Rezension zu »Nichts weniger als ein Wunder« von Markus Zusak

Nichts weniger als ein Wunder

von


Eine Familie zerbricht am Tod der Mutter. Ihr Mann setzt sich ab, die fünf jugendlichen Söhne schlagen sich gemeinsam durch, getrieben von ihren heißen Emotionen, Erinnerungen, Hoffnungen, Enttäuschungen. Clay, dem zweitjüngsten, gelingt es Jahre später, die Gräben der Vergangenheit zu überbrücken, die Überlebenden zu erlösen.
Familienroman · Limes · · 640 S. · ISBN 9783809027065
Sprache: de · Herkunft: us

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Zu früher, zu schmerzvoller Verlust

Rezension vom 20.03.2019 · 33 x als hilfreich bewertet mit 3 Kommentaren

Weit holt Markus Zusak aus, um seine australische Familienge­schichte fest in der griechi­schen Mythologie zu verwurzeln. Die eigent­lichen Protago­nisten, Clayton Dunbar und seine vier Brüder, sind geprägt von ihrem Großvater, dem Warschauer Straßen­bahn­fahrer Waldeck Lesciuszko, der die Götter und Helden der Epen Homers verehrt. Kulturelle Bildung ist ihm ein starker Pfeiler in Zeiten der Diktatur, und so gibt er seiner einzigen Tochter nicht nur den klassischen Namen Penelope, sondern auch eine Ausbildung zur Pianistin. Ein heimlicher Traum erfüllt sich für den Witwer, als sie für ein Konzert nach Wien eingeladen wird – damit kann sie ihre Chance zur Flucht in die Freiheit wahrnehmen.

Sie flieht bis nach Australien und beginnt wieder bei Null – sie lernt die Sprache, haust in Lagern, erledigt niedrigste Arbeiten, muss mit den Wider­sprüchen einer freizügigen Kultur fertig werden, den Verlust ihres geliebten Vaters verkraften. All ihre Ersparnisse investiert sie in ein Klavier – und lernt bei dessen falscher Zustellung Michael Dunbar kennen, ihren späteren Ehemann und Vater der fünf Söhne. Matthew, der Ich-Erzähler dieses opulenten, wundersamen Familien­epos, wird als erster geboren, im Verlauf von zehn Jahren folgen Rory, Henry, Clayton und Tommy.

Was Matthew, der »Zuverlässige«, viele Jahre später in die Tasten einer uralten Remington-Schreib­maschine hämmert, ist die ausufernde Geschichte einer turbulenten Kindheit. Penelope und Michael, die Eltern, lieben und streiten sich, über die Erziehung der Jungen aber sind sie sich einig. Sie lesen ihnen Homers Gesänge vor (mit durch­schlagen­dem Erfolg: ob Maultier oder Goldfisch – all ihre Haustiere bekommen Heldennamen), und jeder muss Klavier­spielen lernen (und hasst das Instrument hinfort). Dennoch sind die Fünf von Anbeginn chaotische Rabauken, die miteinander raufen, bis die Nasen bluten, die Schule schwänzen und tun, was sie wollen. Als Lehrerin hat Penelope mit Typen dieser Art genug Erfahrung, aber ihre eigenen Geschöpfe fordern sie weit stärker. Die täglichen Ausein­ander­setzun­gen um das heillose Durch­einan­der, um die Rangeleien, um den Dreck bei Tisch und im Bad, um das Klavierüben zermürben sie, und ihre Bemühungen, sich das nicht anmerken zu lassen, kosten sie nur noch mehr Kraft.

Ihr Jüngster ist erst zehn, als Penelope viel zu früh stirbt. Zwar haben alle den langen Leidensweg ihrer Operationen und Therapien hautnah miterlebt, aber keiner erträgt die Katastrophe. In der Küche entlädt sich Rorys Schmerz über seine geballten Fäuste an den Schränken, die als Kleinholz enden, und an den Rippen des nächst­besten Bruders Clay, während Henry und Tommy wie betäubt daneben stehen. Die Tiefe des Schreis, die Gewalt der Bilder lassen Matthew nie wieder los.

