
Entsorgt
von Sara Paretsky
Privatdetektivin V.I. Warshawski entdeckt ein schwerverletztes, hilfloses Mädchen und gerät unversehens in einen vielschichtigen Fall, der sie mit organisierter Kriminalität, Korruption und sozialen Missständen konfrontiert. Authentisch und realistisch zeigt Sara Paretskys Roman das Krisenmilieu einer Metropole.
Im Einsatz auf den Schattenseiten der Millionenstadt
Sara Paretsky, 1947 geboren, ist eine US-amerikanische Schriftstellerin, die nach einem Studium der Politikwissenschaft ihrer Leidenschaft fürs Schreiben folgte. Gemeinsam mit anderen Kriminal- und Thrillerautorinnen gründete sie 1986 die Organisation »Sisters in Crime«. Bekannt wurde Paretsky mit ihren inzwischen 22 Kriminalromanen um die Privatdetektivin V. I. Warshawski. Als neuester Titel in deutscher Übersetzung ist jetzt der 21. Teil der Reihe (»Overboard«) erschienen: Else Laudan hat ihn übersetzt und unter dem Titel »Entsorgt« in ihrem Argument-Verlag herausgegeben.
Die Protagonistin und Ich-Erzählerin V. I. Warshawski (das »V« steht für »Victoria« oder »Vic«) beherrscht neben dem Schießen auch Karate. Den Umgang mit Schusswaffen hat ihr ihr verstorbener Vater Tony, ein Polizist, beigebracht. Sie betreibt eine kleine Detektei in Chicago. Obwohl sie, wenn es sein muss, zur furchtlosen Kampfmaschine werden kann, hat ihre Schöpferin sie als freundliche, sympathische Person gezeichnet. Zwei kleine Hunde begleiten die alleinstehende Frau, wenn sie am Ufer des Lake Michigan joggt. Ihr Nachbar, Mr. Sal Contreras, steht ihr gern mit Rat und Tat zur Seite – in der Not auch mit kräftigen Boxhieben, trotz seines Alters (92).
Vics wichtigste Bezugsperson ist ihr Lebensabschnittsgefährte Peter. Leider ist er zurzeit viertausend Meilen weit weg in Spanien, wo er als Archäologe an Ausgrabungen teilnimmt. Wenn Vic spät in der Nacht völlig erschöpft von ihren Einsätzen heimkommt, telefoniert sie mit ihm. Was Peter da erfährt, macht ihm durchaus Sorgen: »Ich weiß doch, wie du aus Fenstern springst … als Obdachlose verkleidet im Park nächtigst … dich in den Pigeon River stürzt, während das Eis bricht.« Peter kennt auch Vics großes Herz für die sozial Abgehängten. Gesellschaftliche Probleme nimmt sie so ernst, dass oft wenig Zeit bleibt für die Jobs, mit denen sie ihr Geld verdient.
So behält sie in ihrem Viertel unentgeltlich ein verwahrlostes Ruinengrundstück im Blick, wo sich neben vielen Ratten auch Vandalen aufhalten und allerlei Drogen gekocht werden. Die Gemeinde der kleinen Synagoge daneben ist verängstigt, als ihr Gebäude mit Graffiti beschmiert wird und ein Projektil eine Fensterscheibe durchschlägt, die Polizei jedoch mangels »Ressourcen« gar nicht erst ermittelt.
Der zentrale Plot des Romans setzt ein, als Vic beim Joggen eine hilflose Fünfzehnjährige entdeckt. Mehr tot als lebendig, verdreckt und mit Verbrennungen an den Beinen liegt das Mädchen eingeklemmt zwischen Felsen. Da sie nichts bei sich hat, wodurch man ihre Identität feststellen könnte, nimmt sich Vic ihrer an, lässt sie ins Krankenhaus bringen und besucht sie später dort. Das einzige Wort, das die Unbekannte gesprochen hat, hört sich ungarisch an, so dass man einen Dolmetscher um Hilfe bittet.
