Rezension zu »Im Schnee« von Tommie Goerz

Im Schnee

von


Ein abgelegenes Dorf im Fichtelgebirge. Schnee fällt. Max, 80, ist nachdenklich. Sein Freund seit Kindertagen ist in der Nacht gestorben, sein Begräbnis wird vorbereitet. Bei den alten Ritualen erzählt man sich von all den Menschen und Ereignissen, die das Leben im Dorf bestimmt haben, von Freuden, Gewissheiten, Glück, Unglück und offenen Fragen. Max wird bewusst, dass dieses Leben jetzt vorüber und er selbst ganz allein ist.
Belletristik · Piper · · 176 S. · ISBN 9783492073486
Sprache: de · Herkunft: de

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.
Gebundene Ausgabe E-Book Hörbuch CD

Leben und Sterben im Dorf

Rezension vom 31.03.2025 · noch unbewertet · noch unkommentiert

»Im Schnee«, der neueste Roman des fränkischen Autors Tommie Goerz, ist (wie etliche seiner Vorgänger) ein Buch von ganz eigener Art, an das man sich heran­tasten, auf das man sich einlassen muss. Wer sich von seiner ge­dämpf­ten Winter­stim­mung, seinem fried­lichen Ton, dem bedäch­tigen Gang der kleinen Handlung einfangen lässt, entdeckt unter der bisweilen spröde wirkenden Ober­fläche mit merk­würdigen Charak­teren und einer ent­rückten Lebens­weise, hinter Andeu­tungen, un­voll­ständi­gen Sätzen und dialek­talen Geheim­nissen eine ungeahnt reiche Welt an Gefühlen, kompli­zierten Bezie­hungen, Weis­heiten, Trost, Frieden, be­glü­ckender Ruhe.

Keine Sorge: Goerz ist kein Autor, der verharm­lost, vor­täuscht, einlullt. Sein Roman ist im Fichtel­gebirge, einer kargen nord­bayri­schen Gegend ange­siedelt, die noch niemals etwas durchlebt hat, das ihre Bewohner als »gute alte Zeit« verklären könnten. Er spielt in unserer schwie­rigen Gegen­wart, deren Probleme sich auch hier nieder­schlagen, und außer­dem schleppen die Prota­gonis­ten (alle im reifen Alter) einen Berg von Er­inne­rungen und Erfah­run­gen (schönen und ver­störend ab­grün­digen) mit sich, die sie immer wieder einholen und zu Exkur­sionen in ihre Vergan­gen­heit verlocken. Daran dürfen wir teil­nehmen – und werden reich belohnt mit einem sanften, tief­grün­digen, zutiefst mensch­lichen Buch über Lebens­läufe und Ent­wick­lungen in einer Dorf­ge­mein­schaft.

»Unter den Apfelbäumen lag Schnee«, so anheimelnd beginnt der über­schau­bare, atmos­phärisch dichte Roman. Max Malter, ehemals Bauer und mit über 80 immer noch rüstig, lebt im alten Teil des Dorfes, gleich hinterm Bahnhof. Er steht am Fenster, sieht still den her­nieder­tänzeln­den Schnee­flocken zu und schaut auf die alten Bäume in seinem Garten. Der Herd ist geschürt, der Kaffee gemacht, »es hätte ein so schöner Tag werden können«. Aber in der Nacht ist der Schorsch gestorben. (Eigent­lich hieß er Georg Wenzel, aber hier wird jeder mit dem dialektal einge­färb­ten Vornamen plus Artikel benannt. Bei Bedarf tritt noch ein unter­schei­den­des Merkmal dazu wie der Fami­lien­name oder eine Ab­stam­mungs­be­zeich­nung – maximal also »der Wenzels Schorsch«.) Ob der ein Ver­trauter, ein Gefährte oder ein Freund war, solch subtile Über­legun­gen huschen schon durch Max’ Gedanken, aber sie sind nicht wichtig. Der Schorsch war halt schon immer da; »fast wie Ge­schwis­ter« haben sie alles zusammen gemacht, und wenn er zum Max kam, hat der immer ge­schmun­zelt, »so für sich, wie von innen«. Letzt­hin konnte er sich kaum noch bücken, jetzt ist er tot, und Max ist klar, was das für ihn selber bedeutet: Nun ist »nichts mehr zu tun« für ihn, »und niemand wartete auf ihn«.

