
Ein Engel, ein Volkskontrolleur und die Suche nach dem Gerechten
Ein Engel hat das Paradies verlassen, um im Reich der Sowjetunion noch einen einzigen Gerechten zu finden. Es gebe nämlich keinen mehr auf Erden, war die einhellige Meinung seiner Brüder und Schwestern im Himmelreich.
Auf Erden trifft er einen jungen Mann, der ihm ein Tauschgeschäft anbietet: die Uniform des Rotarmisten gegen das schlichte, weiße Hemd des Engels. Seine Militärstiefel will er allerdings nicht hergeben.
Später im Wald trifft der Engel auf eine Reiterschwadron. In Armeeuniform und so allein unterwegs? Das kann ja nur ein Deserteur sein. Seine Erklärung, er sei ein Engel, ruft natürlich nur höhnisches Gelächter hervor. Die Replik, einen Dreckskerl wie ihn könne man direkt in den Himmel befördern, wird gleich von einem Schuss begleitet. Doch die Reiter trauen ihren Augen nicht: Der Engel kann die Kugel mit seinen Händen aufhalten. Nun müssen sie sich des Engels Verkündigung anhören: "Wenn in diesem Land alle im Bösen vereint sind, dann sollen alle umkommen."
Pawel Dobrynin ist in seinem Dorf unbeliebt, denn er ist immer unverblümt ehrlich. Als er in der Versammlung der Kolchosbauern zum Volkskontrolleur der Sowjetunion auf Lebenszeit gewählt wird, hält seine über alles geliebte Frau Manjascha das für ein abgekartetes Spiel, durch das man ihn nur fortschicken und für alle Zeit loswerden wolle.
Damit er sein ehrenvolles Amt endgültig antreten kann, muss er eine lange Reise machen. Zunächst fährt er auf einem klapprigen Fuhrwerk, von einer Mähre gezogen und von einem alten Greis gelenkt, ins Dorf zum Sekretär Kowalenkow, der ihm Instruktionen erteilt und ein Büchlein Lenins zur "Arbeitskontrolle" schenkt. Am nächsten Morgen steht ein schwarzes Auto samt Chauffeur vor der Tür, um ihn in die Stadt zu bringen. Dort erwartet ihn Genosse Pawljuk, ein Ordensträger, der ihn in seinem Amt bestätigen wird. Aber endgültig besiegeln kann seine Tätigkeit erst die letzte Instanz. So fährt er am nächsten Tag mit dem Zug in die Hauptstadt Moskau ...
Mit Hilfe der Figur des Engels auf Erden kann Andrej Kurkow all seinen Fantasien freien Lauf lassen. Er verschafft uns Zutritt in die uns fremde Welt der UdSSR, die mittlerweile der Vergangenheit angehört. Fremd erscheint uns sowohl der ungewöhnliche, andersartige Sprachstil – z.B. die aufgeblasene Phrasenhaftigkeit der Offiziellen – als auch seine Figuren, die Schauplätze und die Ereignisse. Mit Pawel, der aus einem armseligen Dorf kommt, durchreisen wir Russland. Seine Gespräche mit den vielen Menschen, die er unterwegs trifft, sind anrührend und komisch zugleich. Der Greis gesteht ihm, kein ehrlicher Mensch zu sein, denn er habe ein Leninbüchlein geklaut. Dabei kann er doch nicht einmal lesen. Beklemmend ist hingegen die Geschichte um den Deserteur, der dem sozialistischen Regime auf Gedeih und Verderben ausgeliefert ist. Diese das Individuum verachtenden Aspekte des real existierenden Sozialismus werden ja inzwischen von interessierten Kreisen gern heruntergespielt oder verdrängt – nicht aber von Andrej Kurkow: Er gestaltet sie kritisch. "Der wahrhaftige Volkskontrolleur" ist keine nostalgische Erzählung von Käuzen und Schelmen, sondern unterhaltsame und niveauvolle Lektüre. Man sollte sie sich nicht entgehen lassen.