Unter Freunden
Wenn die hoch gestimmten Barocktrompeten losjubilieren, die Pauken den Boden erzittern lassen und der große Chor stimmgewaltig zum Jauchzen und Frohlocken auffordert, bekommt jeder, der ein musikalisches Äderchen besitzt, glänzende Augen und eine Gänsehaut. Ob vor der (guten) Stereoanlage, in der Stadtkirche (schon besser) oder mit den Thomanern in der Leipziger Thomaskirche (höchstes Glück): Eine hehre Feierlichkeit erfasst jeden, der sich auf Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium einlässt.
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Jetzt hat das Hamburger Ensemble Resonanz seine Einspielung von BWV 248 auf CD in den Handel gebracht. Braucht die Welt diese x. Interpretation des Allzeit-Hits? Ja! Ja! Ja! Denn es ist »echter« und doch ungewöhnlicher Bach.
Keine acht Takte vergehen, da hat die Trompete ihre erste Zweiunddreißigstel-Fanfare geschmettert – und ungläubiges Staunen, verblüfftes Schmunzeln überfällt den Hörer. Da hat doch einer den Bass gezupft, statt auf die Pauke zu hauen? Das waren doch keine drei Trompeten, sondern höchstens eine! Und hat da nicht ein Synthesizer geschnarrt? Was stimmt da bloß nicht?
Hier legt eine kleine Besetzung munter los, um ein völlig neues Hörerlebnis zu erschaffen. Jedes einzelne Instrument kommt zur Geltung (zumal oft – siehe Trompete – auch nur eins da ist), als Chor fungieren die Solisten und die Musiker selber. Ein Stapel elektronischer Tasteninstrumente (»Vintage Keyboard«) imitiert nicht vorhandene Bläser oder bereichert blubbernd, pfeifend und säuselnd die Klangpalette.
Ein Experiment tolldreister Ketzer? Mitnichten. Das junge Ensemble Resonanz, neuerdings Kammerorchester in residence der Elbphilharmonie, hat sich durch alte und zeitgenössische Musik weltweites Renommee erworben und legt Wert darauf, seine unkonventionelle Spielfreude auszuleben. So entstand auch die kühne Idee, das von allen Mitgliedern »innig geliebte« Weihnachtsoratorium als eine Art Hausmusik zu bearbeiten. Die Parts, die man aus eigenen Mitteln nicht besetzen kann, bestreiten Freunde. Um das Projekt überhaupt schultern zu können, hat man sich auf ein ganz persönliches Best-of aus den sechs Kantaten beschränkt – dreißig Chöre, Arien, Rezitative und Choräle mit einer Spielzeit von fast 70 Minuten. 2014 wurde das Ergebnis erstmals aufgeführt, 2015 und 2016 mit großem Erfolg wiederholt, jetzt auf CD gebrannt.
Mit »klassischen« Aufnahmen des »WO« sollte man diese CD nicht ins gleiche Laufwerk stecken. Gegen deren prachtvolle Tutti, wuchtige Chöre und makellose Solisten-Virtuosität kann sie naturgemäß nicht punkten. Sie bezaubert auf eigene Weise durch Einfühlsamkeit, Einfallsreichtum, Originalität und greifbare Begeisterung. Neben den vier Solostimmen (Sopran, Mezzosopran, Tenor, Bass), die die Rezitative und Arien unaffektiert, mit natürlichem Gestus stemmen, umfasst die Besetzung das Keyboard (als Faktotum), eine E-Gitarre, eine Trompete, vier Violinen, drei Violen, ein Violoncello und einen Bass. Wenn alle mitwirken, entsteht eine erstaunliche Klangfülle, doch meistens zielt das Klangbild auf kammermusikalische Überschaubarkeit. Durch die milde Verfremdung gewinnt der aller Welt vertraute Soundtrack an Transparenz, Leichtigkeit und Klarheit.
Ab und zu legen die Musiker eins drauf. Inspiriert von Passagen, die dem modernen Ohr einen jazzigen Duktus suggerieren, lassen sie sich forttragen. Während sie die Sinfonia als pastorale Idylle zart dahinhauchen und -zupfen, wischt der Keyboarder bei »Großer Herr, o starker König« kess über die Tasten. Beim Rezitativ »Warum wollt ihr erschrecken?« tut die E-Gitarre genau das, und »der Höllen Schrecken« kommt als Synthesizerwabern über uns. Am frechsten schlagen die Musiker bei der Arie »Ich will nur dir zu Ehren leben« über die Stränge, deren rhythmische Eigentümlichkeiten sie swingend auf den Punkt bringen.
Insgesamt überzeugt diese sympathische CD als respektvolle, lebendige, filigrane Interpretation eines zeitlosen Meisterwerkes, die es frisch, modern, innig, menschlich erklingen lässt, ohne ihm modische Trivia überzustülpen.
Wäre JSB einverstanden? Vielleicht wäre er gar nicht so überrascht. Denn wie viele Musiker und Chorsänger mag er seinerzeit zur Verfügung gehabt haben? Seine Vorstellungen einer »wohlbestallten Kirchen Music« wurden ihm bekanntlich nicht erfüllt. Womöglich kommt das intime Ensemble Resonanz der originalen Aufführungspraxis in Leipzig also näher, als man denkt. Bleibt das Sakrileg, die weihnachtliche Botschaft um die Hälfte reduziert zu haben. Doch hat nicht selbst Bach-Experte Albert Schweitzer dafür plädiert, »reichlich zu streichen«, weil andernfalls »der ermüdete Hörer die Schönheiten des zweiten Teils nicht mehr zu fassen vermag«? Also »Lasset das Zagen, verbannet die Klage, / Stimmet voll Jauchzen und Fröhlichkeit an!«.
02 Es begab sich aber zu der Zeit
03 Nun wird mein liebster Bräutigam
04 Bereite dich, Zion
05 Wie soll ich Dich empfangen
06 Und sie gebar ihren ersten Sohn
07 Er ist auf Erden kommen arm
08 Großer Herr, o starker König
09 Sinfonia
10 Und es waren Hirten
11 Brich an, o schönes Morgenlicht
12 Schlafe, mein Liebster
13 Und da die Engel
14 Lasset uns nun gehen
15 Er hat sein Volk getröstet
17 Und sie kamen eilend
18 Schließe, mein Herze
19 Ja, ja, mein Herz solle es bewahren
20 Ich will dich mit Fleiß bewahren
21 Flößt, mein Heiland
22 Wohlan, dein Name soll allein
23 Ich will nur dir zu Ehren leben
24 Da das der König Herodes hörte
25 Warum wollt ihr erschrecken?
26 Ach, wenn wird die Zeit erscheinen
27 Mein Liebster herrschet schon
28 Ich steh an Deiner Krippen hier
29 Was will der Höllen Schrecken nun
30 Nun seid ihr wohl gerochen
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