Nichts weniger als ein Wunder
von Markus Zusak
Eine Familie zerbricht am Tod der Mutter. Ihr Mann setzt sich ab, die fünf jugendlichen Söhne schlagen sich gemeinsam durch, getrieben von ihren heißen Emotionen, Erinnerungen, Hoffnungen, Enttäuschungen. Clay, dem zweitjüngsten, gelingt es Jahre später, die Gräben der Vergangenheit zu überbrücken, die Überlebenden zu erlösen.
Zu früher, zu schmerzvoller Verlust
Weit holt Markus Zusak aus, um seine australische Familiengeschichte fest in der griechischen Mythologie zu verwurzeln. Die eigentlichen Protagonisten, Clayton Dunbar und seine vier Brüder, sind geprägt von ihrem Großvater, dem Warschauer Straßenbahnfahrer Waldeck Lesciuszko, der die Götter und Helden der Epen Homers verehrt. Kulturelle Bildung ist ihm ein starker Pfeiler in Zeiten der Diktatur, und so gibt er seiner einzigen Tochter nicht nur den klassischen Namen Penelope, sondern auch eine Ausbildung zur Pianistin. Ein heimlicher Traum erfüllt sich für den Witwer, als sie für ein Konzert nach Wien eingeladen wird – damit kann sie ihre Chance zur Flucht in die Freiheit wahrnehmen.
Sie flieht bis nach Australien und beginnt wieder bei Null – sie lernt die Sprache, haust in Lagern, erledigt niedrigste Arbeiten, muss mit den Widersprüchen einer freizügigen Kultur fertig werden, den Verlust ihres geliebten Vaters verkraften. All ihre Ersparnisse investiert sie in ein Klavier – und lernt bei dessen falscher Zustellung Michael Dunbar kennen, ihren späteren Ehemann und Vater der fünf Söhne. Matthew, der Ich-Erzähler dieses opulenten, wundersamen Familienepos, wird als erster geboren, im Verlauf von zehn Jahren folgen Rory, Henry, Clayton und Tommy.
Was Matthew, der »Zuverlässige«, viele Jahre später in die Tasten einer uralten Remington-Schreibmaschine hämmert, ist die ausufernde Geschichte einer turbulenten Kindheit. Penelope und Michael, die Eltern, lieben und streiten sich, über die Erziehung der Jungen aber sind sie sich einig. Sie lesen ihnen Homers Gesänge vor (mit durchschlagendem Erfolg: ob Maultier oder Goldfisch – all ihre Haustiere bekommen Heldennamen), und jeder muss Klavierspielen lernen (und hasst das Instrument hinfort). Dennoch sind die Fünf von Anbeginn chaotische Rabauken, die miteinander raufen, bis die Nasen bluten, die Schule schwänzen und tun, was sie wollen. Als Lehrerin hat Penelope mit Typen dieser Art genug Erfahrung, aber ihre eigenen Geschöpfe fordern sie weit stärker. Die täglichen Auseinandersetzungen um das heillose Durcheinander, um die Rangeleien, um den Dreck bei Tisch und im Bad, um das Klavierüben zermürben sie, und ihre Bemühungen, sich das nicht anmerken zu lassen, kosten sie nur noch mehr Kraft.
Ihr Jüngster ist erst zehn, als Penelope viel zu früh stirbt. Zwar haben alle den langen Leidensweg ihrer Operationen und Therapien hautnah miterlebt, aber keiner erträgt die Katastrophe. In der Küche entlädt sich Rorys Schmerz über seine geballten Fäuste an den Schränken, die als Kleinholz enden, und an den Rippen des nächstbesten Bruders Clay, während Henry und Tommy wie betäubt daneben stehen. Die Tiefe des Schreis, die Gewalt der Bilder lassen Matthew nie wieder los.
Vater Michael ist »endgültig und irreparabel zerstört«. Erst taucht er tageweise ab, bis er sich nach ein paar Monaten mitten in der Nacht ganz davonstiehlt. Seine Kinder lässt er schlafend zurück, für sie aber ist das »die Nacht, in der er uns umbrachte«. Als er elf Jahre später zu ihnen zurückkehrt, ist Clay der Einzige, der sich dem »Mörder« nicht widersetzt. Es beginnt ein bedeutungsgeladener Prozess der vorsichtigen Annäherung und der Bewältigung großer Schuld, in dem Clay eine Brücke über einen ausgetrockneten Fluss errichtet – ein schwieriges Bauwerk, dessen Zweck nicht so einsichtig wird wie seine Symbolkraft.
