Götz Diergarten: Auf Bötzow / Ostkreuzschule: Auf Bötzow
von Hans Georg Näder und Sebastian Peichl
Fotokunst aus Industrieruinen
Hier kommt einmal etwas ganz anderes – ein Doppelband mit Industrie-/Architektur-Fotografien, aufgenommen in einer verfallenen ehemaligen Brauerei im hippen Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, kurz bevor das eindrucksvolle Industriedenkmal in ein hypermodernes Einkaufs-, Vergnügungs- und Wohnzentrum umgestaltet wird.
Die Brauerei Bötzow, deren erste Kühlkeller 1864 an der Prenzlauer Allee eingegraben wurden, hat eine bewegte Geschichte. Erst 1885 begann man, das Bötzow-Bier auch hier zu brauen – da hatte der Biergarten schon 6000 Plätze. Bald war Bötzow die größte Privatbrauerei Norddeutschlands und Königlich Preußischer Hoflieferant. Julius Bötzows Wohnhaus auf dem Brauereigrundstück nannte man das "Schloss im Norden". Am 5. Januar 1919 gründeten Karl Liebknecht und andere Führungsmitglieder von USPD und KPD im Bötzowschen Biergarten den "Revolutionsausschuss", der zu Generalstreik und Sturz der Regierung Friedrich Ebert aufrief. Das letzte Bier wurde hier 1949 gebraut. Danach dienten die teilweise zerstörten riesigen Keller, Hallen und Höfe als Lagerräume. In den letzten Jahren fanden hier kulturelle und subkulturelle Veranstaltungen statt – eine coole location für Ausstellungen, Events, Partys; Film und Fernsehen drehten in den Gemäuern. 2010 kaufte der Investor und Kunstsammler Prof. Hans Georg Näder das gesamte Flurstück und realisiert nun seine Ideen für dessen zukünftige Nutzung.
Ehe die Abriss- und Umbauarbeiten beginnen, erhielt der Fotograf Götz Diergarten die Gelegenheit, das Areal zu durchkämmen und seine Sicht der Dinge festzuhalten. Etwa 46 dieser Fotografien enthält der Band "Götz Diergarten: Auf Bötzow" auf 72 Seiten.
Parallel dazu schrieb Näder einen Fotowettbewerb aus und lud im November 2011 achtzehn Studenten der Ostkreuzschule, eines privaten Ausbildungsinstituts für Fotografie und Bildredaktion in Berlin-Weißensee ein, den Halbruinen-Komplex freiweg zu erforschen – und deshalb gibt es noch einen zweiten Band zum Thema – "Ostkreuzschule: Auf Bötzow" – mit ca. 88 Aufnahmen der Studenten auf 76 Seiten.
Erwarten Sie bloß keine Führung durchs Dornröschenschloss, schon gar nicht durchs Berliner Kiez. In beiden Bänden gibt es kaum Einrichtungsgegenstände, kaum Menschen, wenige Außenaufnahmen, keinen Lageplan. Worum es geht, ist die Entdeckung reizvoller, evokativer Ansichten auf diesem Gelände und ihre fotografische Stilisierung.
Diergartens Fotos sind wahrhafte Kunstwerke. Klare Konstruktion, gerade Linien, waagrecht oder senkrecht, Symmetrie, ruhige Proportionen, eher Farbflächen als Zeichnung, beherrschtes Spiel mit Licht und Schatten. Die Bilder zeigen Ausschnitte von Mauern, Toren, Wänden, Räumen, strukturiert durch Bauelemente wie Lisenen, Nietenreihen, Simse. Sie wirken geradezu abstrakt, bisweilen surrealistisch. Aber trotz der offensichtlichen Gestaltung über den Kopf strahlen sie keine Kälte aus – im Gegenteil, die Farben (viele Braun-, Blau- und Grauschattierungen, gebrochenes Weiß, dazwischen kesse Kleckse, insgesamt aber eine dumpfe Palette) sorgen eigenartig für Leben auch ohne Personenstaffage. Bizarr die blubbernden Strukturen abblätternder Farbe. Großartig der Pferdestall: eine im Vordergrund halbdunkle Halle, sechs schwarze gusseiserne Säulen leiten den Blick wie durch ein Kirchenschiff hin zu einem Tor mitten in der Rückwand, dessen halb angehobener purpurroter Vorhang noch weit, weit in die nächste, hellere Halle blicken lässt. Da stimmen alle Linien wie aus dem Lehrbuch des perspektivischen Zeichnens; selbst die Elektrokabel treffen den exakt mittigen Fluchtpunkt. Nur die Neonröhre an der Decke spielt nicht mit, strahlt asymmetrisch ...
Nun liegt diese Kompositionsweise ja vielleicht nicht jedem. Und so ist gerade der Vergleich zwischen Diergartens Fotos und denen der achtzehn Studenten spannend. Der anerkannte Künstler pflegt seinen Stil, der seine Bilder wiedererkennbar macht. Bei den Studenten erwartet man, dass sie noch herumtasten, experimentieren. Aber weit gefehlt: Jede/r von ihnen hat offenbar bereits eine eigene Bildsprache entwickelt, die nicht minder klar, nicht minder originell, nicht minder kräftig ist.
Ob Diergarten "besser" ist? Ansichtssache. Er selbst bestreitet das.
Die Bildgegenstände sind natürlich ähnlich – wieder Landschaften aus pfützigen Betonböden, Backsteinen, abgelösten Tapeten, fleckiger Tünche, funktionsverloren hängender Mechanik; das filigrane Gewirr der tonnenschweren Gerüste, Ventilbatterien, rostigen Stahlträger. Aber im Studentenband ist man auf jeder Seite überrascht: Da werden mysteriöse Szenen (mit Menschen) arrangiert, düstere Bedrohung kultiviert, mit verfremdenden Techniken gespielt, aber auch nach Diergarten-Art mit Farben und Mustern komponiert. Einfach wunderbar, wie Weite und Enge, Perspektive und Fläche, Farbe und Schwarzweiß die unterschiedlichsten Impressionen vermitteln.
Nostalgie? Industrieästhetik? Nicht so wie üblich. Eigenständige Kunst.
Bis zum 28. Juli 2012 läuft die Ausstellung (im Atelierhaus Prenzlauer Allee 242), zu der diese beiden Bändchen den Katalog liefern. Außer Fotos enthalten sie einleitende Essays und Anhangmaterial; im Studentenband stellt jede/r Fotograf/in kurz sein Konzept vor.
Man kann die beiden Bände gemeinsam erwerben – was nicht nur wegen der reizvollen Vergleiche empfehlenswert ist, sondern auch einige Euro spart – oder auch jeden einzeln:
Herzlichen Dank an die Herausgeber für die Genehmigung, die Abbildungen hier einzubinden!