Vater Michael ist »endgültig und irreparabel zerstört«. Erst taucht er tageweise ab, bis er sich nach ein paar Monaten mitten in der Nacht ganz davon­stiehlt. Seine Kinder lässt er schlafend zurück, für sie aber ist das »die Nacht, in der er uns umbrachte«. Als er elf Jahre später zu ihnen zurückkehrt, ist Clay der Einzige, der sich dem »Mörder« nicht widersetzt. Es beginnt ein bedeu­tungs­gelade­ner Prozess der vorsich­tigen Annäherung und der Bewälti­gung großer Schuld, in dem Clay eine Brücke über einen ausge­trock­neten Fluss errichtet – ein schwieriges Bauwerk, dessen Zweck nicht so einsichtig wird wie seine Symbol­kraft.

Es sind im Wesentlichen Clays Erlebnisse, die Matthew festhält. »Es war zwar seine Geschichte, doch es war nicht an ihm, sie zu erzählen. Er würde sie nicht schreiben; es war schwer genug, sie zu leben und zu sein.« In den letzten Monaten ihres Siechtums stand der schweigsame, lächelnde Drei­zehnjäh­rige seiner Mutter besonders nahe, und sie vertraute ihm Dinge an, die sonst niemand wusste, etwa von der ersten Liebe seines Vaters zu einer anderen Frau oder von seiner lange verschwie­genen Begeiste­rung für den italieni­schen Renais­sance-Uni­versal­künst­ler Michel­angelo Buonarroti.

Dass er Matthew, nicht Clay als zentralen Erzähler einsetzt, erlaubt Michael Zusak, das Geheimnis zu wahren, das die Familie beschwert. »Es war Clay, vor dem sich unser Vater fürchtete«, kann er andeuten, ohne seine Karten aufdecken zu müssen. Und schließlich ist nach Michaels Weggang ohnehin Matthew »der Erwachsene im Haus«, der für seine jüngeren Brüder Verant­wortung übernehmen und manche Suppe auslöffeln muss. Sie sind auch für ihn nicht immer einfach zu ertragen, doch er weiß, was ihm auch die Lehrerin Miss Kirkby bestätigt, ausge­rechnet nachdem Rory den endgültigen Verweis von der Schule erhalten hat: »Es sind gute Jungs.«

Nach dem Tod der Mutter findet Clay eine neue Vertraute in dem Mädchen Carey, mit der er eine zarte, liebevolle Beziehung knüpft. Sie stammt aus einer Familie fanatischer Jockeys und möchte selbst diesen Beruf ergreifen. Damit kommt ein bedeutsamer, umfang­reicher Nebenstrang ins Spiel, der Galoppsport, seine faszi­nieren­den Pferde und Reiter sowie das große Geschäft mit den Wetten.

»Bridge of Clay« Markus Zusak: »Bridge of Clay« bei Amazon, übersetzt von Alexandra Ernst, ist ein bemerkens­werter Roman über eine »tragische Bruchbude von einer Familie«, in der es hart, aber herzlich zugeht. Unter der Drastik der Sprache und des Umgangs miteinander bilden Toleranz, Verständnis und Empathie ein starkes Fundament für eine Gemein­schaft, die zusammen vielfältige Schwierig­keiten meistern, Unaus­weich­liches verkraften, Schuld vergeben kann. Mit all ihren persön­lichen Macken und überdrehten Hand­lungs­weisen befremden uns die Charaktere zunächst, aber wir verstehen sie mit jeder Seite besser.

