Kein Zwerg half Schneewittchen
Langsam kribbelt's und gruselt's im Prolog: In einem dunklen Raum liegt eine wunderschöne weibliche Person, die mit dem fürsorglichen fremden Mann nicht sprechen möchte. Dabei hat er ihr doch Blumen mitgebracht und die Stereoanlage mit ihren Lieblingsliedern angeschaltet. "Hallo Schneewittchen," begrüßt er sie. Zwar weiß er genau, dass sie tot ist, aber noch immer hofft er, sie einmal lächeln zu sehen.
Dann beginnt die eigentliche Romanhandlung.
Auf dem ehemaligen Militärflughafen wird bei Baggerarbeiten in einem der leeren Treibstofftanks ein vollständiges weibliches Skelett entdeckt. Ob das wohl "Schneewittchen" ist?
Tobias Sartorius wird nach 10 Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen. Er hatte zwei Mädchen ermordet. Vor den Toren erwartet ihn Nadja, seine beste Freundin. Sie fährt ihn nach Altenhain, ein kleines, unscheinbares Kaff, in dem sein Zuhause ist – die alteingeführte Gaststätte "Zum goldenen Hahn". Doch welch ein Anblick: Alles ist völlig heruntergekommen und verwahrlost. Sein Vater Hartmut ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Die Ehe der Eltern ist seit vier Jahren geschieden. Die Dorfbewohner haben sie ruiniert. Man verkehrt eben nicht mit den Eltern eines Mädchenmörders.
Derweil geht es im Lokal "Zum schwarzen Ross" hoch her. Das halbe Dorf ist versammelt. Die Weiber tratschen, der Sartorius sei aus einem silberfarbenen Luxusauto ausgestiegen. Eine Unverschämtheit ... Die Männer verwickeln sich in eine Schlägerei, und der volltrunkene Manfred Wagner, der Vater der ermordeten Laura, brüllt durch den Saal: "Ich bring das Schwein um!"
Claudius Terlinden genießt im Dorf einen gottähnlichen Status. Er ist Brötchengeber nahezu aller Bewohner. Als Folge seiner mit Selbstverständlichkeit zur Schau getragenen Großzügigkeit haben alle Schulden bei ihm.
So auch Hartmut Sartorius. Seine Bankschulden wurden von Terlinden abgelöst, dem jetzt folglich der gesamte Hof gehört. Tobias weiß: Man hat seinen Vater über den Tisch gezogen. Er schlägt das Arbeitsangebot Terlindens aus. Er fühlt sich nicht zu Dank verpflichtet.
Terlindens Sohn Thies ist wegen einer leichten Behinderung als Dorftrottel abgestempelt. Aber Amelie, die siebzehnjährige Kellnerin, gibt nichts um den Klatsch. Dekoriert mit einem halben Pfund Metall, ausschließlich in schwarze Klamotten gewandet, vorbestraft und verhaltensauffällig, ödet das langweilige Dorf sie sowieso an. Das ändert sich, als Thies ihr anvertraut, in ihrem Haus habe "Schneewittchen" gewohnt ...
Nicht nur Aussehen, Örtlichkeiten, Gefühle und Stimmungen zeichnet die Autorin ansprechend mit Hilfe vieler farbiger Adjektive – auch die Protagonisten überzeugen durch Lebensnähe: Kommissarin Pia Kirchhoff trifft berufsbedingt auf ihren Ex, den Forensiker Dr. Henning Kirchhoff, was manche Unannehmlichkeit bringen wird. Vielen von uns wird auch der Stress im Familienalltag des Hauptkommissars Bodewein nicht unbekannt sein: Kein Essen im Kühlschrank, die Ehefrau kommt mit dem schreienden, nach Exkrementen stinkenden Baby nach Hause, beschwert sich, er sei nicht ans Telefon gegangen. Ja wie denn, wenn es nicht in seiner Ladestation steht, sondern erst mal gesucht werden muss? Eigentlich sind das doch ganz normale Menschen wie du und ich ...
Spaß machen die Dialoge. Manche Personen babbeln hessischen Dialekt, was dem Roman lokale Farbe und Authentizität spendiert.
Wer ist denn nun der wahre Mörder? Tobias, ein intelligenter Mann mit Einser-Abitur, kämpft, was die Tatzeit betrifft, mit Gedächtnislücken – warum? Dagegen spricht die Schneewittchen-Geschichte des Prologs eher für die Tat eines Psychopathen. Und dass Thies von Schneewittchen weiß, lässt ihn erst recht in den Kreis der Verdächtigen eintreten.
Ein rasanter, spannender Krimi!