Kommissar Rabbi
Er kennt alle seine Schäflein, ihre Nöte und Sorgen. Dachte er jedenfalls, der Rabbiner.
Gabriel Klein widmet sich seiner Gemeinde – die größte in Zürich – mit Hingabe und Herzblut. Besonders die Predigten am Schabbat bereitet er sorgfältig vor, sollen sie die Zuhörer doch belehren, aufbauen und in ihrer Treue zum Herrn und seinen Geboten stärken. Die seelsorgerischen Aufgaben wie Besuche in Krankenhäusern und Altenheimen fielen ihm, dem Nachdenklichen, anfangs schwer. Doch heute schätzt er die Kontakte mit den bedürftigen Menschen. Über ihren tiefen und aufrichtigen Glauben kommt er ihnen auf berührende Weise nahe. Dagegen haben sich die Bar-Mizwa-Zeremonien für ihn zu einer leidigen Pflichtveranstaltung entwickelt. Pomp und Staffage mit Powerpoint-Lebensläufen und immer gleichem Essen vom koscheren Caterer drohen die eigentliche Bedeutung – das religiöse Mündigwerden der jungen Menschen zu feiern – zu überwuchern.
Eine zentrale Stütze in der Glaubenserziehung war Nachum Berger, 58. Viel Gutes hat man vernommen von dem alleinstehenden Lehrer für Religion und Hebräisch an der jüdischen Primarschule. Auch Kleins beide Töchter hat der Pädagoge mit dem guten Gespür für Kinder unterrichtet. So traut Rabbi Klein seinen Ohren nicht, als Kommissarin Karin Bänziger ihn am Telefon informiert, dass dieses wertvolle Gemeindemitglied ermordet worden sei. Ob womöglich doch etwas dran gewesen sein sollte an dem, was manche Leute getratscht hatten, Klein aber gar nicht erst hören wollte? »Fast zu nett« sei der gutaussehende Mann gewesen, schwul, impotent, eine »undurchsichtige« Lichtgestalt, zu der man besser keinen privaten Kontakt pflegen sollte ...
Jetzt benötigt die Kommissarin Kleins Hilfe. Er soll Bergers Telefonate und letzte Mailkontakte aus dem Hebräischen ins Deutsche übertragen. Denn Berger war offenbar zu einer Verabredung erschienen, als er mit einem stumpfen Gegenstand am Kopf getroffen wurde.
Ehe sich Klein versieht, steckt er mittendrin in einem Fall, der ihn bis in seine Albträume verfolgt und seinem Gewissen heftig zusetzt. Zwischen den üblichen Alltagsnachrichten findet er überraschende Botschaften von beträchtlicher Sprengkraft. Eine etwa einen Monat alte Mail, Absender »gilag«, lautet: »Nachum, dies ist ein Hilferuf! Eine Warnung für dich. Josef hat deine SMS gelesen. Er hat mich geschlagen. Soll er ... [doch] zum Rabbiner gehen. Aber er hat gedroht, dich umzubringen! ... mein Geliebter. Pass auf dich auf.« Das hört sich an, als habe Berger eine Affäre mit einer Ehefrau aus konservativen Kreisen gehabt. Eine Katastrophe!
Der Rabbiner kennt alle seine Schäflein. Schnell wird ihm klar, wer die Mail verfasst haben wird: Gila Gut, Gemahlin des Josef Gut, Betreiber eines Koscherladens und Mitglied der orthodoxen Gemeinde. Wenn Klein hierüber die Polizei informiert, liefert er nicht nur Josef Gut als Verdächtigen aus, sondern bringt den sozialen Tod über die untreue Ehefrau und stigmatisiert die gesamte Familie.
Seinen staatsbürgerlichen Pflichten muss sich auch ein Rabbi stellen, doch auf dem Weg zum Büro der Kommissarin martert sich Klein mit Selbstvorwürfen. Wie ein kleiner Denunziant, der seinen Glaubensbruder verrät, so sieht er sich jetzt. Hatte er sich nicht sogar »gebauchpinselt« gefühlt, als man ihn um Rat bat, er zur wichtigen Schaltstelle in der Aufklärungsarbeit des Kommissariats werden sollte? Übelkeit steigt hoch ... Und doch hat er die »heilige oder auch verdammte Pflicht und Schuldigkeit«, dafür zu sorgen, dass ans Licht kommt, wer Nachum Berger auf dem Gewissen hat.
