße leben, ohne Bleibe, ohne Ziele ...
In ihrem Roman mit autobiogaphischen Zügen beschreibt die Autorin Liz Murray, wie sie es geschafft hat, aus diesem Sumpf, aus diesem Teufelskreis, auszubrechen. Es war ein steiniger Weg, den sie erfolgreich zu Ende gegangen ist: Mit neunzehn schaffte sie ihren Highschool-Abschluss, bekam ein Stipendium der New York Times für Harvard und absolvierte dort im Jahr 2009 erfolgreich ihre Universitäts-Examina.
Eine berührende Leseprobe!