Allerdings macht es der Autor – vor etwa zehn Jahren durch sein Jugendbuch »Die Bücher­diebin« Markus Zusak: »Die Bücherdiebin« bei Amazon weltweit bekannt geworden – seinen Lesern nicht ganz einfach, die Geschichte zu goutieren. Sein Stil ist eigenwillig bis kurios. Er bevorzugt kaum verbundene Hauptsätze oder reiht Einzel­wörter wie Impres­sionen, gestaltet Dialoge aus nichts als Einwürfen, montiert kreativ Sätze, intensive Bilder und kühne Begriffe zu reizvollen Kreationen, die sich nicht immer auf Anhieb erschließen, aber im Kontext Sinn ergeben: »Fehlervogel« – »Bruch­nasen­braut« – »war die Sonne meistens ein Spielzeug gewesen, ein Dingelchen« – »versuchte, seine Ent­schlossen­heit aufzusam­meln« – »folgte dem Pfad des Lichts« – »gehörten jetzt dem Klavier« – »Er saunte. Er salatete.« – »Sie kamen aus allen Richtungen ihrer pubertie­renden Herrlich­keit. Selbst auf diese Entfernung konnte man ihr sonnen­verbrann­tes Lächeln sehen und die Vorstadt­narben zählen. Und man konnte sie riechen, dieses Aroma noch unfertiger Männer.«

Zerzaust und bunt wie die Sprache schreitet die Erzählung voran. Matthew springt in der Chronologie und zwischen den Schau­plätzen hin und her, oft genug über­gangs­los, Gegenwart und Ver­gangen­heit fließen in manchen Sätzen in eins, eine Fülle wieder­kehren­der Leitmotive und Dingsymbole (Schreib­maschine, Wäsche­klammern …) halten das Gewebe zusammen. Und auch die Stimmungen wechseln abrupt oder ver­schmel­zen: humorvolle, derbe, poetische, verrückte und zutiefst traurige Passagen – ein beein­drucken­des, aber auch ziemlich artifi­zielles Lese­erlebnis.


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Kommentare

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Zu »Nichts weniger als ein Wunder« von Markus Zusak wurden 3 Kommentare verfasst:

Maja Bieger schrieb am 19.05.2019:

Also... ich geb ja Büchern immer eine Chance bis Seite 50 bevor ich entscheide, ob ich sie zur Seite lege oder nicht. Bei diesem Buch war ich bei Seite 50 angelangt und habe gedacht, ich checke es überhaupt nicht. Ich hab dann bis Seite 80 weitergelesen und war immer noch mehr verwirrt als etwas anderes. Aber irgendetwas hat mich weiterlesen lassen und erst etwa ab Seite 120 (!) hat es Klick gemacht. Dann habe ich gelesen und gelesen. Und als ich fertig damit war, habe ich mir gedacht, nun lese die die ersten 120 Seiten nochmals, dann verstehe ich diese auch noch. ;-)

Inzwischen habe ich das Buch zweimal ganz gelesen und ich liebe es! Es handelt von Bruderliebe, Männer- und Jungenenergie... Mich hat es sehr berührt. Wer wie ich, schon lange nicht mehr geweint hat - voilà! Ich habe beide Male Rotz und Wasser geheult zum Ende hin.

Die Sprache ist eigenwillig, folgt nicht immer dem, was man in der Schule über Satzbau und so gelernt hat. ;) Aber sie hat Tiefe und man bekommt das Gefühl, jedes Wort ist bewusst so und nicht anders gesetzt worden. (Interessieren würde es mich, ob dies in der Originalsprache Englisch auch so auffallend ist).

Also, das Buch ist keine pflegeleichte Lektüre, und wahrscheinlich spricht es wirklich nicht jeden an, aber es ist eines dieser Bücher, die in mir eine tiefe Furche gegraben haben. Das Durchbeissen hat sich gelohnt.

Carolina Hilgers schrieb am 02.02.2020:

Schön, dass jemand dieses Wunderwerk zweimal liest. Das leuxhtet mir sofort ein. Mein zweites Lesen findet statt, indem ich es den mir lieben Menschen nahelege und versuche zu erklären, um was es hier geht. Um mit dem Autor zu sprechen: Es geht um alles von allem.

Teresa schrieb am 22.10.2020:

selten trifft Sprache so ins Mark, wie in diesem Roman. Wer sich bereits in der Bücherdiebin verlor, wird auch hier seine helle Freude haben. Denn auch hier wird eine Geschichte erzählt, die unser Herz genauso groß werden lässt, wie das des Clay Dunbar.

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