Rabbi Gabriel Klein, der ungewöhnliche Ermittler in einem ungewöhnlichen Krimi, bleibt der Kommissarin immer einen Schritt voraus. Einerseits gewinnt er dank seines Einfühlungsvermögens und seines Verständnisses der Traditionen, Regeln und Werte der orthodoxen Gemeinschaft Erkenntnisse, die der ganz diesseitigen Beamtin unzugänglich bleiben, andererseits dosiert er seine Informationsgaben an die Behörde geschickt und sparsam.
Natürlich wird Josef Gut verhaftet, und natürlich ist er unschuldig. Gabriel Klein muss für seine privaten Parallelrecherchen zeitlich und räumlich weit ausholen. Sie führen ihn in die USA, wo Nachum Berger eine Zeitlang an einer jüdischen Schule in Chicago unterrichtete, bis das Arbeitsverhältnis plötzlich beendet wurde und er nach Zürich wechselte. Um Näheres zu erfahren, fliegt Klein nach Tel Aviv. Dort trifft er sich mit einer Aguna, einer Frau, die an ihren Ehemann gebunden bleibt, solange er nicht persönlich seine Einwilligung erteilt – sei es, weil er sie verweigert, sei es, weil er verschollen und sein Tod nicht gesichert ist. Alleine darf sie den Bund nicht lösen, folglich auch keinen neuen eingehen.
»Kains Opfer« ist ein auf anspruchsvolle Weise unterhaltsamer, intelligenter Kriminalroman mit Mehrwert. Denn mindestens so neugierig wie die Mordaufklärung macht uns, was Alfred Bodenheimer über jüdisches Leben zu berichten weiß. Als wolle der Autor, Professor für jüdische Kultur, das populäre Genre als Vehikel nutzen, flicht er in die Handlung eine Fülle an Fakten und Farben ein, die das Judentum in seiner ganzen Bandbreite authentisch vermittelt. Der kulturelle Einblick in eine mehr oder weniger verschlossene Parallelwelt gestaltet sich leichtfüßig und kurzweilig. Rabbi Klein, zwar nicht Ich-Erzähler, aber doch unsere Identifikationsfigur, erlaubt es dem Autor, aus dem Vollen zu schöpfen, ist er doch ebenso unvoreingenommen und aufgeschlossen wie dieser. Die althergebrachte strenge Orthodoxie, zutiefst und ausschließlich in der Religion verwurzelt, in kompromisslosem Gehorsam gelebt, unbeeindruckt gegen alle Anfeindungen verteidigt, erleben wir ebenso wie die modernen Ausprägungen des Glaubenslebens in der Großstadt Zürich und anderswo in der Welt.
Wir erfahren Enzyklopädisches – wie die Tatsache, dass die Torah nicht mit Alef, dem Anfangsbuchstaben des hebräischen Alefbets, sondern mit dem nachfolgenden Bet beginnt –, und Tiefgründiges über Religion und Kultur. Manche ultraorthodoxe Einstellungen sind mit den Grundsätzen einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft nicht in Einklang zu bringen. Der inhaftierte Josef Gut etwa akzeptiert für sich die Schweizer Rechtssprechung nicht, sondern möchte das jüdische Gesetz angewandt wissen. Seine des Ehebruchs verdächtige Frau würde er gar einem Gottesurteil nach (längst überholtem) biblischem Vorbild unterziehen: Priester reichen ihr einen geheiligten Trunk; erkrankt sie, so beweist das ihre Schuld ...
Der aufgeklärte Geist Gabriel Klein steht den Menschen, der Realität und modernen Zeitströmungen verständnisvoll gegenüber. Wissend, dass Radikalmeinungen allen Juden einen schlechten Ruf bescheren können, greift er beschwichtigend ein. In diesseitigen Angelegenheiten stehen ihm die liebenswerte, resolute Ehefrau Rivka und die beiden fast erwachsenen Töchter unterstützend zur Seite; ansonsten sucht der grüblerische Zauderer Rat bei Gott. Unermüdlich studiert er die Texte der Torah. Die Fragen, die der Gelehrte aufwirft, eröffnen dem Leser ein Spektrum interessanter Interpretationen theologischer und philosophischer Natur, beispielsweise zum Brudermord von Kain und Abel, der Opferfrage und der Geschichte Hiobs.
Rabbi Klein ist ein Liberaler, ein geschickter Ermittler, ein Vermittler zwischen den Welten und der sympathische Protagonist eines höchst anregenden Romans.