Bei Vics nächstem Besuch im Krankenhaus wird deutlich, dass es um einen Fall von erheblich größeren Dimensionen als erwartet gehen muss: Das Mädchen ist spurlos verschwunden, und dem Dolmetscher hat man die Kehle durchschnitten. Offenbar war das Mädchen in die Klauen irgendwelcher Krimineller geraten, die jetzt vor nichts zurückschreckten, um ihrer wieder habhaft zu werden.
Damit ist Vic allein durch ihre Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit in eine brisante, undurchsichtige Angelegenheit hineingeschlittert. Ihre nachfolgenden Recherchen nehmen dramatische Züge an, und sie verfängt sich immer tiefer im Mahlwerk der Behörden. Die Polizei sucht nach etwas, was die Unbekannte möglicherweise bei sich trug, und nimmt auch Vics Büro und Wohnung ins Visier. Schließlich unterzieht man sie sogar einer demütigenden Leibesvisitation und heftet einen Beobachter an ihre Fersen.
Die mediale Berichterstattung über Vics beherzte Aktion zur Rettung des Mädchens bringt auch einen alten Bekannten auf ihre Spur. Brad Litvak junior wohnte einst auf der selben Straße wie Vic in South Chicago, und seine vielköpfige Familie war berüchtigt für ihre allabendlich ausufernden Pöbel-, Brüll-, Sauf- und Prügelgelage. Vics Vater, damals der zuständige Cop im Revier, untersagte seiner jugendlichen Tochter jeden Umgang mit der Problem-Familie, und wenn er sie dabei als »Victoria« apostrophierte, war klar, dass er es bitterernst meinte. Nun taucht Brad im Büro der Privatdetektivin auf und hat etwas »sehr Privates« auf dem Herzen: Er macht sich Sorgen um seine Eltern, die ständig streiten, speziell um seine Mom, die auffällig viel unterwegs ist.
Damit sind die wichtigsten Fäden ausgelegt, und von Seite zu Seite werden die Inhalte ausgeweitet. Nicht nur die Litvaks haben viel zu bieten, auch die Mafia mischt überall mit, so dass Vics Recherchen rasch in dieses und jenes Wespennest stoßen. Viele, viele Seiten später findet sie auch das verschwundene Mädchen wieder, und mit ihr kommt eine demente Großmutter, ein Wohnhaus in attraktiver Seeuferlage und Potenzial für Erbstreitigkeiten ins Spiel.
Das alles breitet Sara Paretsky in ihrem frischen, unprätentiös saloppen Sprachstil aus, der gern mit ironischen Untertönen hinterlegt und in entsprechenden Situationen mit deftigem Vokabular angereichert ist. Gesellschaftskritische Themen behandelt die Autorin mit viel Engagement und gestalterischem Aufwand, so etwa die Schere zwischen Arm und Reich, die allgegenwärtige Obdachlosigkeit, die vielen einsamen, verarmten Alten und die entwürdigende Behandlung der Allerschwächsten, der Demenzkranken. Zu den angeprangerten Missständen gehören auch die Strukturen organisierter Kriminalität, durch Korruption gefestigt, und die Spekulation mit Wohnimmobilien.
So komplex wie der Plot und das Personal des Romans angelegt sind, empfiehlt es sich, in einem Schwung durch die rasende Handlung zu stürmen, um den Überblick nicht zu verlieren. Immerhin driften die zu verfolgenden Spuren nicht auseinander, sondern aufeinander zu.
Etwas aufdringlich zieht sich durch die Seiten, wie die ansonsten doch so eigenverantwortlich und kritisch agierende Vic ständig darum besorgt ist, alle Corona-Maßnahmen streng nach Vorschrift einzuhalten – Maske, Desinfektion, Abstände … In der Danksagung am Ende des Werkes erfahren wir, dass es nicht nur während der Covid-Pandemie spielt, sondern auch entstand, und zu allem Überfluss holt ein ausführlicher Exkurs über »Corona in den USA« dieses unselige Thema noch einmal aus der dunklen Vergangenheit hervor in einen Roman, der doch nicht mehr tun kann und sollte, als uns gut und spannend zu unterhalten.