Wenn hier einer stirbt, dann löst das uralte Rituale aus. Sie gliedern den Roman und den Ablauf von Max’ Tag. »Der Tod« muss erst Einzug halten in seinem Be­wusst­sein. Am Abend treffen sich die Männer und halten »Die Wacht«, plaudern über Gott, den Ver­storbe­nen und die Welt, trinken und essen zusam­men, bis um Mitter­nacht die Frauen über­nehmen und »Die Nacht« beginnt. Sie machen den leblosen Körper für die an­stehen­den Zere­monien fein, singen schöne Lieder und tauschen sich ebenfalls über alles aus, was sie, das Dorf und den Toten bewegt hat. »Der Tag« darauf bringt den Gottes­dienst und die Beerdi­gung. Am Ende begleiten wir Max »Im Schnee« und »Am Grab«, wobei diese Orts­anga­ben nur Türen sind zu den Ge­dan­ken­welten, die wir mit dem Prota­gonis­ten durch­schrei­ten.

Eben dies ist das Meisterhafte, Zauberhafte, Anrührende an diesem unschein­baren Büchlein: Seiten­lang vertieft man sich in das Leben der Dorf­be­wohner, das so still und friedlich erscheint wie ein dunkler Waldsee. Sie kommen mit wenigen Worten und über die Jahr­zehnte einge­spiel­ten Ver­haltens­weisen mit­einan­der aus, weil man anders nicht ein­ver­nehm­lich zusammen leben kann in einer so kleinen Welt. Einen Vorschuss an Respekt bekommt erst einmal jeder – jedes Kind, jeder Fremde, auch die Flücht­linge, die viel­leicht bald ein­treffen –, aber dann ist an ihnen, sich Aner­kennung zu ver­dienen.

Ein unausgesprochenes Regelwerk von Ritualen, Weis­heiten und Sprach­ge­bräu­chen bietet Sicher­heit und schafft ein Gefühl der Zu­sammen­ge­hörig­keit und des Ge­borgen­seins. Lesend verstehen wir, was stadt­flüch­tige Neu­bürger gern lernen möchten, aber niemand ihnen erklären kann noch will. Man bekommt es im Auf­wachsen einfach mit – ›Das macht man halt so‹. Wenn die Kinder etwas Schwer­wiegen­des falsch machen, setzt es grausame Prügel, aber dann haben sie ihre Lektion gelernt.

Materielle Werte scheinen hier irrelevant. Wer viel Geld verdient, dem sei’s gegönnt. Wer sich aber damit abheben will, der wird gern belächelt oder im Wirts­haus­gespräch ver­spottet.

Frauen leben in einer anderen Welt als die Männer. Manche führen das Regiment im Haus, manche sind gleich­berech­tigte und gleich­wer­tige Partner, wenige werden ver­prügelt.

Der Wandel der Weltanschauungen geht an diesem Dorf ohne tief­grei­fende Effekte vorüber, nicht aber der der Wirt­schaft und der Infra­struktur. Man muss sich ohne Bäcker, ohne Metzger, ohne Schuster, ohne Schule und mit stark redu­zier­tem Zug­betrieb arran­gieren, aber all dem haben sich die Einhei­mischen ergeben.

Der Malters Max ist ein seltenes Exemplar einer aus­ster­benden Spezies: physisch wie ver­haltens­mäßig bestens angepasst in seinem rauen Habitat, als soziales Wesen inte­griert und zugleich selbst­ver­wirk­licht – als Vertreter klarer Verhält­nisse, har­monie­bedürf­tiger Ver­steher und Ver­mittler, , als aner­kann­ter Fach­mann für so unter­schied­liche Bereiche wie Motoren, Getriebe, Apfel­sorten, Tees und alle Kräuter, die am Wegesrand wachsen. Genügsam lebt er in seiner Wohnung, deren Ein­rich­tung ein­schließ­lich Holzofen seit Jahr­zehnten nicht verändert wurde.