Es sind im Wesentlichen Clays Erlebnisse, die Matthew festhält. »Es war zwar seine Geschichte, doch es war nicht an ihm, sie zu erzählen. Er würde sie nicht schreiben; es war schwer genug, sie zu leben und zu sein.« In den letzten Monaten ihres Siechtums stand der schweigsame, lächelnde Dreizehnjährige seiner Mutter besonders nahe, und sie vertraute ihm Dinge an, die sonst niemand wusste, etwa von der ersten Liebe seines Vaters zu einer anderen Frau oder von seiner lange verschwiegenen Begeisterung für den italienischen Renaissance-Universalkünstler Michelangelo Buonarroti.
Dass er Matthew, nicht Clay als zentralen Erzähler einsetzt, erlaubt Michael Zusak, das Geheimnis zu wahren, das die Familie beschwert. »Es war Clay, vor dem sich unser Vater fürchtete«, kann er andeuten, ohne seine Karten aufdecken zu müssen. Und schließlich ist nach Michaels Weggang ohnehin Matthew »der Erwachsene im Haus«, der für seine jüngeren Brüder Verantwortung übernehmen und manche Suppe auslöffeln muss. Sie sind auch für ihn nicht immer einfach zu ertragen, doch er weiß, was ihm auch die Lehrerin Miss Kirkby bestätigt, ausgerechnet nachdem Rory den endgültigen Verweis von der Schule erhalten hat: »Es sind gute Jungs.«
Nach dem Tod der Mutter findet Clay eine neue Vertraute in dem Mädchen Carey, mit der er eine zarte, liebevolle Beziehung knüpft. Sie stammt aus einer Familie fanatischer Jockeys und möchte selbst diesen Beruf ergreifen. Damit kommt ein bedeutsamer, umfangreicher Nebenstrang ins Spiel, der Galoppsport, seine faszinierenden Pferde und Reiter sowie das große Geschäft mit den Wetten.
»Bridge of Clay« , übersetzt von Alexandra Ernst, ist ein bemerkenswerter Roman über eine »tragische Bruchbude von einer Familie«, in der es hart, aber herzlich zugeht. Unter der Drastik der Sprache und des Umgangs miteinander bilden Toleranz, Verständnis und Empathie ein starkes Fundament für eine Gemeinschaft, die zusammen vielfältige Schwierigkeiten meistern, Unausweichliches verkraften, Schuld vergeben kann. Mit all ihren persönlichen Macken und überdrehten Handlungsweisen befremden uns die Charaktere zunächst, aber wir verstehen sie mit jeder Seite besser.
Allerdings macht es der Autor – vor etwa zehn Jahren durch sein Jugendbuch »Die Bücherdiebin« weltweit bekannt geworden – seinen Lesern nicht ganz einfach, die Geschichte zu goutieren. Sein Stil ist eigenwillig bis kurios. Er bevorzugt kaum verbundene Hauptsätze oder reiht Einzelwörter wie Impressionen, gestaltet Dialoge aus nichts als Einwürfen, montiert kreativ Sätze, intensive Bilder und kühne Begriffe zu reizvollen Kreationen, die sich nicht immer auf Anhieb erschließen, aber im Kontext Sinn ergeben: »Fehlervogel« – »Bruchnasenbraut« – »war die Sonne meistens ein Spielzeug gewesen, ein Dingelchen« – »versuchte, seine Entschlossenheit aufzusammeln« – »folgte dem Pfad des Lichts« – »gehörten jetzt dem Klavier« – »Er saunte. Er salatete.« – »Sie kamen aus allen Richtungen ihrer pubertierenden Herrlichkeit. Selbst auf diese Entfernung konnte man ihr sonnenverbranntes Lächeln sehen und die Vorstadtnarben zählen. Und man konnte sie riechen, dieses Aroma noch unfertiger Männer.«
Zerzaust und bunt wie die Sprache schreitet die Erzählung voran. Matthew springt in der Chronologie und zwischen den Schauplätzen hin und her, oft genug übergangslos, Gegenwart und Vergangenheit fließen in manchen Sätzen in eins, eine Fülle wiederkehrender Leitmotive und Dingsymbole (Schreibmaschine, Wäscheklammern …) halten das Gewebe zusammen. Und auch die Stimmungen wechseln abrupt oder verschmelzen: humorvolle, derbe, poetische, verrückte und zutiefst traurige Passagen – ein beeindruckendes, aber auch ziemlich artifizielles Leseerlebnis.