Rezension zu »Kains Opfer« von Alfred Bodenheimer

Kains Opfer

von


Belletristik · Nagel & Kimche · · Gebunden · 224 S. · ISBN 9783312006281
Sprache: de · Herkunft: ch

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Kommissar Rabbi

Rezension vom 30.08.2014 · 13 x als hilfreich bewertet mit 1 Kommentaren

Er kennt alle seine Schäflein, ihre Nöte und Sorgen. Dachte er jedenfalls, der Rab­bi­ner.

Gabriel Klein widmet sich seiner Gemeinde – die größte in Zürich – mit Hingabe und Herzblut. Besonders die Predigten am Schabbat bereitet er sorg­fäl­tig vor, sollen sie die Zuhörer doch belehren, aufbauen und in ihrer Treue zum Herrn und seinen Geboten stärken. Die seelsorgerischen Aufgaben wie Besuche in Kran­ken­häu­sern und Al­ten­hei­men fielen ihm, dem Nach­denk­li­chen, anfangs schwer. Doch heute schätzt er die Kontakte mit den be­dürf­ti­gen Menschen. Über ihren tiefen und auf­rich­ti­gen Glauben kommt er ihnen auf berührende Weise nahe. Dagegen haben sich die Bar-Mizwa-Zeremonien für ihn zu einer leidigen Pflicht­ver­an­stal­tung entwickelt. Pomp und Staffage mit Powerpoint-Lebensläufen und immer gleichem Essen vom koscheren Caterer drohen die eigentliche Bedeutung – das religiöse Mün­dig­wer­den der jungen Men­schen zu feiern – zu überwuchern.

Eine zentrale Stütze in der Glaubenserziehung war Nachum Berger, 58. Viel Gutes hat man vernommen von dem al­lein­ste­hen­den Lehrer für Religion und Hebräisch an der jüdischen Primarschule. Auch Kleins beide Töchter hat der Pädagoge mit dem guten Gespür für Kinder unterrichtet. So traut Rabbi Klein seinen Ohren nicht, als Kom­mis­sa­rin Karin Bänziger ihn am Telefon informiert, dass dieses wertvolle Ge­mein­de­mit­glied ermordet worden sei. Ob womöglich doch etwas dran gewesen sein sollte an dem, was manche Leute getratscht hatten, Klein aber gar nicht erst hören wollte? »Fast zu nett« sei der gut­aus­se­hen­de Mann gewesen, schwul, impotent, eine »un­durch­sich­ti­ge« Lichtgestalt, zu der man besser keinen pri­va­ten Kon­takt pflegen sollte ...

Jetzt benötigt die Kommissarin Kleins Hilfe. Er soll Bergers Telefonate und letzte Mail­kon­tak­te aus dem He­bräischen ins Deutsche übertragen. Denn Berger war offenbar zu einer Verabredung erschienen, als er mit einem stumpfen Gegenstand am Kopf getroffen wurde.

Ehe sich Klein versieht, steckt er mittendrin in einem Fall, der ihn bis in seine Alb­träu­me verfolgt und sei­nem Gewissen heftig zusetzt. Zwischen den üblichen All­tags­nach­rich­ten findet er überraschende Botschaf­ten von be­trächt­li­cher Sprengkraft. Eine etwa einen Monat alte Mail, Absender »gilag«, lautet: »Nachum, dies ist ein Hil­fe­ruf! Eine Warnung für dich. Josef hat deine SMS gelesen. Er hat mich geschlagen. Soll er ... [doch] zum Rabbiner gehen. Aber er hat gedroht, dich umzubringen! ... mein Geliebter. Pass auf dich auf.« Das hört sich an, als habe Berger eine Affäre mit einer Ehefrau aus konservativen Kreisen gehabt. Eine Katastrophe!

Der Rabbiner kennt alle seine Schäflein. Schnell wird ihm klar, wer die Mail verfasst haben wird: Gila Gut, Gemahlin des Josef Gut, Betreiber eines Koscherladens und Mitglied der or­tho­do­xen Gemeinde. Wenn Klein hierüber die Polizei informiert, liefert er nicht nur Josef Gut als Ver­däch­ti­gen aus, sondern bringt den sozialen Tod über die untreue Ehefrau und stig­ma­ti­siert die gesamte Familie.

Seinen staatsbürgerlichen Pflichten muss sich auch ein Rabbi stellen, doch auf dem Weg zum Büro der Kommissarin martert sich Klein mit Selbst­vor­wür­fen. Wie ein klei­ner De­nun­zi­ant, der seinen Glau­bens­bru­der verrät, so sieht er sich jetzt. Hatte er sich nicht sogar »ge­bauch­pin­selt« gefühlt, als man ihn um Rat bat, er zur wichtigen Schalt­stel­le in der Auf­klä­rungs­ar­beit des Kommissariats werden sollte? Übelkeit steigt hoch ... Und doch hat er die »hei­li­ge oder auch ver­damm­te Pflicht und Schul­dig­keit«, dafür zu sor­gen, dass ans Licht kommt, wer Nachum Berger auf dem Gewissen hat.

Rabbi Gabriel Klein, der ungewöhnliche Ermittler in einem ungewöhnlichen Krimi, bleibt der Kom­mis­sa­rin immer einen Schritt voraus. Einerseits gewinnt er dank seines Ein­füh­lungs­ver­mö­gens und seines Ver­ständ­nis­ses der Traditionen, Regeln und Werte der orthodoxen Ge­mein­schaft Erkenntnisse, die der ganz dies­sei­ti­gen Beamtin unzugänglich bleiben, andererseits dosiert er seine In­for­ma­tions­ga­ben an die Behörde geschickt und sparsam.