Wenn Max in seinen Erinnerungen die Indivi­duen in den Sinn kommen, die zu sehr gegen das Übliche verstoßen, sich abge­sondert, provo­ziert oder gar Unsäg­liches getan haben, tun sich ihm und uns Abgründe im schwarzen Wasser auf. Nur die Schlimm­sten finden gar kein Ver­ständnis; aber einfach abge­schrieben wird keiner. Die dunkel­sten Ge­schich­ten gibt es hier wie überall, und jeder bekommt ein bisschen was davon mit, schweigt aber lieber, weil nichts Genaues weiß man ja nicht, und man will keinen aus der Gemein­schaft an den Pranger stellen. Auch Schick­sals­schläge wie Unfälle oder Krankheit und die Not in »schlech­ten Zeiten« hängt keiner an die große Glocke, sondern versucht sein Leid erst einmal selbst zu bewäl­tigen. Man redet sowieso nur das »Nötigste, wenn überhaupt«.

Ach wie einfach ist es, all dies als spießig abzutun, wie es die ›Fort­schritt­lichen‹ seit jeher getan haben und wie es die Städter tun, die an den Wochen­enden vorbei­kommen, einen Blick werfen und von hoher mora­lischer Warte herab alles besser wissen. Dabei kennen die meisten nicht einmal das kleine Einmal­eins, das mensch­liches Zu­sammen­leben im Innersten zu­sammen­hält.

Tommie Goerz eröffnet eine Welt, die von der unseren unfassbar weit entfernt scheint. Man liest das Buch staunend, geradezu andächtig. Das litera­rische Können des Autors erweist sich in seinen kompakten, un­emotio­nalen Be­schrei­bungen der Natur, der Ört­lich­keiten, der Charak­tere. Sie zielen durchweg auf Anschau­lich­keit, sprechen all unsere Sinne an, sparen Drastik nicht aus und rufen gleich­wohl unter­schied­liche Stim­mun­gen hervor. Das ge­legent­lich ein­fließende fränki­sche Wortgut (an den Zähnen »zuzeln«, einen »Batzen« aus­speiben) schafft Authen­tizität, ohne es der Lächer­lich­keit preis­zugeben. Eigen­artig und meister­lich, wie aus dem schlichten Erzähl­stil – ein­faches Voka­bular, kein Wort zuviel, klare Aussage­sätze – eine gewisse Feier­lichkeit des Tons erwach­sen kann, ohne den gering­sten Anklang von Rühr­selig­keit.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblings­bücher im Frühjahr 2025 aufgenommen.


Weitere Artikel zu Büchern von Tommie Goerz bei Bücher Rezensionen:

Rezension zu »Meier«

go

War dieser Artikel hilfreich für Sie?

Ja Nein

Hinweis zum Datenschutz:
Um Verfälschungen durch Mehrfach-Klicks und automatische Webcrawler zu verhindern, wird Ihr Klick nicht sofort berücksichtigt, sondern erst nach Freischaltung. Zu diesem Zweck speichern wir Ihre IP und Ihr Votum unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Ja« oder »Nein« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.

»Im Schnee« von Tommie Goerz
erhalten Sie im örtlichen Buchhandel oder bei Amazon als
Gebundene Ausgabe E-Book Hörbuch CD


Kommentare

Zu »Im Schnee« von Tommie Goerz wurde noch kein Kommentar verfasst.

Schreiben Sie hier den ersten Kommentar:
Ihre E-Mail wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Ihre Homepage wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Hinweis zum Datenschutz:
Um Missbrauch (Spam, Hetze etc.) zu verhindern, speichern wir Ihre IP und Ihre obigen Eingaben, sobald Sie sie absenden. Sie erhalten dann umgehend eine E-Mail mit einem Freischaltlink, mit dem Sie Ihren Kommentar veröffentlichen.
Die Speicherung Ihrer Daten geschieht unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Senden« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.


Go to Top