Allzu blumige Poesie
Am 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag, ist das ganze Land auf den Beinen. Wer kann, reist ans Meer, zum Beispiel an die weitläufigen Strände von Le Touquet bei Calais. Unter den Tausenden, die sich dort tummeln, sind vier Paare, deren Geschichte Grégoire Delacourt, in seiner Heimat äußerst populärer Romancier, erzählt. Die Paare laufen einander ab und zu über den Weg, ohne sich kennenzulernen.
Zufällig ausgewählt hat der Autor seine Protagonisten aber keineswegs. Sie repräsentieren vielmehr vier Menschenalter (15, 35, 55 und 75 Jahre), in denen üblicherweise die Liebe eine wichtige Rolle spielt. Poetisch ausgedrückt: Es sind die vier Jahreszeiten des Lebens. Dass sich alle vier in diesem sehr speziellen Sommer zusammenfinden, begründet den Titel »Die vier Jahreszeiten des Sommers«.
All dies (wie auch die Covergestaltung) lässt Geschichten von sommerlicher Leichtigkeit erwarten, einen unterhaltsamen Mix von Verliebtheiten, Flirts und Zärtlichkeiten im Sonnenschein. Doch nein: Delacourts Protagonisten sind allesamt Verzweifelte, Wehmütige, und ihre Erlebnisse stimmen trist.
Der fünfzehnjährige frühreife Louis verliebt sich unsterblich in die bildschöne Victoria und verbringt mit der Angebeteten einen Sommer unschuldiger Gemeinsamkeit und brennender Hoffnungen auf mehr. Doch aus denen wird nichts. Ein paar Jahre später verspürt die junge Frau bei Louis weder das »Kribbeln« und »Brennen« der Liebe, noch will sie ihn als »besten Freund« verlieren. Sie werden einander nicht heiraten, und Louis wird sich vorerst damit trösten, dass »Liebeskummer [...] auch eine Form von Liebe« sei. Immerhin hat jede/r ihr/sein Leben noch vor sich.
Die fünfunddreißigjährige Isabelle, obwohl gar nicht so viel älter, hat jegliche Hoffnung aufgegeben. Die Alleinerziehende glaubt, »nie viel Glück mit den Männern« gehabt zu haben (dabei ist ihr Neunjähriger ein ganz reizendes Kerlchen). Einerseits ernüchtert, hadert sie andererseits mit ihrer Einsamkeit und ihren enttäuschten Hoffnungen (»Warum habe ich keine große, zerstörerische Leidenschaft erlebt?«).
Damit gibt sich die fünfundfünfzigjährige Monique nicht zufrieden. Sie spürt die ersten Zeichen des nahenden Alters. Doch ihr Körper ist noch begehrenswert. Nur ihr Ehemann findet sie nicht mehr attraktiv, schaut sie nicht einmal mehr an. Also reist sie alleine nach Le Touquet, um noch einmal das Abenteuer Sex und berauschende Leidenschaft herauszufordern. Wer weiß, vielleicht begegnet ihr ja sogar noch die wahre, die große Liebe, ewige Treue und »absolutes, endgültiges Vertrauen«.
Eben dies hat das älteste Ehepaar des Quartetts seit Langem gefunden. Die beiden, um die 75, schauen auf wunderbare Jahre gemeinsamer Liebe zurück. Nun sind sie gebrechlich, vom Leben erschöpft. Was kann ihnen die Zukunft noch bringen? Den geliebten Partner allein zurückzulassen, »im Übel der Einsamkeit, in der Schande des Verfalls«, das ist ein unerträglicher Gedanke. Deshalb haben sie beschlossen, am letzten Nationalfeiertag des Jahrtausends (manche prophezeien gar: der Weltgeschichte), ehe das Feuerwerk den nächtlichen Himmel erglühen lässt, Hand in Hand ins Wasser zu gehen und gemeinsam zu sterben. »Das Meer wird unsere Tränen trinken.«
Claudia Steinitz hat »Les quatre saisons de l'été« in ein schönes Deutsch übersetzt, konnte aber nicht alles mitnehmen, was dieses zutiefst französische Opus ausmacht. Zum Beispiel klingt ein Lied durch alle Seiten – der wehmütige Sommerhit »Hors saison«, den Francis Cabrel 1999 im ganzen Land schmachtete, der bei uns aber nicht sehr bekannt sein dürfte. Ebenso ins Leere laufen werden viele der unzähligen (übersetzten) Zitate und Anspielungen aus Chansons, Filmen und Literatur. Zugunsten durchgängiger sprachlicher Verständlichkeit hat die Übersetzerin ein wenig der originalen Authentizität geopfert.
Unbestritten ist Delacourt ein begabter Geschichtenerzähler. Die vier Ich-Perspektiven (jeweils eines Liebenden) sorgen für Unmittelbarkeit. Zumindest stellenweise ist der Ton beschwingt und ironisch. So liest man gern, was den Charakteren widerfährt und wie ihre Schicksale sich weiter entwickeln. Gut gefiel mir die leichthändig-raffinierte Verflechtung der vier Episoden über Jahre und Jahrzehnte. Noch bevor man alle Figuren kennengelernt hat, sind sie einem schon begegnet (da küssen sich zwei ältere Leute »so schamlos und gierig, als hätten sie etwas nachzuholen«; dort versucht »ein altes Paar trotz Wind und ungelenken Fingern sein Strandtuch auf dem Sand auszubreiten«). Der Autor führt alle vier Geschichten nach einigen erzählten Jahren zu einem Ende, fügt aber in der Rückschau vom 14. Juli 2009 für jede einen überraschenden Epilog an.
Was mein Lesevergnügen allerdings erheblich beeinträchtigt hat, ist die gehörige Portion Zuviel an Pathos, Melodram und Klischee, die den ganzen Gefühlsreigen in Kitsch ausarten lässt. Dass jeder Episode eine Blume zugeordnet ist, mag als hübsche Deko durchgehen. Aber Liebesschmachten und Liebesleid quellen über vom Schwulst emotionsträchtiger Wörter, bedeutungsschwangerer Sentenzen und wolkiger Metaphern. Die Flut der Tränen will nicht enden. Gehören Lieben und Sterben denn wirklich zusammen? Isabelles Mutter versuchte schon vor vielen Jahren, ihrer erstverliebten Tochter diesen Zahn zu ziehen: »Niemand stirbt aus Liebe, ... niemand. Das gibt es nur in Büchern, und auch nur in schlechten.«
Von der Realität menschlichen Lebens ist dieses Buch ziemlich weit entfernt. Es hält den naiven »Traum von einer Liebe, die so stark ist, dass man daran sterben könnte,« am Leben – dabei ist doch gerade er mitverantwortlich für die schmerzliche Enttäuschung, dass der Alltag »immer nur eine allzu klägliche Liebe« bereithält.