Natürlich wird Josef Gut verhaftet, und natürlich ist er unschuldig. Gabriel Klein muss für seine privaten Pa­ral­lel­re­cher­chen zeitlich und räumlich weit ausholen. Sie führen ihn in die USA, wo Nachum Berger eine Zeitlang an einer jü­di­schen Schule in Chicago un­ter­rich­te­te, bis das Ar­beits­ver­hält­nis plötzlich been­det wurde und er nach Zürich wechselte. Um Näheres zu erfahren, fliegt Klein nach Tel Aviv. Dort trifft er sich mit einer Aguna, einer Frau, die an ihren Ehe­mann gebunden bleibt, solange er nicht per­sön­li­ch seine Ein­wil­li­gung er­teilt – sei es, weil er sie ver­wei­gert, sei es, weil er verschollen und sein Tod nicht gesichert ist. Alleine darf sie den Bund nicht lösen, folglich auch keinen neuen eingehen.

»Kains Opfer« ist ein auf anspruchsvolle Weise unterhaltsamer, intelligenter Kriminalroman mit Mehrwert. Denn min­des­tens so neugierig wie die Mordaufklärung macht uns, was Alfred Bo­den­hei­mer über jüdisches Leben zu berichten weiß. Als wolle der Autor, Professor für jüdische Kultur, das populäre Genre als Vehi­kel nutzen, flicht er in die Handlung eine Fülle an Fakten und Farben ein, die das Judentum in seiner gan­zen Bandbreite authentisch vermittelt. Der kulturelle Einblick in eine mehr oder weniger ver­schlos­se­ne Pa­ral­lel­welt gestaltet sich leicht­füßig und kurz­wei­lig. Rabbi Klein, zwar nicht Ich-Erzähler, aber doch unsere Iden­ti­fi­ka­tions­fi­gur, erlaubt es dem Autor, aus dem Vollen zu schöpfen, ist er doch ebenso un­vor­ein­ge­nom­men und auf­ge­schlos­sen wie dieser. Die alt­her­ge­brach­te strenge Orthodoxie, zutiefst und ausschließ­lich in der Religion verwurzelt, in kom­pro­miss­lo­sem Ge­hor­sam gelebt, un­be­ein­druckt gegen alle An­fein­dun­gen ver­tei­digt, erleben wir ebenso wie die modernen Ausprägungen des Glaubenslebens in der Groß­stadt Zürich und anderswo in der Welt.

Wir erfahren Enzyklopädisches – wie die Tatsache, dass die Torah nicht mit Alef, dem An­fangs­buch­sta­ben des hebräischen Alefbets, sondern mit dem nach­fol­gen­den Bet beginnt –, und Tiefgründiges über Religion und Kultur. Manche ultraorthodoxe Einstellungen sind mit den Grundsätzen einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft nicht in Einklang zu bringen. Der inhaftierte Josef Gut etwa akzeptiert für sich die Schwei­zer Rechts­spre­chung nicht, sondern möchte das jüdische Gesetz angewandt wissen. Seine des Ehebruchs ver­dächtige Frau würde er gar einem Gottesurteil nach (längst über­hol­tem) biblischem Vorbild unterziehen: Priester reichen ihr einen geheiligten Trunk; erkrankt sie, so beweist das ihre Schuld ...

Der aufgeklärte Geist Gabriel Klein steht den Menschen, der Realität und modernen Zeit­strö­mun­gen ver­ständ­nis­voll gegenüber. Wissend, dass Ra­di­kal­mei­nun­gen allen Juden einen schlechten Ruf bescheren können, greift er be­schwich­ti­gend ein. In diesseitigen Angelegenheiten stehen ihm die liebenswerte, reso­lute Ehefrau Rivka und die beiden fast erwachsenen Töchter unterstützend zur Seite; ansonsten sucht der grüblerische Zauderer Rat bei Gott. Unermüdlich studiert er die Texte der Torah. Die Fragen, die der Ge­lehrte aufwirft, eröffnen dem Leser ein Spektrum interessanter Interpretationen theologischer und philoso­phischer Natur, beispielsweise zum Brudermord von Kain und Abel, der Opferfrage und der Geschichte Hiobs.

Rabbi Klein ist ein Liberaler, ein geschickter Ermittler, ein Vermittler zwischen den Welten und der sym­pa­thische Protagonist eines höchst anregenden Romans.


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Kommentare

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Zu »Kains Opfer« von Alfred Bodenheimer wurden 1 Kommentare verfasst:

Helen D.Schaufelberger Uhr schrieb am 09.11.2014:

Rabbi Klein ist der sympathische Protagonist eines höchst anregenden Romans - der allen gerecht sein möchte und doch alles falsch macht. Das langjährige Leid der, vom Ehemann verlassenen, Frau wird durch den Tod ihres Sohnes ins Unermessliche gesteigert, welchem der nicht unschuldige Rabbi mit Tiefschlaf antwortet. Die so gesetzeslastige Männerwelt hofft auf Katharsis durch die Ehefrau, die Tochter und die nicht jüdische Schriftgelehrtin ? Alles in Allem ein Happy End.

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